Die aus der Reformpädagogik hervorgegangene Erlebnispädagogik als erzieherischer Leitfaden für die Hitler-Jugend


Masterarbeit, 2009

80 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Geschichte der Erlebnispädagogik
2.1 Jean-Jacques Rousseau
2.2 Henry David Thoreau
2.3 John Dewey
2.4 Kurt Hahn
2.4.1 Kurt Hahns Begriff der Erlebnistherapie
2.4.2 Die drei Stufen der Hahnschen Erlebnistherapie
2.4.3 Die drei Dimensionen der Erziehung zur Verantwortung
2.4.4 Umsetzung in den Kurzschulen
2.5 Zentrale Begriffe der Erlebnispädagogik
2.5 1 Das Erlebnis
2.5.2 Die Natur
2.5.3 Das Individuum

3.Die Pädagogik in der Zeit des Nationalsozialismus
3.1 Pädagogische Grundideen der NS-Pädagogenschaft
3.1.1 Der NS-Pädagoge Eduard Spranger
3.2 Das Erziehungswesen des NS-Staates
3.3 Die Erfassung der gesamten Bevölkerung
3.4 Die Erziehung des Deutschen zum Typus
3.5 Die Erziehung aus der Sicht Hitlers
3.6 Die Schule der NS-Zeit
3.7 Außerschulische Veranstaltungen
3.8 Die Mädchen
3.9 Jüdische Schüler/Innen
3.10 NAPOLA
3.11 Formationserziehung
3.12 Baldur von Schirach
3.12.1 Leben (Biographisches)
3.12.2 Politisch-pädagogische Ziele

4.Die Geschichte der Hitlerjugend
4.1 Entstehungsgeschichte
4.1.1 Hintergrund
4.2 Die HJ vor der „Machtergreifung“ Hitlers
4.3 Die HJ nach
4.4 Charakteristika der Hitlerjugend
4.4.1 Funktion und Aufgaben
4.2.2 Organisationsform
4.4.3 Handlungsformen
4.4.4 Die weibliche Jugend und ihre geschlechtsspezifische Rolle
4.5 Erziehung in der HJ
4.6 Einfluss der HJ auf die Schule
4.7 Der Bildungsanspruch der Hitlerjugend
4.8 Methoden der außerschulischen Erziehung
4.9 Der Bildungsanspruch der Schule
4.10 Der Konflikt der Bildungsinstitutionen

5. Erlebnispädagogische Momente in der Hitlerjugend
5.1 Das Individuum
5.2 Gemeinschaft
5.3 Natur
5.4 Das Erlebnis

6. Resümee

Literaturverzeichnis

Internetquellen

1. Einleitung

Wenn man sich mit Erlebnispädagogik auseinandersetzt, wird man bei den Abhandlungen über die Ideengeschichte der Erlebnispädagogik feststellen, dass es häufig als eine Geschichte mit gewissen Lücken dargestellt wird. Erlebnispädagogik zwischen 1933 und 1945 scheint ein eher gemiedenes Thema bei Autoren zu sein, die der Erlebnispädagogik positiv gegenüberstehen und die Anwendung erlebnispädagogischer Elemente befürworten. Dies ist sicher verständlich, angesichts der negativen Assoziationen, die mit diesem Zeitraum von 12 Jahren behaftet sind. Aber es drängt sich die Frage auf, was in diesen 12 Jahren mit der Erlebnispädagogik geschah. Wurden erlebnispädagogische Elemente in der (Um-)Erziehung genutzt, unterdrückt oder durch geringe Veränderungen in der Erziehung integriert und ergänzt?

Diese Arbeit hat zum Ziel, die Stellung der Erlebnispädagogik in der Hitlerjugend aufzuarbeiten und zu zeigen, inwiefern Elemente der Erlebnispädagogik zwischen 1933 und 1945 zum Einsatz kamen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es zunächst von Bedeutung, sich mit der Geschichte der Erlebnispädagogik, der Pädagogik in der Zeit des Nationalsozialismus und der Geschichte der Hitlerjugend auseinanderzusetzen. In einem letzten Schritt werde ich versuchen herauszuarbeiten, welche der zuvor genannten Elemente der Erlebnispädagogik sich in der Erziehung in der Hitlerjugend wiederfinden lassen und inwieweit man überhaupt noch von Erlebnispädagogik in der Hitlerjugend sprechen kann. Die Zusammenstellung der zuvor erarbeiteten Ergebnisse wird in einem abschließenden Resümee erfolgen.

