Freundschaft mit Christus leben

Eine Hinführung zum kontemplativen Gebet


Essay, 2010

26 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Lectio divina: Gott begegnen in seinem Wort
Lesung: Gottes Wort als stärkende Speise
Meditation: Eindringen ins Innere des Wortes Gottes
Gebet: Antwort auf die Anrede Gottes an uns
Kontemplation: Vereinigung der Seele mit Gott

Das Jesusgebet: Ein Weg unablässigen Betens
Eine Sehnsucht: Auf der Suche nach dem unablässigen Gebet
Der Körper: Tempel des Heiligen Geistes
Freundschaft mit Christus: Das Jesusgebet im Kontext einer christlichen Lebensgestaltung
Hesychia: Gott in sich selbst schauen wie in einem Spiegel

Weiterführende Literatur

Lectio divina: Gott begegnen in seinem Wort

Die frühen christlichen Mönche hatten eine besonders enge Beziehung zur Bibel, in der sie Christus selbst gegenwärtig sahen. Die Bibel war für sie Mittelpunkt ihrer Spiritualität und Kraftquelle für ihr Leben. Sie wollten Gottes Wort nicht nur rein verstandesmäßig erfassen, sondern es auch leben. Auch für unser geistliches Leben heute ist es zweifellos eine Bereicherung, wenn wir das Wort Gottes wieder stärker in den Mittelpunkt unserer Spiritualität stellen.

Wir Mönche üben die Schriftlesung traditionell in Form der lectio divina, der meditierenden und betenden Lesung. Der Kartäusermönch Guigo II. († 1193) gibt in seiner Schrift Scala claustrali um[1] eine Anleitung zu dieser Gebetsmethode:

„Als ich eines Tages mit Handarbeit beschäftigt war und über die geistlichen Übun- gen der Menschen nachzudenken begann, kamen mir mit einem Male vier geistli- che Stufen in den Sinn, nämlich lectio (Lesung), meditatio (Meditation), oratio (Gebet) und contemplatio (Kontemplation). Dies ist die Leiter der Mönche, durch die sie von der Erde in den Himmel hinaufgeführt werden. Stufen hat sie nur wenige, uner- messlich aber und unglaublich ist ihre Größe. Ihr unteres Ende steht auf der Erde, ihr oberes aber durchdringt die Wolken und versucht, den Himmel zu erspähen. Die Stufen unterscheiden sich nach Namen und Zahl, ebenso wie nach Zweck und Aufgabe. Wer aufmerksam ihre Eigentümlichkeit betrachtet und den Nutzen, den jede von ihnen bei uns hervorbringt, und wie sie sich von einander unterscheiden und sich gegenseitig übertreffen, dem wird die Arbeit und der Eifer, den er darauf verwendet, kurz und leicht erscheinen, im Vergleich zu dem gewaltigen Nutzen und der großen Freude, die er daraus zieht.“[2]

Guigo benutzt die Symbolik der Leiter, um den Aufstieg zu Gott zu beschreiben. Biblische Grundlage dieser Symbolik ist der Traum Jakobs: „Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.“ (Gen 28,12). Die lectio divina ist für Guigo ein Weg, der in vier Stufen zu Gott führt: Lesung, Meditation, Gebet und Kontemplation. Diese vier Stufen sind freilich nicht als starre Abfolge zu verstehen. Vielmehr sind es verschiedene Ebenen, die fließend ineinander übergehen.

Lesung: Gottes Wort als stärkende Speise

Als erste Stufe nennt Guido die Lesung:

„Die Lesung ist das eifrige Lesen der Bibel mit aufmerksamem Geist.“[3]

Textgrundlage für die Lesung ist das Wort Gottes: die Bibel. Die lectio divina beginnt mit der Lesung einer vorher ausgewählten Bibelstelle. Die klassische Art der Lesung ist die lectio continua,

d. h. die Bücher der Bibel werden entweder der Reihe nach oder anhand eines Leseplans[4] durch- gelesen. Die lectio continua fordert den Leser, denn er wird sich durch manche Durststrecke kämp- fen und aufpassen müssen, dass er nicht bereits am Anfang gleichsam im Wüstensand stecken bleibt. Sie bewahrt ihn aber auch davor, sich nur auf seine Lieblingsstellen zu konzentrieren. Der Beter sollte möglichst absichtslos an das Wort Gottes herantreten und sich vom Geist in die richti- ge Richtung führen lassen, gleichsam die Segel nach dem Wehen des Heiligen Geistes hissen, ohne zu wissen, an welchem Ufer er ankommen wird. Auf diese Weise betrachtet der Beter sich selbst und sein Leben im Spiegel des Wortes Gottes. Wem die Offenheit fehlt, sich vom Wort Gottes um- formen zu lassen, würde mit der lectio divina letztlich nur Zeit verschwenden.

