Erdscholle und Erdkugel im globalen Umfeld


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2010

19 Seiten


Leseprobe


Unter dem Sinnbild der Erdscholle verstehe ich den Geburtsort, jenen Ort, an dem wir in der Regel unsere Primärsozialisierung und somit unsere kulturelle Konditionierung erfahren haben. Oft ist dies auch der Ort unserer ursprünglichen Heimat. Dieser Begriff ist noch umfassender als der der Kultur, sodass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass wir eigentlich nicht nur eine Heimat haben, sondern dass wir diese vielmehr insgesamt, selbst bei verblassender Erinnerung, in uns tragen und dass wir diese Heimat schlechthin sind: Wir haben also nicht nur eine Heimat, sondern wir sind sie.

Diese Heimat ist nicht nur eine biographische „quantité négligeable“, sondern sie ist Programm im Sinne unserer psychosomatischen Strukturen und Funktionen. Wenn wir dies vergessen, vergessen wir uns selbst, unsere ursprüngliche Identität. Und dieses Vergessen kann Nemesis (die altgr. Göttin der Rache) auf den Plan rufen. Der Preis des Vergessens kann bisweilen hoch sein und über eine regelrechte Katharsis die Heimat wieder rehabilitieren, um den Träger dieser Heimat selbst wieder in seinen originären Strukturen und Funktionen geistiger und körperlicher Art zu rehabilitieren, denn die Toleranzmarge der Abweichung von der kulturellen und heimatlichen persönlichen DNA (der Summe unserer Gesamtbedingtheit) ist begrenzt, obschon sie einen mit dieser DNA einhergehenden Grad der Plastizität und Anpassungsfähigkeit aufweist.

Alle Meilensteine der Biographie müssen zu irgendeinem Zeitpunkt in diese Grundausstattung und das persönliche Fundament integriert werden. Denn man kann ja nicht noch einmal bei Null anfangen und so tun, als existierte das persönliche Fundament gar nicht. Ohne dieses Fundament würde das Substrat und der Humus für jede Weiterentwicklung fehlen, und was kann schon ohne Humus gedeihen. Die angemessene Rezipierung und Integration des weiteren Weges in den Ausgangspunkt ist also immer wieder erforderlich. Der Ausgangspunkt kann sogar die Bezugnahme auf die Geschichte vorausgehender Generationen erfordern, wenn man einen Weg über große kulturelle Distanzen und Zeiträume zurückgelegt hat. Dann erfordert diese sehr weite Entfernung von der heimatkulturellen DNA die Bezugnahme auf die tieferen persönlichen Wurzeln, die die vorangehenden Generationen miteinbeziehen, um die Fundamentierung oder Wiederfundamentierung zu bewirken und somit die Integrität auf einem Niveau höherer Entwicklung wiederherzustellen. T. S. Elliot hat dieses Widereinklinken in den Ausgangspunkt poetisch mit den Worten

„Man kehrt wieder dorthin zurück, wo man hergekommen ist

Und kennt diesen Ort zum ersten Mal“

beschrieben. Man erkennt das Ursprüngliche nach weitergehender Erfahrung stets in einem neuen Licht. Und somit bedingt die Erfahrung des Ausgangsorts, durch deren Wahrnehmungsfilter wir die Welt wahrnehmen, stets die internationale Erfahrung mit, während die letztere den Ausgangsort stets in einem neuen Licht in Erscheinung treten lässt. Heimat- und Fremderfahrung bilden somit einen Kreis, eine Entwicklungsspirale, in der sich Altes und Neues in einer sich stets optimierenden, integrierenden und stabilisierenden Einheit ergänzen.