2. Die Geschichte der Erlebnispädagogik

Der Begriff der Erlebnispädagogik lässt sich in der pädagogischen Literatur häufig wieder finden, allerdings ist er keineswegs klar definiert worden. Man findet lediglich umfangreiche Ausführungen zur Geschichte der Pädagogik, jedoch vermisst man eine konkrete Definition. Dies ist dennoch keine Überraschung, da sich hinter dem Begriff „Erlebnispädagogik“ mannigfaltige Wurzeln und Praxisansätze verbergen.[1] Allein die Schriftenreihe „Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik“ umfasst mehr als 50 verschiedene Personen, Bewegungen sowie praktische und theoretische Handlungsanweisungen. Somit ist eine erschöpfende und einheitliche Betrachtung der historischen Entwicklung im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Die geschichtliche Darstellung erfolgt daher durch einen kurzen Überblick über die wichtigsten Vordenker und Pioniere der Erlebnispädagogik. Auf Kurt Hahn wird sich in den folgenden Punkten genauer konzentriert.

2.1 Jean-Jacques Rousseau

Schon Jean-Jacques Rousseau (*1712 – †1778) lässt in seinem Werk „Emile“ erlebnispädagogische Grundmuster erkennen. Er plädiert für natürliche Erziehung, was sich in dem berühmten Zitat des Werkes

„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen“[2]

Seine Vorstellung von Erziehung in der Pädagogik war eine Erziehung ohne Erzieher. Es soll jederzeit eine Erziehung durch die Natur, der Erziehung durch (menschliche) Erzieher vorgezogen werden. Dabei sollten Lernprozesse durch

eigene Erfahrung und unmittelbares Erleben mit den Sinnen geschehen. Allein durch die negativen Folgen des eigenen (unpassenden) Handelns kann sich nach seinen Vorstellungen der freie Mensch entwickeln.

„Und denkt daran, dass ihr in allen Fächern mehr durch

Handlungen als durch Worte belehren müsst. Denn Kinder vergessen leicht, was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen tat.“[3]

Die Aufgabe des Menschen beschränkt sich lediglich auf das Ermöglichen einer Erziehung durch die Natur und auf das Fernhalten von Störungen.[4]

2.2 Henry David Thoreau

Henry David Thoreau (*1817 – †1862) stellte sich die Frage nach der wirklichen Freiheit und den eigentlichen Lebensbedürfnissen. Sein Ziel war die ursprüngliche und unmittelbare Hinwendung zum Leben ohne Mittler. Diese Erkenntnis erlangte er durch einen zweieinhalbjährigen Selbstversuch, bei dem er in einer selbst erbauten Hütte abseits jeglicher Zivilisation, die Natur als Lehrmeisterin zu entdecken versuchte.[5]

„I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived. I did not wish to live what was not life, living is so dear

... I wanted to live deep and suck out all the marrow of life ...“ [6]

Er setzte mit diesem Experiment, die am Reisbrett erstellte Arbeit Rousseaus sozusagen in die Praxis um.

Für Thoreau standen Unmittelbarkeit und Augenblick, die eigene Erfahrung, das Lernen durch Versuch und Irrtum in realen Situationen, sowie die prägende Kraft der Natur im Mittelpunkt - Prinzipien und Gedanken, die später Einzug in die Erlebnispädagogik gehalten haben.[7]

2.3 John Dewey

John Dewey (*1859 – †1952), ist hierzulande weniger bekannt, während er in den USA und Kanada als Vater des handlungs- und erfahrungsorientierten Lernens gilt.[8]

Entwicklung und Wachstum sind die zentralen Begriffe bei Dewey.“[9]

Pädagogik, so Dewey, müsse zur Bewältigung konkreter Probleme dienen. Seiner Meinung nach entsteht Lernen aus der Erfahrung von Herausforderung und deren Bewältigung. Im Anschluss an die Lösung einer Schwierigkeit findet eine Reflexion des Prozesses statt, so dass das, was gelernt wurde, generalisiert und wieder benutzt werden kann.[10] Besonders Deweys handlungsorientiertes Prinzip des „Learning by Doing“, hat später seinen elementaren Platz in der Erlebnispädagogik gefunden.

