Die Straße als Lebensraum mit wachsender Attraktivität für Jugendliche. Eine Konkurrenz für die Jugendhilfe?


Diplomarbeit, 2001

93 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Lebenswelt Straße – eine Beschreibung
2.1 Begriffsdiskussion „Straßenkinder“
2.2 Alltag und Überlebensstrategien
2.2.1 Szeneorte und Straßenszenen
2.2.2 Legale Lebensbewältigungsstrategien
2.2.3 Illegale Lebensbewältigungsstrategien
2.3 Entscheidung für die Straße- Ursachenforschung
2.3.1 Familienstrukturelle Bedingungen
2.3.2 Gesellschaftliche Bedingungen
2.3.3 Sogwirkung der Szene
2.3.4 Erfahrungen mit der Jugendhilfe
2.4 Entwicklungsverläufe von Straßenkarrieren
2.4.1 Erste Fluchten
2.4.2 Fluchtmuster
2.4.3 Pendelkarrieren
2.4.4 Verfestigung des Straßenlebens

3. Strukturveränderungen in der Jugend- und Sozialarbeit
3.1 Politische und gesellschaftliche Veränderungen
3.1.1 Die Dienstleistung Sozialarbeit
3.1.2 Sozialmanagement
3.1.3 Beziehungswandel zwischen Staat und freien Trägern
3.2 Soziale Arbeit in der Legitimationskrise
3.3 Auswirkungen betriebswirtschaftlichen Denkens auf die Jugendhilfe
3.4 Ergänzende Gedanken zum Thema

4. Jugendhilfe für Straßenjugendliche
4.1 Aufgaben und Anprüche an die Jugendhilfe
4.2 Allgemeine rechtliche Grundlagen
4.3 Angebote der traditionellen öffentlichen Jugendhilfe
4.3.1 Krisenunterkünfte und Jugendnotdienste
4.3.2 Allgemeine Soziale Dienste
4.4 Lebensweltorientierte Sozialarbeit
4.4.1 Mobile Jugendarbeit und Straßensozialarbeit
4.4.1.1 Gesetzliche Arbeitsgrundlagen
4.4.1.2 Inhaltliche Arbeitsgrundlagen
4.4.2 Szenenahe Anlaufstellen
4.4.3 Weiterführende Wohnformen
4.4.4 Überschneidungen der Jugendhilfeangebote
4.5 Ausstiegs- und Kooperations-Modelle
4.5.1 Theoretische Konzepte zum Ausstieg
4.5.2 Das Schwellenstufensystem- Modell
4.5.3 Das INSTAP- Modell
4.5.4 §35 KJHG: Die Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung
4.6 Kritische Betrachtung des Jugendhilfesystems
4.6.1 Die Rechtsstellung Minderjähriger
4.6.2 Spezialisierungen in der Jugendhilfe
4.6.3 Kommunale Kooperation und Vernetzung

5. Herausforderungen, Anregungen und Konsequenzen an die Jugendhilfe
5.1 Reformbedarf auf Bund- und Länderebene
5.2 Kommunale Reformbedürfnisse in der Sozial- und Jugendhilfepolitik
5.3 Reformbedürfnisse an den ASD
5.4 Reformbedürfnisse an die Fachkräfte der Jugendhilfe
5.5 Ergänzende eigene Anregungen

Anhang : - Quellenverzeichnis

1. Einleitung

Thema meiner Diplomarbeit ist die Auseinandersetzung mit dem aktuellen System der Jugendhilfe in Deutschland. Anscheinend kann das aktuelle Jugendhilfesystem für Jugendliche in besonderen Lebenslagen, die auf der Straße leben, kaum akzeptable und auf deren Bedürfnisse abgestimmte Hilfsangebote bieten. In meiner Arbeit versuche ich heraus zu finden, welche unterschiedlichen Faktoren dazu beitragen, daß Jugendliche sich für ein Leben auf der Straße entscheiden. Im Mittelpunkt steht dabei für mich die Frage, weshalb die Jugendlichen nicht die Angebote der Jugendhilfe nutzen oder auch nutzen können. ‚Welche Bedingungen der Jugendhilfe schließen Straßenjugendliche aus Hilfeformen aus?‘ beziehungsweise ‚Was bietet die Straße als Lebensraum an Möglichkeiten der Lebensführung für Jugendliche?‘ sind zwei der hauptsächlichen Fragen, mit denen ich mich in meiner Arbeit beschäftigen werde. Als Ergebnis meiner Auseinandersetzung möchte ich möglichst umfangreich neue Herausforderungen und Anregungen an die Jugendhilfe und das Jugendhilfesystem herausarbeiten. Darin sollen sowohl methodische, als auch politische Reformbedürfnisse formuliert werden.

