Dialogizität in Thomas Manns Roman "Der Erwählte"


Seminararbeit, 2009

19 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1. Bachtins Begriff der „Dialogizität“
2.2. Thomas Manns Roman „Der Erwählte“
2.2.1. Dialogizität einzelner Wörter
2.2.2. Dialogizität im Figurendialog
2.2.3. Dialogizität im Monolog

3. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Hausarbeit knüpft an das Hauptseminar „Thomas Mann und das Mittelalter“ an. Eine der Sitzungen war dem Thema der „Dialogizität“ in Thomas Manns Roman „Der Erwählte“ gewidmet. Bachtins Konzept der „Dialogizität“ soll auch in dieser Hausarbeit als theoretische Grundlage für die Interpretation des Romans oder zumindest einiger Aspekte des Romans dienen. Es soll untersucht werden, inwiefern das Konzept auf Thomas Manns Text angewandt werden kann.

Zu diesem Zweck soll zunächst versucht werden, Bachtins Konzept näher zu erörtern. In einem zweiten Schritt folgt mittels einer knappen Zusammenfassung des Romans eine inhaltliche Annäherung an den „Erwählten“. Der dann folgende analytische Teil der Hausarbeit ist in drei Abschnitte gegliedert. Die drei Abschnitte entsprechen den Erscheinungsformen der „Dialogizität“: „Dialogizität“ im Wort, „Dialogizität“ im Dialog und „Dialogizität“ im Monolog, die im Kapitel 2.1. festgestellt und erläutert werden. Diese Struktur dient dem Sortieren der Beobachtungen, die nach der erneuten Lektüre des „Erwählten“ im Hinblick auf „Dialogizität“ gemacht worden sind. In einem letzten Schritt werden die Ergebnisse zusammengefasst.

Da eine intensive literaturtheoretische Rezeption Bachtins erst in der 1960er Jahren begann, konnte Thomas Mann selbst nicht Stellung zur „Dialogizität“ nehmen, wie er es in bezug auf viele andere Aspekte seiner Werke, beispielsweise in Briefen, tat. Was das gewählte Thema anbelangt, ist eine Wiederholung von Aussagen über den Roman, die sich bereits bei Mann selbst finden, deshalb erfreulicherweise eher unwahrscheinlich. Inwiefern überhaupt Sekundärliteratur zu diesem Thema existiert, wird noch herauszufinden sein.

2. Hauptteil

2.1. Bachtins Begriff der „Dialogizität“

Bevor Thomas Manns Roman „Der Erwählte“ unter dem Aspekt der „Dialogizität“ betrachtet werden kann, muss der Begriff der „Dialogizität“ zunächst näher bestimmt werden.

Hinter dem auf den russischen Literaturanalytiker und Philosophen Michail Bachtin (1895- 1975) zurückgehenden Begriff der „Dialogizität“ steht die in seinen literatur- wissenschaftlichen Arbeiten „Probleme der Poetik Dostoevskijs“(1929) und „Die Ästhetik des Wortes“(1979) entwickelte Vorstellung, dass sich die Wörter eines Textes in einem Raum wechselseitiger Beziehungen befinden. Jede Äußerung, die eine Reaktion auf eine vorhergehende Aussage darstellt und einer nachfolgenden Aussage vorangeht, könne dialogisch genannt werden. Demzufolge überlagern sich in der Rede mindestens zwei Äußerungen, was manchmal sogar in einem einzelnen Wort sichtbar wird.