„Mere activity does not constitute experience. It is dispersive, centrifugal, dissipating. Experience as trying involves change, but change is meaningless transition unless it is consciously connected with the return wave of consequences which flow from it. When an activity is continued into the undergoing of consequences, when the change made

by action is reflected back into a change made in us, the mere flux is loaded with significance. We learn something. It is not experience when a child merely sticks his finger into a flame; it is experience when the movement is connected with the pain which he undergoes in consequence. Henceforth the sticking of the finger into flame means a burn. “[11]

2.4 Kurt Hahn

Will man die historischen Wurzeln der heutigen Modelle, die auf erfahrungsorientiertem Lernen basieren, verstehen, so kommt man an der Person Kurt Hahn (*1886 – †1974) nur schwer vorbei. Geboren wurde Kurt (Martin) Hahn, als zweiter von vier Brüdern, am 05.Juni 1886 in Berlin. Bereits beeindruckt von Lietz[12] Werk „Emlohstobba“ studierte er von 1904 bis 1914 klassische Philosophie in Oxford und Göttingen. Hier fällt bereits auf, dass er nicht als klassisch studierter Pädagoge eingestuft werden kann, er sich selbst aber auch nie als solcher verstand. Während dieser Zeit wurde er auch politisch aktiv, jedoch nie als Politiker mit Mandat. Zuletzt wurde er persönlicher Berater des damaligen Reichskanzlers Max von Badens. Dieser gründete mit ihm 1920 die Schule Schloss Salem am Bodensee. Während des 2. Weltkriegs wanderte er nach England aus, da er aufgrund seiner Ideen und seiner jüdischen Herkunft in Deutschland nicht mehr sicher war. Er gründete 1934 im britischen Exil die "British Salem School" in Gordonstoun (Schottland), sowie 1941 die erste Outward Bound School in Aberdovey / Wales. Mit Ende des 2. Weltkrieges kehrte Kurt Hahn 1953 nach Deutschland zurück und bewirkte die Gründung mehrerer neuer gymnasialer Internatsschulen und auch heutzutage noch bedeutende politische und medizinische Institutionen, eine kleine Auswahl: Die Heidelberger Vereinigung – eine politische Arbeitsgemeinschaft prominenter Persönlichkeiten; Das Institut für auswärtige Politik – eine wissenschaftliche Einrichtung in Hamburg; Die Outward Bound Bewegung; Der Duke of Edinburgh Award – ein Abzeichen für besondere Leistungen für Jugendliche; Das George Trevelyan Scholarship – Stipendium für Oxford und Cambridge für besonders talentierte Jugendliche; Die Medical Commission on Accident Prevention – Institution die sich der Unfallverhütung verschrieben hat.[13]

„Gemeinsam ist all diesen Vereinigungen der Gedanke des Dienstes an der Gesellschaft und der Verständigung über Klassen und Ländergrenzen hinweg. Stets geht es um die Überwindung von Unrecht, Not, Leid, Gewalt.“[14]

Kurt Hahn starb am 14. Dezember 1974 in Ravensburg und wurde in Salem beigesetzt.[15] Seine pädagogische Arbeit ging um die ganze Welt und beeinflusste die Praxis der deutschen Erlebnispädagogik maßgeblich. Er gilt nicht umsonst mit seinem Konzept der „Erlebnistherapie“ noch heute als geistiger Vater, Urvater oder Begründer der Erlebnispädagogik.[16] Diesen Ruf erlangte Kurt Hahn, da er es verstand wie kein Zweiter, die bisherigen Ideen und Konzepte mit handlungs- und erlebnisorientierten Ansatz, zu einem pädagogischen Gesamtkonzept zusammenzufassen.[17] Seine Gedanken sind demnach stark von den bisherigen, entscheidenden Wegbereitern der modernen Erlebnispädagogik, wie Jean-Jacques Rousseau, John Dewey, Hermann Lietz oder Henry David Thoreau, beeinflusst. Zudem wurde er von den geistesgeschichtlichen Linien Platos beeinflusst:

