Kann die Wirtschaftsentwicklung überhaupt noch politisch gesteuert werden?

Vortrag im Forum Offene Wissenschaft an der Universität Bielefeld, am 21.06.2010


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2010

18 Seiten


Leseprobe


Helmut Wiesenthal

„Kann die Wirtschaftsentwicklung überhaupt noch politisch gesteuert werden?“

Vortrag im Forum Offene Wissenschaft an der Universität Bielefeld, am 21.06.2010

Wir leben in interessanten Zeiten. Die Rolle des Staates als Mediator und Regulator des Wirtschaftsgeschehens scheint gegenwärtig so paradox wie selten zuvor. Auf der einen Seite waren und sind die Regierungen der OECD-Staaten zu Maßnahmen von beachtlicher Eingriffstiefe in die Finanzmärkte wie auch die Eigentumsrechte von Investoren und Unternehmern bereit. Auf der anderen Seite ist der Zweifel an Steuerungsfähigkeit des Staates groß und weit verbreitet. In ihm spiegeln sich aktuelle Erfahrungen, Erkenntnisse von Politik- und Wirtschaftswissenschaft sowie die Ängste der um ihre Ersparnisse besorgten Bürger.

Ich will in diesem Vortrag versuchen, die Gründe für diesen Zweifel etwas aufzuhellen, um am Ende einige Anhaltspunkte dafür zu liefern, was besorgte Bürger in der nahen Zukunft realistischerweise an rationalen staatlichen Steuerungsleistungen erwarten können – und welche Erwartungen man besser aufgeben sollte, um nicht immer wieder aufs Neue enttäuscht zu werden.

Der Staat als Retter in der Not

Auf den ersten Blick erscheint die Fähigkeit der Regierungen zum erfolgreichen Krisenmanagement als gar nicht so gering. Leistete doch die Bundesregierung einen beachtlichen Beitrag zur Bewältigung der Weltfinanzkrise:

- durch großzügige Kreditvergabe an und Teilübernahme von insolvenzgefährdeten Banken (IKB, HRE, Commerzbank, Landesbanken),
- durch Sicherung des Beschäftigungsniveaus mittels verlängerter Kurzarbeit,
- durch Ankurbelung des Automobilabsatzes mit Hilfe der Abwrackprämie und
- Erhaltung der deutschen Opelwerke mittels Liquiditätshilfe und vagen Kreditzusagen sowie – als krönendem Abschluss –
- durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz von Dezember 2009, das u.a. die Hotelbranche durch Steuersenkung auf den Rang des Wachstumsmotors Nr.1 beförderte.

Wenige Monate später gelang es, den Staatsbankrott Griechenlands durch umfangreiche Kreditzusagen abzuwehren, nachdem deutsche und französische Großbanken signalisiert hatten, dass sie ein Ausfall der von ihnen gehaltenen Staatsanleihen Griechenlands in ernste Finanznöte bringen würde. Auch dieses drohende Übel wurde verhindert.

Schließlich – und fast unvorbereitet – gelang es den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten am 19. Mai die bis dahin gar nicht als gefährdet geltende Europäische Währungsunion vor einem plötzlich drohenden Untergang zu retten: Mit dem 720-Mrd.-Schutzprogramm, an dem der IWF mit 220 Mrd., Deutschland mit 123 Mrd. und u.a. der Inselstaat Malta mit 400 Mio. Euro beteiligt sind.

Nun scheint im Spannungsfeld von Finanzmarktakteuren und staatlichen Rettern erst einmal Ruhe eingekehrt. Dass die 20 größten europäischen Finanzinstitute bis Ende 2012 noch einen ungestillten Finanzbedarf von 800 Mrd. Euro haben,[1]ist gegenwärtig noch kein Thema auf Regierungsebene.

Doch auch angesichts dieser und der gewiss noch folgenden Großtaten bleibt ein grundsätzlicher Zweifel: Ist die unter Beweis gestellte Fähigkeit, jederzeit exorbitante Finanzmittel per Regierungsentscheidung zu schöpfen, hinreichend um die immer wieder auftauchenden Liquiditätslöcher zu schließen und gleichzeitig für eine positive Wirtschaftsentwicklung zu sorgen?