Wichtig ist, sich die nötige Zeit und Muße zu gönnen, um die ausgewählte Textstelle wirklich mit aufmerksamem Geist lesen zu können und sich ganz auf den Text einzulassen und nicht has- tig über ihn hinweg zu eilen. „Lesen, besonders die lectio divina, darf nicht auf eine Aufgabe redu- ziert werden, für die neben all den anderen wichtigen Beschäftigungen noch irgendwie Zeit ge-

funden werden muss. Um gut zu lesen, bedarf es der Muße. Zweckfreies Lesen bedeutet, sich in eine andere Welt zu versetzen, die gelassenes Nachdenken erlaubt.“, schreibt der australische Trappist Michael Casey, der für diese Art des Lesens den Begriff » micro-reading « verwendet.[5]

Die Menschen der Antike lasen anders als wir heutigen Menschen. Während wir einen Text still mit den Augen verfolgen, war es in der Antike üblich, einen Text beim Lesen leise vor sich hin zu murmeln. Diese Art des Lesens kann helfen, Zerstreuungen zu vermeiden und den Text tiefer zu durchdringen. Michael Casey empfiehlt, Textstellen, die den Leser besonders ansprechen, abzuschreiben. „Der Akt des Schreibens ist selber Meditation - eine Weise, sich das Gelesene anzueignen. Wenn wir mit Sorgfalt und Ehrfurcht schreiben, bleiben wir länger beim Text und folgen seiner Eigenart.“[6] Auf diese Weise entsteht eine Art lectio-divina -Tagebuch, eine Blütenlese von Bibelstellen, die für den Leser besondere Bedeutung haben.

Das Lesen bei der lectio divina ist ein anderes Lesen als etwa die Lektüre eines Fachbuches oder eines Beitrags in einer Fachzeitschrift, bei der es darum geht, innerhalb möglichst kurzer Zeit möglichst viele Informationen im Gedächtnis zu behalten. Außerdem unterscheidet sich die lectio divina vom Lesen zum Vergnügen oder zur Unterhaltung, also etwa dem Lesen eines Romans oder einer Illustrierten. Natürlich soll auch die lectio divina Vergnügen bereiten und keine lästige Pflicht sein, jedoch ist sie kein passives Sich-Unterhalten-Lassen und Ausspannen, sondern Gebet und Dialog mit Gott. Lesen bei der lectio divina heißt vor allem hören. Es geht darum, Gott im bibli- schen Text sprechen zu hören, sich vom Wort Gottes ansprechen zu lassen, es auf sich und an sich wirken zu lassen, es zu schmecken und zu genießen, es zu verkosten sowie auf diese Anrede zu antworten und in Liebe vor Gott zu verweilen.

Für Guigo ist das Wort Gottes eine Speise, die den Menschen nährt und stärkt:

„Die Lesung führt gleichsam die feste Speise zum Mund, die Meditation zerkleinert und zerkaut sie, das Gebet schmeckt sie und die Kontemplation erlangt die Freude des Genusses. Zur Veranschaulichung ein Beispiel unter vielen: In der Lesung höre ich: ‚Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.‘ (Mt 5,8) Welch kurzes Wort, doch lieblich und reich angefüllt mit vielfältigem Sinn. Zur Nahrung wird der Seele gleichsam eine Traube dargereicht, die die Seele aufmerksam be- trachtet, um schließlich bei sich zu sprechen: ‚Das könnte gut für mich sein. Ich

werde in mein Herz einkehren und versuchen, ob ich vielleicht diese Reinheit finden und erlangen kann. Kostbar und erstrebenswert ist sie nämlich, denn selig gepriesen werden, die sie besitzen, da ihnen versprochen wird, dass sie Gott, der das ewige Leben ist, schauen werden und da sie durch das Zeugnis der ganzen Heiligen Schrift gelobt wird.‘ Dies also möchte die Seele voll und ganz verstehen. So beginnt sie, die Traube zu zerkleinern und zu zerkauen, sie gibt sie gleichsam in die Kelter. Dann treibt sie den Verstand an, herauszufinden, was diese so kostbare und erstrebenswerte Reinheit sei und wie sie erlangt werden könne.“[7]

Beim Lesen wird den Leser bald ein Vers oder ein einzelnes Wort besonders ansprechen. Guigo vergleicht einen solchen Vers mit einer Traube, die den Appetit des Lesers anregt. Der Leser nimmt den Vers gleichsam wie eine Speise in den Mund und beginnt ihn zu zerkauen, um den Inhalt tiefer zu erfassen.