„Angetan von einem, an Plato angelehnten, harmonischen Staatsverhältnis und einer daraus abgeleiteten Vision, durch Erziehung den dazu adäquaten (Staats-)Bürger hervorzubringen, war sein

pädagogisches Verständnis in erster Linie das eines Pragmatikers.“[18]

Die Basis seines pädagogischen Konzepts und seines pädagogischen Handelns und Denkens basiert somit auf den Erkenntnissen vieler bedeutender Vordenker. Dies verdeutlicht die Aussage Max von Badens:

„Hier ist alles gestohlen, und das ist gut so, von Hermann Lietz, der wie kein anderer wagte, Jungen zu Mitträgern der Verantwortung zu machen, von Goethe, von den englischen public schools, von den Boyscouts, von der deutschen Jugendbewegung nach den Freiheitskriegen, von Plato. Sie werden nichts finden wovon wir sagen können: das haben wir entdeckt.“[19]

Doch „ Kurt Hahn war mehr als nur ein Pädagoge“[20] Im Laufe seines langen Lebens hat er fünf große politische Phasen der deutschen Geschichte vom Kaiserreich, dem 1. Weltkrieg, der Weimarer Republik, dem 2. Weltkrieg bis zur Gründung der Bundesrepublik durchlaufen und in Folge dessen kann er vielfältig beschrieben werden: als preußischer Jude, als Bürger mit deutschem Nationalstolz, als Internationalist mit britischer Prägung, als Berater, als Mahner, aber immer auch als Politiker.[21]

2.4.1 Kurt Hahns Begriff der Erlebnistherapie

Nach der Vorstellung Kurt Hahns bilden Lernen, Arbeiten, Kunst, Spiel, Sport und Feier eine Einheit. Diese lässt sich nur im Konzept der Kurzschulen nach seinem Modell verwirklichen, da in ihnen erst die Möglichkeit gegeben ist, in erlebnistherapeutischer Weise auf die Persönlichkeitsentwicklung der in Langeweile lebenden Jugendlichen einzuwirken.[22] Hahn nannte seine Erziehungseinrichtungen daher auch „pädagogische Werkstätten“, die durch eine sozial und national gemischte Belegschaft Schulen der Verständigung und des Friedens seien.[23] Seine Internate sollten keine Familie im Großen widerspiegeln sondern vielmehr einen Staat im Kleinen. So spricht Kurt Hahn sich nicht direkt gegen die Familie aus,

„er hielt jedoch die Familienbande für zufällig, weil hineingeboren, während Beziehungen, die freiwillig eingegangen werden, vielfach auf der gemeinsamen Basis von gleichen Aufgaben oder Zielen operieren.“[24]

Der Begriff Therapie in Verbindung mit Pädagogik mag im ersten Augenblick etwas verwundern. Jedoch entlieh Kurt Hahn oft Begriffe aus der Medizin (heilen, gesund, krank, Diagnose, Therapie, Seuche, immun machen). So diagnostizierte er der Gesellschaft folgende Verfallserscheinungen[25]:

- der „Mangel an menschlicher Anteilnahme“[26]
Durch Sensationskonsum und Reizüberflutung haben Selbstgefühl und Mitgefühl keinen Platz mehr in der Gesellschaft; Menschenliebe und eigenverantwortliches Handeln verkümmern.
- der „Mangel an Sorgsamkeit“[27]
Der Niedergang des Handwerks zieht einen verantwortungslosen Umgang mit den Dingen des täglichen Lebens nach sich. Die Massenproduktion führt zu einer Wegwerfmentalität und bedingt die ’Seuche der Schlamperei’.
- der „Verfall der körperlichen Tauglichkeit“[28]

Auch ohne die modernen Medien diagnostiziert Hahn bereits eine Zuschauerkrankheit oder „die Seuche der Spectatoris“, die die Eigeninitiative allmählich verkümmern lässt. Die Vernachlässigung der körperlichen Tüchtigkeit und der Mangel an Selbstdisziplin gegenüber Rausch- und Beruhigungsmitteln beeinflusst junge Menschen negativ.