Politische Entscheidungen unter Stressbedingungen

Betrachten wir das Regierungshandeln in der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise und der Euro-Schuldenkrise von 2010 etwas genauer. Auf den ersten Blick erscheint die Bewältigung der Finanzkrise durch Stützungskredite für Banken und Stimuluspakete für die Industrie als hinreichender Beweis für das staatliche Steuerungsvermögen. Der befürchtete Run der Bürger auf ihre Bankeinlagen und Sparguthaben blieb aus, Werksschließungen in der Automobilindustrie wurden verhindert, die Arbeitslosigkeit hat sich nicht signifikant erhöht – offenbar hat die Regierung das Richtige getan, als „die Märkte“ zu versagen schienen.

Auf den zweiten Blick sieht man mehr: Nach der großzügigen Ausweitung der Staatsschulden und dem Auslaufen der Konjunkturpakete (von denen Experten meinen, dass sie zu früh beendet wurden) wollen die Regierungen zu haushalts- und finanzpolitischer Stabilität zurückkehren. Dabei stehen sie vor einem Dilemma:

- Beeilen sie sich, die Schuldenlast mit Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen abzutragen, so drohen sie das ohnehin schwache Wirtschaftswachstum abzuwürgen und den Erholungspfad aus der Talsohne der sechsprozentigen Sozialproduktminderung heraus zu verlängern.
- Vertagen sie aber den Abbau der Schuldenlast, so drohen steigende Zinsen den Handlungsspielraum zu verringern und die Inflationsgefahr wächst.

Die bislang erfolgten Maßnahmen der Krisenbearbeitung haben das Feld der Krisenursachen weitgehend unberührt gelassen. Es besteht der Verdacht, dass sie in erster Linie erfolgten, um Zeit zu gewinnen und den Status quo möglichst vor turbulenten Ereignissen und mittleren Katastrophen zu bewahren. Angesichts des für 2012 prognostizierten Liquiditätsbedarfs der Banken von fast einer Billion Euro, scheint noch keineswegs Sicherheit gegen Wiederholungsfälle gewonnen. Zunächst vermochte man lediglich, die kurzfristigen Risiken für Anleger, Sparer und Arbeitnehmer unter Kontrolle zu halten.

Bekanntlich waren die Regierungen an der Schaffung der Rahmenbedingungen beteiligt, die die Finanzmarkt-Blase begünstigt haben:

- durch Förderung irrational großzügiger Bedingungen der Immobilienfinanzierung in den USA,
- durch Blindheit gegenüber der Kreativität von Wertpapier-Konstrukteuren und
- Gleichgültigkeit gegenüber den scheinbar unerschöpflichen Reichtumsquellen, über die Investmentbanker zu verfügen.

Die Liberalisierung der Finanzmärkte wurde von ihren Urhebern ausschließlich in ihren positiven Aspekten gesehen. Warnungen kritischer Außenseiter blieben unbeachtet. Das verbreitete Reden vom „risk assessment“ blieb auf merkwürdige Weise folgenlos; in der Politik schien der Begriff „Risiko“ gänzlich unbekannt. Regierungen und die Foren der demokratischen Politik waren offensichtlich überfordert.

Weit davon entfernt, die eigene Mitwirkung an den fatalen Umständen anzuerkennen, machten sich Politiker daran, anderen die Schuld zuzuschieben: den Finanzmarktakteuren und ganz allgemein dem „Markt“. Wider besseres Wissen wird suggeriert, es ginge nicht um die Kontextangemessenheit und die Anreizwirkungen vonpolitisch gesetztenSpielregelndes Markthandelns, sondern um den „Markt“ an sich – als gesellschaftliche Verkehrsform.

Der Finanzwissenschaftler Charles Morris, der bereits im Februar 2008 (als hierzulande nur wenige sahen, was auf uns zukam) eine detaillierte Ursachenanalyse der Subprime-Krise veröffentlicht hat, bezeichnet die Fehlsteuerung des Finanz- und Immobiliensektors der USA als das, was es ist: „Mismanagement as Political Art“ (Morris 2008: 9).