Man ist gewissermaßen vergleichbar mit einem Hund an der Leine der heimatkulturellen Gesamtbedingtheit, die ihrerseits die Länge dieser Leine bestimmt, an der sich der Wanderer zwischen kulturell diversen Welten bewegen kann. Wenn er sich gleich einem aggressiven Hund von der Leine löst und wildert, ruft er Nemesis auf den Plan, denn dann überschreitet er die Marge dessen, was die heimatkulturelle DNA als Lebensweg vorsieht. Und entsprechend dem Grad der Entfremdung von der Bedingtheit durch die Programmatik der originären „Scholle“ wird dann die kathartische Läuterung zur Widergewinnung der originären DNA ausfallen.

Das ist keine Begrenzung des Menschen, sondern nur eine Sicherheitsmaßnahme der Natur, um das Leben in seiner jeweiligen Form zu schützen. Die angeborene natürliche Intelligenz des Körpers und des Wesens reagieren bei einer drohenden irreversiblen Überschreitung der Toleranzmargen, wenn sie sensibel sind und dies erkennen. Es ist in keiner Weise als Beschränkung oder als den transkulturellen Enthusiasmus dämpfend zu interpretieren. Es handelt sich auch nicht um eine romantische Idealisierung oder ein belastende Abhängigkeit von der Heimat - die man im übrigen auch in der Fremde aktivieren und pflegen kann - sondern um ein geistig-biologisches Faktum, das natürlich auch eine mehr oder weniger starke emotionelle Komponente aufweist.

Jene Gefühlswelt, der Bereich des Herzens, sollte aber angemessen honoriert werden, denn er verleiht Flügel, wo der Verstand und die Arme ermüden, führt in der Erkenntnis weiter über den Rationalismus hinaus und gestattet uns auch jene Qualität der Empathie zu entwickeln, die uns die Herzen und die Kulturen anderer Menschen erschließen und gewinnen lässt. Die Messlatten der interkulturellen Erfahrung des kulturgrenzüberschreitenden Lebens im globalen Umfeld sind nicht nur kognitiver, sondern letztendlich auch emotionaler Natur. Die früh erworbene kulturelle Konditionierung ist emotionalisiert und nur bedingt bewusst und interkulturelle Beziehungen finden im Zeichen des Selbstreferenzkriteriums statt. Die Gefühlslage ist - obwohl Gefühle fluide und trügerisch sein können und somit vom Verstand validiert werden müssen - sowohl ein wichtiger Motivator als auch ein Indikator für die Qualität der Erfahrung im globalen Umfeld, beginnend mit der Erfahrung der Scholle bis zur planetaren Erdkugel hin.

Die Scholle ist Teil eines Feldes, eines gepflügten Feldes. Konkret ist sie Bestandteil einer Furche, die der Pflug saisonabhängig auf einem Ackerfeld zieht, also ein hochspezifischer Ort im Raum und in der Zeit. Die zahllosen parallelen, linienförmig verlaufenden Furchen machen einen Acker, häufig vor der Aussät oder nach der Ernte aus, wenn der Humus im Hinblick auf eine neue oder die folgende Ernte vorbereitet wird.

Ebenso hochspezifisch, aber nicht sozial unabhängig von anderen Schollen und Furchen, ist die Position des Menschen im globalen Feld. Die Scholle der lokalen Erde und die des gesamten Feldes der Erde, des Planeten, sind sein existenzielles Umfeld, sein Spielfeld sowie auch das anderer individueller und kollektiver Akteure auf dem Feld, auf dem man entsprechend seiner kulturellen Konditionierung das Spiel des Lebens, das individuelle, korporative oder nationale bestreitet. Während das Spiel in den individualistischen Kulturen des Westens höchst kompetitiv verläuft, verläuft es in den kollektivistischeren Kulturen kooperativer. Während der Wettbewerb der ersten zwischen den individuellen Akteuren entbrennt, wütet er in den letzteren zwischen den Gruppen, den In-Gruppen, solange beide Arten von Spielern nicht das gesamte Feld der Erde in ihre Optik miteinbeziehen und diese zum Referenzkriterium ihres Handelns machen, denn sie sind ja alle durch das gemeinsame Band des Elements Erde verbunden. Bezieht man diese erweiterte Optik in den Standpunkt mit ein und erkennt, dass sie das tragende Element aller ist, das im Verbund mit den anderen Elementen den Spielern in dem gemeinsamen Zeit-Raum des globalen Feldes Leben spendet, dann kann man einen gemeinsamen Standpunkt eingedenk der spezifischen Koordinaten der spezifischen Schollen herbeiführen, die ja alle insgesamt die konstitutiven Teile des ganzen Feldes sind und das globale Umfeld der Erde darstellen. Sie repräsentieren alle verschiedenen Optiken des einen und desselben Feldes. Die Nichterkenntnis dieser fundamentalen Einheit ist vergleichbar mit der Geschichte von den Blinden und dem Elefanten, die aufgrund ihrer Blindheit jeweils nur Teile des Elefanten wahrnehmen und denen somit das Geheimnis und die Natur des lebendigen Elefanten verborgen bleibt.