- der „Mangel an Initiative und Spontanität“[29]

Der kranken Zivilisation fehlen selbstbewusste Individuen mit Zivilcourage, die für die Menschenrechte eintreten. Untertänigkeit und Gefügigkeit sind Mangelerscheinungen, die die Schutzfunktion der Familie weiterhin negativ beeinflussen.[30]

Diese Verfallserscheinungen beschränkte er jedoch nicht auf die Gruppe der Jugendlichen; die ganze Gesellschaft, von jung bis alt, sei hiervon betroffen. Allein bei den Jugendlichen besteht allerdings noch die Möglichkeit der Beeinflussung durch Erziehung. Da es nur bei ihnen

„seelische Qualitäten gibt, die man sich aber als Kind aneignen muss, um sie besitzen zu können […], während die ’’Seele’’ dessen, der über 30 Jahre alt ist, hart wie Gips ist.“ [31]

Mit einem erlebnistherapeutischen Konzept sollten diese Verfallserscheinungen, die oftmals schon als

normale Begleiterscheinungen modernen Gesittung“ [32]

hingenommen werden, bekämpft werden. Als Weg für gesellschaftliche Veränderung setzt Hahns Erlebnistherapie bei der Entfaltung der Stärken und Fähigkeiten des Individuums an.[33]

2.4.2 Die drei Stufen der Hahnschen Erlebnistherapie

In der 1. Stufe stellt Kurt Hahn vier Elemente seiner Erlebnistherapie den konstatierten Verfallserscheinungen gegenüber, die im Prinzip den gesamten Kurs-Plan der Einrichtung ausmachen:

a. Die leichtathletische Übung bzw. das körperliche Training
Das körperliche Training sollte einerseits vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten fördern, andererseits zur Selbstüberwindung bei hochgesteckten Zielen anspornen. Leichtathletische Übungen, Natursportarten, Ballspiele und diverse Parcours waren hier die gängigen Methoden.[34]
b. Die Expedition
Eine mehrtägige Tour in herausfordernden Naturlandschaften, mit intensiver Planungs- und Vorbereitungsphase. Sie dient dem Zweck der Selbstbewährung und sollte Sorgsamkeit, Umsicht bei der Planung, Entschlusskraft, Durchhaltevermögen und Nervenkraft herbeiführen.[35]
c. Das Projekt
Diese Methode übernahm Hahn aus dem amerikanischen Vorbild von Kilpatrick und Dewey 1935. Die Teilnehmer sollen prozess- und produktionsorientiert in einer zeitlich und thematisch abgeschlossenen Aktion handwerkliche, technische und/oder künstlerische Aufgaben bewältigen.[36]
d. Der (Rettungs-)Dienst als Dienst am Nächsten
Der Dienst am Nächsten, von Kurt Hahn als wichtigstes Element der Erlebnispädagogik bezeichnet, sollte Hilfsbereitschaft, Erbarmen und menschliche Anteilnahme schulen. Erste Hilfe, Berg- und Seenotrettung waren hier eingesetzte Verfahren, die im Übrigen auch der jeweiligen Umlandbevölkerung zugute kamen.[37] Die Verfallserscheinungen und die Elemente der Erlebnistherapie kennzeichnen den Rahmen, in dem pädagogische Eingriffe vollzogen werden sollen.[38]

Zur 2. Stufe:

„Die eigentliche charakterbildende Wirkung der ‚Erlebnistherapie’ wird erst in der gegenseitigen Verzahnung und im tatsächlichen Vollzug des Zusammenspiels Ihrer Elemente unter dem gemeinsamen Motiv des ’Erlebnisses’ in der Kurzschule voll sichtbar. Erlebnis ist dabei für Hahn nicht einfach etwas zufällig dem jungen Menschen Widerfahrenes, sondern das Endprodukt eines pädagogisch weitgehend vorbedachten Planes. Aufgrund dieser pädagogisch gestalteten Erlebnisse entstehen bei den Jugendlichen jene ’unauslöslichen Erinnerungen’, die Hahn als ’Kraftquellen’ für entscheidende Augenblicke im späteren Leben ansieht.“[39]

Die Erlebnisse müssen demnach möglichst hoch bzw. intensiv sein, um möglichst tiefe Einprägungen in dem Bewusstsein der jungen Menschen zu erzielen. So ist der Intensitätsgrad eines Erlebnisses verantwortlich für die spätere Erinnerung oder Nicht-Erinnerung bei ähnlichen Erfahrungen. Nicht die Dauer sondern die Stärke ist somit entscheidend für das spätere Verhalten. So sollen diese ’Heilsamen Erinnerungsbilder’ auch noch Jahre später abrufbar sein und das Verhalten bei ähnlichen Situationen steuern.[40]