Ich beziehe mich in meiner Arbeit hauptsächlich auf einen Fundus von Studien von 1995 bis 1998, der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und , Jugend im Aktionsprogramm „Kinder und Jugendliche in besonderen Lebenslagen“ gefördert wurde. Diese Studien basieren auf vielen Befragungen unterschiedlicher Autoren, die sowohl mit Straßenjugendlichen, als auch mit ihnen arbeitenden Fachkräften gesprochen haben[1]. Desweiteren habe ich Positionspapiere verschiedener Streetworkprojekte, Dokumentationen von Fachtagungen, Zeitungsartikel diverser Fachzeitschriften und auch populär geschriebene Bücher zum Thema „Straßenkinder“ als Quellen verwendet. Ergänzend dazu nutzte ich wissenschaftliche Texte über die Sozialisation Kinder und Jugendlicher, über die Jugendphase und deren spezifische Entwicklungsmerkmale, über eine lebensweltorientierte Jugendhilfe und damit verbundene innovative Handlungskonzepte und über die allgemeine Situation und Perspektive der Jugendhilfe im Hinblick auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen.

Die Diplomarbeit ist in vier inhaltlich aufeinander aufbauende Themenbereiche gegliedert: Zunächst (2.) möchte ich einen kleinen Einblick in das Leben Jugendlicher, die auf der Straße leben, geben. Dabei stelle ich Bedingungen, die dazu führten, daß Jugendliche ein Leben ohne dauerhafte Bleibe auf der Straße, einem Leben in Familie oder Jugendhilfeeinrichtungen vorziehen, dar. Desweiteren versuche ich herauszufinden, wie das Leben auf der Straße von den Jugendlichen gestaltet wird und welche Überlebensstrategien sie nutzen, um auf der Straße zu (über-)leben.

Im Anschluß daran (3.) stelle ich die sich derzeitig mehr und mehr abzeichnenden Strukturveränderungen in der Jugend- und Sozialarbeit dar. Unter diesem Gesichtspunkt beschäftigte mich die Frage ‚Welche politischen und gesellschaftlichen Veränderungen bedingen und gestalten die Organisation, personelle Ausstattung und vor allem die inhaltlichen Schwerpunkte der Jugendhilfe und der Sozialarbeit?‘.

In Punkt 4 stelle ich die Möglichkeiten und Grenzen der Jugendhilfe für Jugendliche auf der Straße dar. Dabei werden die Aufgaben, Funktionen und Angebote der Jugendhilfe diskutiert, einige methodische Ansätze und Konzepte in der Arbeit mit Jugendlichen auf der Straße vorgestell, sowie einzelne Aspekte des Jugendhilfesystems kritisch betrachtet.

Der letzte Punkt (5.) umfaßt ein breit entwickeltes Spektrum an Reformbedürfnissen auf verschiedenen, die Jugendhilfe betreffende, Ebenen. Ich habe mich dafür entschieden, dieses Thema mit in meine Arbeit einzubeziehen, da die Jugendhilfe unter anderem in politischer Hinsicht noch nicht ausreichend die Möglichkeiten nutzt. Durch eine sachliche Darstellung könnte beispielsweise in der Öffentlichkeit für mehr Toleranz, Offenheit und politische und gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Jugendlichen auf der Straße geworben werden.

Abschließend ergänze ich die aus der Literatur herausgearbeiteten Ergebnisse durch eigene Anregungen und Gedanken.

LeserInnen meiner Arbeit werden feststellen, daß ich sehr parteilich für die Jugendlichen positioniert bin. Ich habe in diese Arbeit auch einige persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse aus Gesprächen mit einfließen lassen. In meinem Praktikum arbeitete ich 6 Monate in einem innovativen Hausprojekt in Berlin Mitte mit minderjährigen, längerfristig auf der Straße lebenden Jugendlichen und machte dort viele eindrucksreiche Erfahrungen. Daraus gewonnene Erkenntnisse und Anregungen habe ich zu einem Bestandteil dieser Arbeit gemacht.

Zum Schluß noch eine Anmerkung zum leichteren Lesen der Arbeit: Inhalte, die ich für wichtig oder bedeutsam hielt, habe ich fett markiert. Zitate oder von anderen Autoren übernommene Bezeichnungen sind kursiv gekennzeichnet.