Meditation: Eindringen ins Innere des Wortes Gottes

Ruminatio - wiederkäuen, so nennt die monastische Tradition das beständige Wiederholen dieses einen Verses oder dieses einen Wortes, das den Leser angesprochen hat. Sie versetzt in ein Klima, aus dem heraus die Meditation entspringen kann. Die Meditation dringt ins Innere des Wortes Gottes ein und versucht, die gelesene Stelle zu verstehen:

„Die Seele schreitet also zur Meditation, sie verharrt nicht an der Oberfläche, verweilt nicht abseits. Sie dringt ins Innere ein, erfasst die Einzelheiten.“[8]

Die in der christlichen Antike und im Mittelalter allgemein übliche Methode der Bibelaus- legung war die Lehre vom vierfachen Schriftsinn. Zunächst wird der Beter versuchen, den Literal- sinn der gelesenen Stelle zu verstehen. Eine Einführung in die biblische Zeitgeschichte hilft, ein Buch der Bibel in den rechten historischen und kulturellen Kontext einzuordnen, und ein Kom- mentar hilft beim Verständnis des Textes. Ein grundlegendes Glaubenswissen und grundlegende exegetische Kenntnisse bewahren den Beter davor, dass seine Meditation in eine falsche Richtung verläuft:

„Wie anders können wir darauf bedacht sein und wie es vermeiden, nicht durch falsche oder eitle Meditation die Grenzen zu überschreiten, die von den heiligen Vätern gesteckt worden sind, wenn wir nicht zuerst durch Lesung und mündliche Belehrung unterwiesen worden sind?“[9]

Ohne Kenntnis des kulturellen Hintergrunds könnte beispielsweise der Vers „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24) als Aufforderung zu vergeltender Gewalt missverstanden werden, anstatt als Aufruf zur Eindämmung von Gewalt.

Als nächstes sucht der Beter nach dem geistlichen Sinn der gelesenen Stelle, der ein dreifacher ist: ein allegorischer, ein tropologischer und ein anagogischer. Allegorisch wird ein biblischer Text auf Christus hin gelesen. So stehen der Auszug des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten und der Durchzug durch das Rote Meer für die Befreiung aus der Sklaverei der Sünde durch das Wasser der Taufe. Paulus legt im Galaterbrief die Erzählung von den zwei Söhnen Abrahams allegorisch aus (vgl. Gal 4,22-26). Der tropologische Sinn fragt nach Anleitung zum rechten Handeln im alltäglichen Leben. Welche Orientierung gibt mir der Text für mein Leben? Psalm 78 etwa ist eine Meditation der Geschichte JHWHs mit seinem Volk Israel, die zur Treue gegenüber Gott ermutigen soll. Paulus legt im Ersten Korintherbrief den Auszug aus Ägypten und die Wüstenwanderung auf diese Weise aus (vgl. 1 Kor 10,1-11). Der anagogische Sinn fragt nach der endzeitlichen Bedeutung. So kann der Einzug des Volkes Israel in das verheißene Land die Aufnahme des Menschen in die ewige Gemeinschaft mit Gott symbolisieren.

Zur Meditation gehört auch, einen Bezug zu anderen Bibelstellen herzustellen. Je länger der Beter die lectio divina übt und je mehr Bibelstellen er auswendig kennt, desto größer wird sein Fundus sein, aus dem er schöpfen kann, um ein Netz zwischen den einzelnen Büchern der Bibel zu knüpfen. Nach dem Grundsatz, dass die Bibel sich selbst auslegt, wird er auf diese Weise davor bewahrt, einen einzelnen Vers aus dem Zusammenhang zu reißen. Ein einzelner Vers der Bibel lässt sich mit einem Backstein vergleichen. Die ganze Bibel ist dann ein Haus, das aus diesen Stei- nen aufgebaut ist, und kein mit Steinen beladener Laster. Je besser der Beter die Bibel kennt, de- sto mehr Gewinn wird er aus Assoziationen mit anderen Bibelstellen ziehen können.

[...]


[1] Guigo der Kartäuser: Scala claustralium. Die Leiter der M ö nche zu Gott. Übers. v. Daniel Tibi. Nordhausen 32010.

[2] Ebd. 1.

[3] Ebd. 1.

[4] Die Deutsche Bibelgesellschaft hat eine Bibel herausgegeben, in der der Text der Luther-Bibel in 365 Tagesab-schnitte eingeteilt ist. Jeder Tagesabschnitt besteht aus einem einleitenden Psalmtext gefolgt von einem Ab- schnitt aus dem Alten Testament und einem Abschnitt aus dem Neuen Testament: Die Jahresbibel. Hrsg. v. der Deutschen Bibelgesellschaft. Stuttgart 2006. Der Leseplan ist auch im Internet verfügbar: <www.die- jahresbibel.de/leseplan.html>.

[5] Vgl. Michael Casey: Fremd in der Stadt. Glaube und Werte in der Regel des heiligen Benedikt. St. Ottilien 2007, 51.68.

[6] Ders.: Lectio divina. Die Kunst der geistlichen Lesung. St. Ottilien 2009, 121.

[7] Scala claustralium, 2.

[8] Ebd. 3.

[9] Ebd. 11.

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Details

Titel
Freundschaft mit Christus leben
Untertitel
Eine Hinführung zum kontemplativen Gebet
Veranstaltung
-
Autor
Jahr
2010
Seiten
26
Katalognummer
V160785
ISBN (eBook)
9783640770090
ISBN (Buch)
9783656132035
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gebet, Jesusgebet, Lectio divina
Arbeit zitieren
Daniel Tibi (Autor:in), 2010, Freundschaft mit Christus leben, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/160785

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