Zur letzten und 3. Stufe:

„Die Erlebnistherapie als erzieherische Einheit ist für Hahn nur das Mittel der Erziehung. Sie kann die ’Hingabe’ und ’Bereitschaft’ des jungen Menschen erhalten und ihn sowohl vor dem Bruch in der Pubertät als auch vor allzu starker Wissensüberlastung durch die Schule bewahren. Darüber steht das Ziel der Erziehung des Menschen zum verantwortungsvollen Denken und Handeln in einer auf freiheitlich demokratischer Grundlage aufgebauten staatlichen Gemeinschaft. Hierzu kann die Erlebnistherapie organisch und vielfach unmerklich den einzelnen führen.“[41]

In der letzten Stufe schließt sich der Bogen zum „pädagogischen Kompaß“ – der Leitidee Kurt Hahns: Das Prinzip der Erziehung zu Verantwortung durch Verantwortung.[42] An diesem „pädagogischen Kompaß“ hielt Kurt Hahn bei allen Schulgründungen, auch im Ausland, fest.

2.4.3 Die drei Dimensionen der Erziehung zur Verantwortung

Hildegard Hamm-Brücher definiert drei Dimensionen in denen die Praxis der Erziehung zur Verantwortung verläuft:

1. Die personale Dimension

Übe Selbstkontrolle, erfülle Pflichten, entdecke und entfalte Deine Kräfte und Fähigkeiten, lerne durchzuhalten und auszuhalten, für Deine Fehler einzustehen, sei rücksichtsvoll.[43]

2. Die Dimension der Verantwortung für das schulische und internationale Zusammenleben

Einüben von Gemeinsinn, Gerechtigkeitsgefühl, Organisationsgeschick – Durchsetzen des alt Erkannten gegen Strapazen, Gefahren, innere Skepsis, Langeweile, gegen Hohn der Umwelt, gegen die Wallungen des Augenblicks.[44]

3. Die Dimension der Bewährung gegenüber in Bedrängnis oder Not geratenen Mitmenschen

Der Einsatz des einzelnen für den unbekannten Nächsten als Kraftquell, aus dem sich Gemeinsinn für die Gruppe, die Schule, die Gesellschaft speist.[45]

Hierzu ist ein Zitat Kurt Hahns zu erwähnen, das sein pädagogisches Credo widerspiegelt:

„Es ist Vergewaltigung, Kinder in Meinungen hineinzuzwingen. Aber es

ist Verwahrlosung, ihnen nicht zu Erlebnissen zu verhelfen, durch die sie ihrer

verborgenen Kräfte gewahr werden können.“[46]

2.4.4 Umsetzung in den Kurzschulen

Mit der Gründung der Kurzschulen verfolgte Kurt Hahn nicht nur pädagogische sondern auch politische Absichten. So gelten die Modelle dieser Schulen immer als Reformmodell für das traditionelle staatliche Bildungswesen[47] So fordert er 1967,

„ daß Erziehung zu Verantwortung als pädagogisches Prinzip auch in das öffentliche Schulwesen Eingang finden möge und

dieses auch zu einem europäischen Bildungsauftrag weiterzuentwickeln.“ [48]

Hier wird sein heute umstrittenes Verhältnis zwischen Staat und Individuum erkennbar. Wie bereits erwähnt waren alle bahnbrechenden reformpädagogischen Ideen bereits formuliert und die Intention Kurt Hahns war es sie nicht nachzubeten, sondern sie in die Tat umzusetzen. Daher stellen seine Schulen im pädagogischen Feld auch nichts Originelles vor.[49] Da Kurt Hahn bereits 1928 erkannte, das die ’Heilswirkung’, die von den bisherigen Landerziehungsheimen ausging, nicht mit dem Tempo der sich verändernden und damit verfallenden Gesellschaft mithalten konnte, musste er sich einen neuen Weg suchen, um die Wirkung optimieren zu können. Hier wandte er sich an andere Erziehungsträger und entwickelte die Organisationsform der ’Kurzschule’. Hier wird deutlich, dass er die Gründung der Kurzschule nie von Beginn an geplant oder zielstrebig verfolgt hat. Vielmehr entwickelte sie sich allmählich aus seinen Bestrebungen heraus, einen möglichst breiten erzieherischen Einfluss zu gewinnen.[50] Aus den praktizierten Methoden in Salem und Gordonstoun entwickelte sich so die eigene Einrichtung der ’Kurzschulen’.