Zur Verdeutlichung seiner Idee führt Bachtin die Metapher der „Zweistimmigkeit“ der Rede ein, die im Raum des Romans, in dem sich viele Stimmen kreuzen zum Konzept der „Vielstimmigkeit“ oder auch „Polyphonie“ gesteigert wird. In den Äußerungen bzw. Stimmen können verschiedene Denk- und Anschauungsweisen einzelner Sprecher, sogar verschiedene Weltanschauungen repräsentiert sein. Darüber hinaus könne sich hinter einer Stimme ein ganzer (religiöser, kulturgeschichtlicher, sozialer, gesellschaftlicher, ästhetischer usw.) Diskurs oder das Verhältnis zur Welt einer ganzen sozialen Gruppe verbergen. Hinter einer polyphonen Rede kann, wie der folgende vielzitierte Satz aus Bachtins Abhandlung zeigt, sogar ein Dialog einer ganzen Epoche vernehmbar sein: „Dostoevskij besaß die geniale Gabe den Dialog seiner Epoche zu hören oder genauer, seine Epoche als großen Dialog zu hören.“1 Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass ein als Dialog gelesenes Wort verschiedene aufeinandertreffende Kontexte, unterschiedliche Perspektiven mit einbezieht und somit mehrere Sinndimensionen zulässt, beziehungsweise diese erst schafft. Die Rückführung auf einen bestimmten Kontext ist möglich, da sowohl Diskurse, als auch soziale Gruppen ihre eigene Lexik haben. In den Äußerungen eines Sprechers seien deshalb immer auch Äußerungen seiner Zeitgenossen hörbar, sowie des sozialen Milieus, dem er angehört.

In einem Text kann Mehrstimmigkeit in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten. Wie bereits angedeutet, kann ein einzelnes Wort dialogisch gelesen werden, sofern es mehrdeutig ist. Eine ganz ähnliche Leseweise verlangt die „Lehre vom vierfachen Schriftsinn“, nach der ein Wort ebenfalls auf verschiedenen Sinnebenen interpretiert werden kann. Neben dem einzelnen polyphonen Wort, können unterschiedliche Perspektiven auch im Dialog zwischen Figuren zur Rede kommen. Dann „vertreten die Protagonisten eines Romans unvereinbare Standpunkte, deren Konkurrenz nicht durch eine übergeordnete Autorinstanz entschieden wird.“2 Denkbar ist auch ein mehrstimmiger, dialogisierter Monolog in Form eines Inneren Monologs, einer Erlebten Rede, eines Gebets oder einer Beichte. Wichtig ist hierbei, dass die Standpunkte und Gedanken innerhalb der monologisierenden Person in einem Konflikt stehen. Es muss einen Widerspruch geben, die Person muss in sich gespalten sein. Es müssen beispielsweise zwei Bewusstseinsstufen der betreffenden Person miteinander ringen oder es muss zwischen dem, was eine Person sagt, denkt oder fühlt und dem, wie sie handelt eine Diskrepanz geben.

Ein klassisches Beispiel für Dialogizität stellen nach Bachtin Stilisierungen, Parodien und polemische Texte dar, da bei diesen Verfahren eindeutig als fremde Rede markierte mit neuen Äußerungen gegenüber gestellt werden.

Bei Bachtin bezieht sich das Konzept der Dialogizität zunächst auf Erzähltexte. Als Musterbeispiel eines polyphonen oder dialogischen Textes nennt Bachtin die Romane Dostoevskijs. Worin genau unterscheidet sich ein dialogischer von einem monologischen Text? Bachtin zufolge existieren in einem dialogisch gestalteten Roman die einzelnen Stimmen gleichberechtigt nebeneinander und beeinflussen sich gegenseitig, wohingegen das Merkmal eines monologischen Textes die Dominanz nur einer Stimme, meistens der Autorstimme, ist. Im Fall eines monologisch gestalteten Romans steht nur eine Meinung im Vordergrund. Eine ideologisch voreingenommene Autorinstanz versucht den impliziten Leser beispielsweise in seinem Urteil in bezug auf eine Romanfigur zu beeinflussen. Der dialogisch angelegte Text ist dagegen offen für unterschiedliche Interpretationen.