Alle Teile des globalen Umfeldes konstituieren somit das Gesamtterrain eines planetaren interdependenten Makroorganismus, dessen Mikrostrukturen die strukturell-funktionellen Organe des Makroorganismus sind. Und der Makroorganismus verkörpert seinerseits wiederum eine vitale Komponente eines umfassenderen stellaren Umfeldes. Und so verschachtelt sich das Universum gleich einer russischen Matroschka (mehrteilige Puppe) in immer umfassenderen interdependente Strukturen eines universellen kosmischen Feldes.

Matroschka und Elefant sind Metaphern für organisches Leben, dessen Komponenten und Ganzheit interdependent sind und ein Prinzip des Lebens schlechthin verkörpern. Jede Komponente, gleich jeder Scholle auf einem physischen Feld, hat also einen Bezug zum Ganzen, sowie das Ganze seinerseits wiederum einen Bezug zu jedem Bestandteil hat. Diese ganzheitliche Optik der Dinge ist der Schlüssel zu einer Erkenntnis, die die Dinge im Licht der Wahrheit ihrer Natur erfahren und entsprechend nachhaltig, im Einklang mit der Wahrheit der Natur der Dinge handeln lässt, gleich in welchem Bereich. Das ist ein wahrhaft ökologischer Standpunkt, der die verschiedenen Räume mit ihren diversen Funktionen, sowie auch die Diversität der Bewohner des gemeinsamen „oikos“ (Gr. für Haus, Grundwort von Ökologie), in der Bedeutung des gemeinsamen Hauses menschlichen Lebens, angemessen berücksichtigt.

Die Lehre vom Einheitsfeld, dem gemeinsamen Haus oder der Menschheitsfamilie sind also real existierende Fakten, die sich dem Betrachter bei einer Erweiterung seiner Optik erschließen. Solange die Erkenntnis der interdependenten Organizität des Ganzen, das die Gestalt eines von den diversen Optiken bedingten Kaleidoskops aufweist, nicht aufleuchtet, sind die Akteure auf dem globalen Feld mit den „Weisen von Gotham“ vergleichbar, die faktisch Narren sind oder mit den Blinden in der Geschichte vom Elefanten vergleichbar, die zwar mit dem Ganzen konfrontiert sind, es aber dennoch nicht erkennen.

[...]

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Details

Titel
Erdscholle und Erdkugel im globalen Umfeld
Veranstaltung
Interkulturelles Management
Autor
Jahr
2010
Seiten
19
Katalognummer
V159079
ISBN (eBook)
9783640777136
ISBN (Buch)
9783640776870
Dateigröße
1220 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
mit englischen Komponenten
Schlagworte
Heimat, interkulturelles Management, transkulturelles Managemen, internationales Diversitätsmanagement
Arbeit zitieren
D.E.A./UNIV. PARIS I Gebhard Deissler (Autor:in), 2010, Erdscholle und Erdkugel im globalen Umfeld, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159079

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