Ebenso wichtig für das Verständnis seiner Institutionen ist die Wertepädagogik. Er klassifiziert seine Werte nach den Prinzipien von Kopf, Herz und Hand. Jedoch sind die Zuordnungen der Werte nicht nach der Entweder – Oder Methode entstanden, vielmehr besteht ein ganzheitlicher Anspruch, so ist auch eine Doppelnennung der Werte eingeschlossen. Dies verdeutlicht das Zusammenwirken dieser drei Begriffe und weist auf die Vielfalt der Wertekonzeption hin:[51]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie zu erkennen, tauchen einige Begriffe in allen drei Spalten auf. Die lässt erkennen, dass die Werte Hahns ganzheitlichem Verständnis unterliegen. Demnach soll diese Klassifizierung keineswegs die Werte von einander trennen sondern das Gegenteil bewirken.[52] Die weltweit wichtigste Ausbreitung der Kurzschulen nahm in Großbritannien ihren Anfang. Als erste Kurzschule und Basis für die weitere Entwicklung gilt die 1941 von Kurt Hahn und dem Reeder Lawrence Holt gegründete Schule in Aberdovey. Für diese Art Einrichtung wählte Hahn die Bezeichnung ’Short Term School’, zu Deutsch ’Kurzschule’. Sie bot mehrwöchige Kurse an, und errang (erlebnispädagogischen) Modellcharakter. Da diese Benennung die pädagogische Zielsetzung nicht verdeutlicht, ersetzte Holt die Bezeichnung ’Kurzschule’ durch einen Begriff aus der englischen Seefahrt: ’Outward Bound’[53] Dieser heutzutage bedeutende Begriff für den Bereich der Erlebnispädagogik bedeutet frei übersetzt: ein Schiff kann - zu großer Fahrt ausgerüstet - auslaufen. Hahn hat dieses Bild in die Pädagogik übertragen: der junge Mensch, der auf der Schwelle zum Erwachsensein steht, soll auf eine aktive und verantwortungsbewusste Lebensführung vorbereitet werden, ’auf seine Fahrt ins Leben’. Dem Beispiel der Einrichtung in Aberdovey folgen in nahezu regelmäßigen Abständen Gründungen weiterer “Outward Bound Schools“ in Europa (Belgien, Deutschland, England, Niederlande), Afrika (Kenia, Nigeria, Südafrikanische Republik, Zambia), Fernost (Hongkong, Japan, Malaysia, Singapore), Australien (Neu Seeland) und Nordamerika (USA, Hawaii, Kanada). Im Jahre 1985 waren es bereits 30 bestehende Einrichtungen, die auf den entwickelten Prinzipien Hahns beruhten.[54]

Die Zahl der Schulen, die sich nicht mit dem Begriff ’Outward Bound’ betiteln, jedoch eindeutig die Methoden für die Verwirklichung ihrer pädagogischen Ziele nutzen ist dabei um ein vielfaches größer (in den USA z.B.: über 250 Einrichtungen)[55]

[...]


[1] Vgl. Klawe, Erlebnispädagogik zwischen Alltag und Alaska, S. 11.

[2] Rousseau, Emile oder über die Erziehung, S. 18.

[3] Rousseau, Emile oder über die Erziehung, S. 80.

[4] Vgl. Heckmair, Erleben und Lernen, S. 19.

[5] Vgl. Heckmair, Erleben und Lernen, S. 23.

[6] Thoreau, The annotated Walden, S. 222.

[7] Vgl. Heckmair, Erleben und Lernen, S. 24.

[8] Vgl. Fleper, Erlebnistherapie und Verhaltensauffälligkeit, S. 46.

[9] Heckmair, Erleben und Lernen, S. 46.

[10] Vgl. Fleper, Erlebnistherapie und Verhaltensauffälligkeit, S. 46.