Bachtins Konzept der Dialogizität hat der Entwicklung der Romantheorie einen neuen Impuls gegeben und ist seitdem von anderen Literaturwissenschaftlern weiterentwickelt worden. So dehnte Julia Kristeva den Begriff der Dialogizität in den sechziger Jahren auf ganze miteinander im Dialog stehende Texte aus und prägte den Begriff der „Intertextualität“. Die Intertextualitätsforschung untersucht die Beziehungen zwischen ganzen Werken. Hierbei werden alle Gattungen miteinbezogen. Als weitere Literaturtheoretiker, die das Bachtinsche Konzepts interpretierten und weiterentwickelten, sind Rainer Grübel und Renate Lachmann zu nennen.

2.2. Thomas Manns Roman „Der Erwählte“

Im Folgenden soll versucht werden, Beispiele für die drei genannten Erscheinungsformen der Dialogizität in Thomas Manns Roman „Der Erwählte“ zu finden und diese im Hinblick auf den Gesamttext zu interpretieren.

Da für die Untersuchung der Dialogizität in den drei folgenden Abschnitten Textpassagen aus dem „Erwählten“ ausschnitthaft und nicht immer in der Chronologie des Romans herangezogen werden, sei zunächst eine kurze Zusammenfassung des Romans gegeben. Thomas Manns 1951 erschienener Roman „Der Erwählte“ erzählt von neuem die Legende vom wundersamen Leben des Papstes Gregorius.

Am Anfang steht die späte Erfüllung eines Kinderwunsches. Grimald und Beduhenna, Herzog und Herzogin in Flandern und Artois werden Eltern der außergewöhnlich schönen Zwillinge Wiligis und Sibylla. Da Beduhenna kurz nach der Geburt stirbt, muss der Herzog die beiden Kinder allein großziehen. Als die Beiden im heiratsfähigen Alter sind, werden alle Bewerber, die um Sibylla anhalten, stolz abgewiesen. Als auch der Herzog stirbt, steigert sich die Selbstliebe der Zwillinge bis zum Inzest. Aus dieser Verbindung geht ein Sohn hervor, den Sibylla heimlich zur Welt bringt. Unterdessen will Wiligis die Sünde büßen, indem er auf Kreuzzug geht, bei dem er allerdings bald ums Leben kommt. Sibylla setzt das Kind in einem Fass auf dem Meer aus. In das Fässchen legt sie außerdem eine Tafel, die Hinweise auf die Herkunft des ausgesetzten Kindes enthält, sowie Geld und kostbare Stoffe.

Das Fass wird von Fischern entdeckt und dem Abt des Klosters der Insel Sankt Dunstan übergeben, der sich fortan des Findelkindes annimmt und es auf den Namen Gregorius tauft. Die ersten Jahre verbringt Gregorius bei einer Fischerfamilie, später besucht er die Klosterschule. Dort erkennt man bald seine herausragenden Fähigkeiten. Nach einer Auseinandersetzung mit einem seiner vermeintlichen Brüder erfährt Gregorius zufällig, dass er nicht das leibliche Kind der Fischerleute ist. Daraufhin fordert er den Abt auf, ihm die Wahrheit über seine Herkunft zu sagen. Der Abt übergibt ihm die Gegenstände, die sich im Fässchen befanden. Gregorius zieht als Ritter in die Welt aus, um seinen sündigen Eltern zu vergeben.

Das Land, in das er mit seinem Schiff gelangt, wird vom Herzog Roger von HochburgundArelat belagert, der gewaltsam um die Hand Sibyllas, der Herrscherin dieses Landes freit. Gregorius besiegt den Freier und nimmt die Frau, die ihn gebar, zur Frau. Nach einigen Jahren Ehe findet Sibylla die Tafel ihres Ehemannes und Sohnes. Gregorius steht seiner Ehefrau und Mutter gegenüber. Als Buße pflegt Sibylla die nächsten siebzehn Jahre Arme und Kranke, während Gregorius loszieht, um Buße zu tun.

