Inklusion und Exklusion in funktional differenzierten Gesellschaften

Die Entstehung und Fortentwicklung sozialer Ungleichheitsstrukturen


Hausarbeit, 2010

20 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die moderne Gesellschaft
2.1 Die Gesellschaftstheorie der funktionalen Differenzierung
2.2 Die Mitglieder der Gesellschaft

3. Inklusion und Exklusion in funktional differenzierten Gesellschaften
3.1 Systemtheoretische Ebene
3.2 Differenzierungstheoretische Ebene

4. Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit
4.1 Systemintegration und Sozialintegration
4.2 Inklusion als Bruckenkonzept
4.3 Exklusion als neue Qualitat sozialer Ungleichheit

5. Die Fortentwicklung sozialer Ungleichheitsstrukturen - Wohin steuern moderne Gesellschaften?
5.1 Inklusionsprobleme durch Wachstumsgrenzen
5.2 Inklusion und Exklusion alter Menschen
5.3 Freiwillige Exklusionen

6. Fazit

1. Einleitung

Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft charakterisiert sich durch eine zunehmende Ausdifferenzierung ihrer Teilsysteme. Diese werden dabei immer auto- nomer. Zugleich fragt man sich, was mit den Individuen im Rahmen dieser Entwick- lung passiert. Werden sie kunftig starker in die Funktionssysteme der Gesellschaft einbezogen sein oder droht ein zunehmender Ausschluss? Wird die Ungleichheit un- ter den Menschen zu- oder abnehmen? Die Frage nach dem Verhaltnis von sozialen und psychischen Systemen, von Individuum und Gesellschaft, begleitet die Soziolo- gie indes schon seit ihren Anfangen.

Vor dem Hintergrund des Ausdifferenzierungsprozesses moderner Gesellschaften richtet man in der gesellschaftstheoretischen Betrachtung den Fokus auf die Inklusi- on und Exklusion von Akteuren in der Gemeinschaft. Ein klares Verstandnis fur den Gebrauch dieser Begriffe, geschweige denn eine eindeutige Definition, haben sich dabei aber nicht herausgebildet. Inklusion und Exklusion werden sowohl in system- theoretischen Zusammenhangen als auch dann verhandelt, wenn es um Belange der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft geht. Vor diesem Hintergrund soll folgenden Fragestellungen nachgegangen werden: Wie entstehen Ungleichheiten durch Inklu- sions- und Exklusionsstrukturen in funktional differenzierten Gesellschaften? Wie entwickelt sich soziale Ungleichheit auf der Basis dieses gesellschaftstheoretischen Konzepts im Rahmen der funktionalen Ausdifferenzierung fort?

Im Sinne dieser Zielrichtungen werde ich zunachst die systemtheoretischen Bezuge skizzieren, die die Einfuhrung von Inklusion und Exklusion uberhaupt erforderlich gemacht haben. Danach soll in Kapitel 3 ein kleiner Einblick in die Verwendungsbrei- te der Begriffe angeboten werden. Die Befassung mit der Frage, inwiefern Inklusion und Exklusion Ungleichheitsstrukturen erzeugen oder aufrechterhalten konnen, ist dem Kapitel 4 vorbehalten. SchlieGlich wage ich im funften Kapitel den Versuch, ne- ben einigen in der Literatur beschriebenen Prognosen fur moderne Gesellschaften auch eigene Vorstellungen einflieGen zu lassen. Dabei wird sich zeigen, dass die Frage, wohin uns die Logik der funktionalen Differenzierung mit Blick auf die soziale Ungleichheit in der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung treibt, keineswegs leicht zu beantworten ist. Aber Moglichkeiten der Entwicklungen sind schon denkbar. Viel- leicht auch bereits erkennbar?

2. Die moderne Gesellschaft

2.1 Die Gesellschaftstheorie der funktionalen Differenzierung

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann entwickelt ab den 1970er Jahren im An­schluss an Talcott Parsons Theoriegebaude aus den 50er Jahren eine sehr umfas- sende Gesellschaftstheorie, die die systemtheoretische Diskussion seither maGgeb- lich pragt.1

Luhmann geht davon aus, dass moderne Gesellschaften im Gegensatz zu vorherge- henden segmentar oder stratifikatorisch gegliederten Gesellschaften durch das Vor- herrschen funktionaler Gliederung2 gekennzeichnet sind und sich deren Charakter uber ihre Teilsysteme, z. B. Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Massenmedien, Gesundheit, Familie und Intimbeziehungen erschlieGt. Diese Teilsysteme begreift Luhmann als sich selbst herstellende (autopoietische) Kommunikationszusammen- hange, weil sie geschlossene, auf sich selbst bezogene Systeme (selbstreferentiell) sind und sich kontinuierlich erneuern (transitorisch), ohne dass sie dabei zwingend ihre Systemgestalt beibehalten mussten (vgl. Schimank, 2007: 143-155).