[11] Dewey, Democracy and Education, S. 139f.

[12] Lietz, Hermann: Emlohstobba. Roman oder Wirklichkeit? Bilder aus dem deutschen Schulleben der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft? Berlin 1897.

[13] Vgl. Knoll, Kurt Hahn ein politischer Pädagoge, S. 10f.

[14] Ebd., S. 11.

[15] Vgl. Scheuert, Klassiker der Pädagogik II, S. 166.

[16] Vgl. Heckmair, Erleben und Lernen, S. 16.

[17] Vgl. Reiners, Praktische Erlebnispädagogik, S. 10.

[18] Heckmair, Erleben und Lernen, S. 22.

[19] Herrmann, Kurt Hahn, Erinnerungen – Gedanken – Aufforderungen, S.65.

[20] Herrmann, Kurt Hahn, Erinnerungen – Gedanken – Aufforderungen, S. 5.

[21] Herrmann, Kurt Hahn, Erinnerungen – Gedanken – Aufforderungen, S. 5.

[22] Vgl. Fleper, Erlebnistherapie und Verhaltensauffälligkeit, S. 48.

[23] Vgl. Knoll, Kurt Hahn ein politischer Pädagoge, S. 10f.

[24] Pielorz, Werte und Wege der Erlebnispädagogik, S. 56.

[25] Ziegenspeck, Kurt Hahn, Erinnerungen – Gedanken – Aufforderungen, S. 120.

[26] Ziegenspeck, Kurt Hahn, Erinnerungen – Gedanken – Aufforderungen, S. 120.

[27] Ebd.

[28] Ebd.

[29] Ebd., S. 121.

[30] Ebd.

[31] Hahn, Erziehung und Verantwortung, S. 16 & S. 26.

[32] Ebd., S. 70.

[33] Ebd.

[34] Vgl. Bauer, Erlebnis- und Abenteuerpädagogik, S. 27.

[35] Vgl. Bauer, Erlebnis- und Abenteuerpädagogik, S. 27.

[36] Ebd., S. 28.

[37] Ebd., S. 29.

[38] Ebd.

[39] Ebd., S. 31.

[40] Vgl. Heckmair, Erleben und Lernen, S. 40.

[41] Bauer, Erlebnis- und Abenteuerpädagogik, S. 31.

[42] Vgl. Hamm-Brücher, Erziehung zur Verantwortung in der Demokratie, S. 36.

[43] Vgl. Hamm-Brücher, Erziehung zur Verantwortung in der Demokratie, S. 37.

[44] Ebd., S. 40.

[45] Ebd., S. 42.

[46] Hahn, K. Zitiert in: Hamm-Brücher, Erziehung zur Verantwortung in der Demokratie, S. 43.

[47] Vgl. Ziegenspeck, Kurt Hahn, Erinnerungen – Gedanken – Aufforderungen, S. 118f.

[48] Hamm-Brücher, Erziehung zur Verantwortung in der Demokratie, S. 36.

[49] Vgl. Herrmann zitiert in Ziegenspeck, Kurt Hahn, Erinnerungen – Gedanken – Aufforderungen, S. 65f.

[50] Vgl. Ziegenspeck, Kurt Hahn, Erinnerungen – Gedanken – Aufforderungen, S. 125.

[51] Vgl. Pielorz, Werte und Wege der Erlebnispädagogik, S. 171 f.

[52] Ebd., S. 172.

[53] Vgl. Ziegenspeck, Kurt Hahn, Erinnerungen – Gedanken – Aufforderungen, S. 125.

[54] Ebd., S. 126.

[55] Ebd., S. 127.

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Die aus der Reformpädagogik hervorgegangene Erlebnispädagogik als erzieherischer Leitfaden für die Hitler-Jugend
Hochschule
Universität Vechta; früher Hochschule Vechta
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
80
Katalognummer
V159422
ISBN (eBook)
9783640725540
ISBN (Buch)
9783640725816
Dateigröße
711 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erlebnispädagogik, Hitler-Jugend, Nationalsozialismus
Arbeit zitieren
Claudia Böckenstette (Autor:in), 2009, Die aus der Reformpädagogik hervorgegangene Erlebnispädagogik als erzieherischer Leitfaden für die Hitler-Jugend, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159422

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