Ein Stein in einem See, auf dem er nur überleben kann, weil eine nahrhafte Flüssigkeit aus dem Boden sickert, wird zum Platz seiner langen Buße. Nach siebzehn Jahren finden zwei Gesandte aus Rom zu Gregorius. Der Büßer, der auf dem Stein zu einem igelartigen Geschöpf geschrumpft war, erhält seine ursprüngliche Gestalt wieder und wird zum Papst gekrönt. Nach einigen Jahren pilgert Sibylla nach Rom. Während der Audienz wird ihr vergeben. Die Freude über das Wiedersehen ist groß. Sibylla und Gregorius gestehen sich, ihre Verwandtschaft bereits bei der Hochzeit geahnt zu haben.

2.2.1. Dialogizität einzelner Wörter

Die Grundparadoxie der Gregorius-Legende lässt sich vielleicht in dem Phänomen fassen, dass etwas Gutes aus Bösem hervorgehen kann oder dass das Gute und das Böse zumindest sehr nah beieinander liegen. Bei Goethe, mit dem sich Thomas Mann hin und wieder gerne verglich, spricht Mephisto: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Das Gute kann nur vor dem Hintergrund des Bösen wahrgenommen werden. Dieser Gedankengang, der großen Optimismus hinsichtlich der Theodizeefrage voraussetzt, findet sich auch im „Erwählten“. Das Gute setzt das Böse voraus, das Erhöhte befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Niedrigen. Das Niedrige, Erdgebundene, Körperliche, Profane, und somit Menschliche auf der einen und das Erhöhte, die Seele, das Sakrale, Göttliche auf der anderen Seite bilden im „Erwählten“ eine Opposition, die auch als Ertönen zweier Stimmen interpretiert werden kann.

Stellen im Judentum Körper und Seele noch eine Einheit dar, ist für das Christentum und das Mittelalter, in dessen Kontext die Erzählstimme Clemens des Iren und die von ihm erzählte Legende eingebettet sind, die Trennung von Körper und Seele eine gängige Auffassung. In dem Prolog des Erzählers, in dem Kapitel „Wer läutet“, wird mit dem „Geist der Erzählung“ und seiner Analogie zum Heiligen Geist auf eine Art „Weltseele“ verwiesen. Diese Auffassung der Seele, das Konzept einer Weltseele, geht auf Platon zurück und wurde im Mittelalter von einigen Theologen wiederaufgegriffen. Der Gedanke, dass etwas Böses notwendig ist, damit Gutes entsteht, scheint für christliches Denken symptomatisch zu sein. Dieses Prinzip steht hinter dem Leben Jesu Christi, der Verkörperung des Heiligen Geistes, der einen irdischen Tod sterben musste, um aufzuerstehen. Der Verkörperung des Heiligen Geistes durch Jesus entspricht im Roman die Verkörperung des „Geistes der Erzählung“ durch Clemens den Iren.

Dem Prinzip von Fall und Erhöhung folgt schließlich die Geschichte Gregorius, der vom größten Sünder zum Papst erhoben wird. Im Hinblick auf Gregorius heißt es: „Sehr wohl kann aus dem Schlimmen das Liebe kommen und aus Unordnung etwas sehr Ordentliches.“3

[...]


1 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S.100

2 Matias Martinez: Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft, hrsg. von Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 2005, S.437

3 Thomas Mann: Der Erwählte. Roman, Frankfurt/M. 1994, S.110.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Dialogizität in Thomas Manns Roman "Der Erwählte"
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Seminar für Deutsche Philologie )
Veranstaltung
Thomas Mann und das Mittelalter
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
19
Katalognummer
V161123
ISBN (eBook)
9783640744992
Dateigröße
437 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dialogizität, Thomas, Manns, Roman, Erwählte
Arbeit zitieren
Joanna Balys (Autor:in), 2009, Dialogizität in Thomas Manns Roman "Der Erwählte", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/161123

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