Weil die Teilsysteme selbstreferentiell geschlossen sind, richtet sich die Kommunika- tion grundsatzlich nicht an auGeren Umweltgesichtspunkten aus, sondern an inneren, teilsystemischen, binaren Codes, die Leitdifferenzen herausbilden („Haben oder Nichthaben" im Teilsystem Wirtschaft, „Sieg oder Niederlage" im Sport). Fur Luh­mann hat sich die funktionale Differenzierung der Gesellschaft im Rahmen der Diffe­renzierung dieser Codes und Leitdifferenzen entwickelt, die allerdings nicht arbeits- teilig im Sinne eines kooperativen Gesamtzusammenhangs zusammenwirken. Damit wendet er sich ab von der bis dahin vorherrschenden Vorstellung, dass funktionale Differenzierung auf Arbeitsteilung beruht. Alles, was in Teilsystemen stattfindet, hat nur Relevanz, wenn es in diesen so codierten Kommunikationszusammenhang hin- ein passt (die Wirtschaft produziert nicht wild darauf los, sondern hat die Verkauflich- keit der Waren im Blick). Die Codes werden von Programmstrukturen (Regelwerke) unterstutzt, die an diese Codes anknupfen und die der Kommunikation eine normati­ve und kognitive Orientierung geben - die Kommunikation im FuGball durch den Sie- gescode, die Spielregeln und die Spieltaktik (vgl. ebd.: 155 -163).

Zwei weitere Strukturkomponenten sind im Rahmen der teilsystemischen Kommuni­kation wirksam. Zum einen haben sich in den Teilsystemen moderner Gesellschaften Medien herausgebildet, so z. B. Liebe als Medium der Intimbeziehungen, die als Zu- satzreinrichtungen zur Sprache die codegepragte Kommunikation verstarken - wer geliebt wird, wird von seinem Partner viele Dinge bekommen, die dieser anderen ge- genuber nicht zu geben bereit ware. Zum anderen haben sich in Teilsystemen forma- le Organisationen gebildet, die die Beachtung der Programmstrukturen dauerhaft und personenunabhangig sichern. Diese symbolisch generalisierten Medien und die Or­ganisationen sichern ebenso wie die binaren Codes und Programmstrukturen die Autopoiesis der teilsystemischen Kommunikationszusammenhange ab (vgl. ebd.: 168 -171).

Wo sind aber in diesem funktional differenzierten Gesellschaftssystem die Menschen geblieben? Und welche Bedeutung haben Gesellschaftsmitglieder in einem System, das weder uber eine Spitze, noch uber ein Zentrum verfugt, das aus einer Ansamm- lung von auf gleicher Ebene angesiedelten Teilsystemen besteht, in denen jedes auf- tretende Ereignis unter verschiedenen, teilsystemischen Blickwinkeln (polykontextu- ral) kommuniziert wird (ein Zugungluck stellt sicht als rechtliches, wirtschaftliches, massenmediales Geschehen dar)?

2.2 Die Mitglieder der Gesellschaft

In diesem Zusammenhang kommen die Gesellschaftsmitglieder als psychische Sys- teme mit ins Spiel. Unter psychischen Systemen versteht Luhmann Individuen, er nennt sie - in bewusster Abgrenzung zu dem Begriff „Mensch" - „Personen". Psychi­sche Systeme operieren auf der Basis von Bewusstsein, soziale Systeme auf der Basis von Kommunikation. Der operationale Systembegriff hat zur Folge, dass alles, was nicht zu den Operationen innerhalb des Systems zahlt, als auGerhalb des Sys­tems stehend, also als Umwelt zu betrachten ist. Hier gelangt Luhmann zu der wohl am kritischsten betrachteten Konsequenz der Systemtheorie, dass: „Bewusstsein und Kommunikation, psychische Systeme und soziale Systeme, niemals fusionieren, auch nicht partiell uberlappen konnen, sondern vollig getrennte, selbstreferentiell- geschlossene, autopoietisch-reproduktive Systeme sind. Wie gesagt: Menschen konnen nicht kommunizieren" (Luhmann 1995a: 45).

Welche Bedeutung haben nun diese psychischen Systeme fur die Gesellschaft? Und umgekehrt: Welche Bedeutung hat die Gesellschaft fur die Gesellschaftsmitglieder?

Einerseits knupft Luhmann hier an Durkheim, Simmel und Parsons an und betont, dass auch eine funktional differenzierte Gesellschaft interpenetrierende psychische Systeme benotige, die sich als einzigartige und selbstbestimmte Personen begreifen. Andererseits verweist er darauf, dass die Einzigartigkeit einer Person sich uber ihre Anspruche generiert, die sie an die Teilsysteme erhebt (vgl. Schimank 2007: 190).