Der Fall Griechenland und die Zukunft des Euro

Wie das politische System auf scheinbar plötzlich hereinbrechende Krisen reagiert, lässt sich gut an der Euro-Schuldenkrise studieren, deren Auslöser mit dem Namen des schönen Griechenland verbunden ist. Der griechische Staat unterhielt ein Haushaltsdefizit von zuletzt über 13 %, das er durch Ausgabe von Staatsanleihen finanzierte. Dabei musste er einen immer höheren Zinssatz anbieten, um Käufer zu finden. Doch diese waren nicht dumm, sondern registrierten als vorsichtige, risikobewusste Kaufleute, dass mit dem griechischen Schuldenberg und den steigenden Zinsen auch das Risiko derZahlungsunfähigkeit wächst. Die Folge:

- Sie verzichteten auf den Kauf der angebotenen Staatspapiere oder
- verlangten eine höhere Risikoprämie oder
- sicherten sich durch Kreditausfallversicherungen ab oder
- verkauften ihre griechischen Staatspapiere mit erheblichem Nachlass
– und wagten es noch, darüber zu reden. Das ist, was Politiker als unverantwortliche, ja böswilige Spekulation identifizieren.

Nachdem die nominale Rendite griechischer Anleihen dank erhöhter Risikoprämien auf 25 % gestiegen war, drohte der Staatsbankrott. Er hätte den Gläubigerbanken, vor allem in Deutschland und Frankreich, enorme, allerdings selbstverschuldete Verluste beschert und wurde, um das zu verhindern, durch ein Rettungspaket von 110 Mrd. Euro abgewendet.

Doch die ominösen Märkte, die „spekulierenden“ Eigentümer und vor allem die völlig „unverantwortlichen“ Nicht-Käufer von Staatsanleihen hatten „nur“ die InteressenihrerGläubiger, nämlich der Versicherungen, Pensionsfonds und Kleinanleger im Sinn statt die Sorgen der spendierfreudigen, opportunistischen und nicht selten korrupten Politiker. Sie taten, was vernünftige Kaufleute im Krisenfall zu tun pflegenund prüften, ob anderenorts nicht ähnliche Risiken drohen, etwa in Irland, Portugal und Spanien.

Und so kam es, dass am 21. Mai 2010 ein zweiter, noch größerer Rettungsschirm geschaffen werden musste: der sogenannte Euro-Schutzfonds von 720 Mrd. €.

Das war, wie die Bundeskanzlerin sagte, „alternativlos“. Denn „Scheitert der Euro, scheitert Europa“. Was das genau heißen würde, wenn „der Euro scheitert“ und wie man sich das Scheitern Europas vorstellen müsste, blieb im Dunkeln.

Die plausibelste Erklärung stellt auf die Eigenlogik der politischen Sphäre ab und die Neigung der Mitglieder einer sich bedroht sehenden Gruppe (hier des Europäischen Rats, also die Versammlung der Staatschefs),

- an einem gemeinsamen Identitätskonzept festzuhalten,
- zur Stärkung des Zusammenhalts ein gemeinsames Feindbild zu entwickeln, und
- die gemeinsame Machtbasis zur Verteidigung des Status quo auszubauen.

Folgerichtig provoziert die Entdeckung fiskalischer Ungleichgewichte als dissoziierende Kräfte in der Europäischen Währungsunion Forderungen nach einer Stärkung der Brüsseler Zentrale (lt. Äußerungen von Barroso und Juncker) und der Einrichtung einer EU-Wirtschaftsregierung.

[...]


[1] FAZ 17.06.2010: „Europas Banken haben riesigen Finanzbedarf“.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Kann die Wirtschaftsentwicklung überhaupt noch politisch gesteuert werden?
Untertitel
Vortrag im Forum Offene Wissenschaft an der Universität Bielefeld, am 21.06.2010
Hochschule
Universität Bielefeld
Autor
Jahr
2010
Seiten
18
Katalognummer
V159886
ISBN (eBook)
9783640749751
ISBN (Buch)
9783640749836
Dateigröße
1791 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Öffentlicher Abendvortrag zu einem aktuellen politischen Thema
Schlagworte
Politische Steuerung, globale Finanzkrise, Regierungspolitik, Finanzpolitik, Dilemma, Überforderung, politische Rhethorik
Arbeit zitieren
Helmut Wiesenthal (Autor:in), 2010, Kann die Wirtschaftsentwicklung überhaupt noch politisch gesteuert werden?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159886

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