An dieser Stelle ist die Frage der Inklusion der Gesellschaftsmitglieder in die Teilsys­teme der funktional differenzierten Gesellschaft zu klaren.

3. Inklusion und Exklusion in funktional differenzierten Ge- sellschaften

Wenn in der soziologischen Systemtheorie von Inklusion und Exklusion die Rede ist, ist damit einer der am kontroversesten diskutierten Theoriebereiche angesprochen. Es geht um das bereits angedeutete Verhaltnis von sozialen und psychischen Sys- temen, von Individuum und Gesellschaft. Man kann die Diskussion etwas konturie- ren, indem man sich auf zwei unterschiedliche Betrachtungsebenen einlasst: auf eine systemtheoretische Ebene und eine differenzierungstheoretische Ebene (vgl. Farzin 2006: 10)3

Auf der systemtheoretischen Ebene geht es um die Notwendigkeit der Unterschei- dung zwischen Individuum und Gesellschaft, auf der differenzierungstheoretischen Ebene um die aus diesem Verhaltnis entstehenden Konsequenzen und Problemla- gen. Gleichwohl handelt es sich dabei nur um eine analytische Trennung, die die kontroverse Diskussion nicht entscharfen, aber unterschiedliche Bedeutungsinhalte skizzieren kann.

3.1 Systemtheoretische Ebene

„Inklusion / Exklusion beginnt eine entscheidende Rolle zu spielen ab dem Punkt, an dem durch die Umstellung auf einen autopoietischen Systembegriff die Abhangig- keitsverhaltnisse zwischen psychischen und sozialen Systemen neu gefasst werden mussen" (ebd.: 8). Mit Blick auf die in Kapitel 2 dargelegte Systemtheorie ist zu kla- ren, auf welche Art und Weise vollig selbstandige Systeme doch von einander ab- hangen konnen.

Hier kommt das Konzept der Inklusion ins Spiel, das von Talcott Parsons gepragt und von Niklas Luhmann und Rudolf Stichweh weiter ausgearbeitet wurde. Luhmann, der den Begriff der Inklusion von Parsons ubernommen hat, betrachtet wie dieser den Begriff zunachst differenzlos. Fur beide ist Inklusion eine Voraussetzung gesell- schaftlicher Entwicklung, die die Prozesse der Ausdifferenzierung begleitet und auch stabilisiert und die durch die zunehmende Einbeziehung aller Gesellschaftsmitglieder sogar schichtspezifische Beschrankungen abbaut. Ihr Gegenteil, „Exklusion wird als die zweite Seite der Unterscheidung zunachst ausgeblendet und nicht naher defi- niert" (ebd.: 39).

Inklusion bedeutet in systemtheoretischem Verstandnis, dass „ein autopoietisches psychisches System, das auf der Basis von Bewusstsein operiert, seine Eigenkom- plexitat zum Aufbau sozialer Systeme zur Verfugung stellt" (Luhmann 1989: 162). Und dies erfolgt im Wege der strukturellen Kopplung in Form der Interpenetration. Interpenetration hat zur Folge, dass durch die Teilnahme am sozialen System dem Menschen Eigenbeitrage abverlangt werden, was dazu fuhrt: „daR> die Menschen sich voneinander unterscheiden, sich gegeneinander exklusiv verhalten [...]. Das daraus resultierende Problem wird durch >>Individualisierung<< der Personen gelost." (Luh­mann 1984: 299).

[...]


1

Die Entwicklung dieser Gesellschaftstheorie ist auch mit Perspektivenwechsel verbunden. Anfang der 1970er Jahre stellt Luhmann die Umweltoffenheit systemischer Operationen in den Vordergrund, spater die selbstreferentielle Geschlossenheit. Solche, durchaus sehr bedeutenden Entwicklungen, werden hier vernachlassigt, weil nur die „Eckpfeiler“ des Theoriegebaudes skizziert werden sollen

2 Luhmann sieht ebenso noch teilweise segmentare Differenzierungen, Differenzierungen in Zentren und Peripherie und stratifikatorische Differenzierungen in modernen Gesellschaften existieren.

3 Eine dritte, von Farzin vorgeschlagene „kommunikationstheoretische Ebene", ist nicht gleichzusetzen mit der differenzierungstheoretischen Lesart und bleibt hier unberucksichtigt.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Inklusion und Exklusion in funktional differenzierten Gesellschaften
Untertitel
Die Entstehung und Fortentwicklung sozialer Ungleichheitsstrukturen
Hochschule
FernUniversität Hagen  (LG Soziologie I: Individuum und Gesellschaft)
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
20
Katalognummer
V159480
ISBN (eBook)
9783640726967
Dateigröße
406 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Inklusion, Exklusion, Differenzierung, Ungleichheit, Systemtheorie, Differenzierungstheorie
Arbeit zitieren
Egon Wachter (Autor:in), 2010, Inklusion und Exklusion in funktional differenzierten Gesellschaften , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159480

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