2. Lebenswelt Straße – eine Beschreibung

„Zuerst nur ein paar abgebrochene Zweige und niedergetretene Grashalme. Bald darauf eine Fährte, ein Pfad. Dann, nach erstaunlich kurzer Zeit wird aus dem Weg eine Straße.“ (Maxwell G. Lay, In: Lutz 1999, S.62/ 63)

Nicht erst in heutiger Zeit gerät die Straße als Lebensraum in den Blickpunkt öffentlicher Diskussionen. Das Thema Jugendliche oder sogar Kinder auf der Straße wird in der Öffentlichkeit nach Meinung von Stickelmann (1999) geprägt von der Darstellung in den Medien. Eine sachliche Auseinandersetzung oder realistische Darstellung von tatsächlich stattfindenden Lern- und Erfahrungsprozessen der Jugendlichen, erfolgt jedoch kaum. Die Medien erwecken in der Öffentlichkeit den Eindruck, daß die Eltern ohnmächtig gegenüber der Entscheidung ihrer Kinder zum Leben auf der Straße sind und die Erziehung mit diesen Kindern am Ende ist. Auch in der Literatur finden sich ganz unterschiedliche Schwerpunkte und inhaltliche Darstellungen, die versuchen, die Lebenswelt Jugendlicher auf der Straße zu erforschen. Bei meiner Suche nach aussagekräftiger Literatur habe ich festgestellt, daß seit 1995 eine zunehmende Erforschung der Ursachen und Hintergründe für die „Problematik Straßenkinder“ stattfand. Bis 1996 dominierten populär geschriebene Bücher über ‚Straßenkinder‘[2]. Einer der „Urväter“ deutscher Autoren, der sich methodisch mit Jugendlichen, die auf der Straße leben, beschäftigte, war Werner Steffan[3].

Zunächst möchte ich jedoch, anhand einer begrifflichen Diskussion, einen kurzen geschichtlichen Rückblick auf das sogenannte Phänomen ‚Straßenkinder‘ darlegen. Dabei wird der Wandel vom kurzfristigen Ausreißen hin zum langfristigen Verbleib auf der Straße deutlich. Im Anschluß daran versuche ich einen Einblick in den Alltag und das Leben auf der Straße zu geben - welche Lebensstrategien machen sich die Jugendlichen zu Nutze, um für sich zu sorgen; welche Fähigkeiten entwickeln sie dafür und wie gestaltet sich das Straßenleben? Im Anschluß daran komme ich auf mögliche Ursachen oder Faktoren zu sprechen, die dazu führen können, ein Leben auf der Straße als einzigen Ausweg zu suchen. Der Beginn, Verlauf und die Phasenhaftigkeit eines vielgesichtigen Lebens auf der Straße werden dabei ebenso beleuchtet.

2.1. Begriffsdiskussion ‚Straßenkinder‘

Ich habe bis jetzt die Bezeichnung „ Jugendliche, die auf der Straße leben “ verwendet. Gemeint sind hiermit Jugendliche, die sich mehr und mehr von ihren Familien bzw. ähnlichen Sozialisationsinstanzen abwenden und ihren Lebensmittelpunkt , sowie ihre sozialen Bezüge zur Straße hinverlagern. Diese Bezeichnung konzentriert sich vor allem auf Jugendliche, die in Innenstädten und Bahnhofsbereichen ihren Hauptanlaufpunkt haben. Ergänzend dazu sind jedoch auch die sich in Großstädten entwickelnden Stadtteilszenen von Jugendlichen zu nennen. Diese haben ebenfalls eine erhebliche Distanz zu Schule, Familie, Ausbildung und einer geregelten Arbeit[4].

In der wissenschaftlichen Literatur sind sich die Autoren größtenteils einig darüber, daß es sich bei Straßenkinder n‘ in der Regel (bis auf einige Ausnahmen) um Jugendliche im Alter ab 14 Jahre aufwärts handelt, wobei der Anteil junger Erwachsener in Zukunft zunehmen wird[5]. Laut Untersuchungen steigen die meisten Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren in ein Straßenleben ein[6]. Permien und Zink sprechen von „ Jugendliche n mit Straßenkarrieren “. Der Begriff ‚Karriere‘ steht hier für die unterschiedlichen Entwicklungsphasen Jugendlicher im Hinblick auf ihre Lebensgeschichte, die aus einem Prozeß ständiger Entscheidungs- und Wendepunkte besteht und unter anderem zu einem Leben auf der Straße geführt hat (ausführlich hierzu in: Permien/ Zink 1998, S.26 ff.).

Jogschies führt dazu aus, daß sich potenzielle Straßenkarrieren aufgrund der Vorgeschichten und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen schon in einem sehr frühen Alter entwickeln. Ausschlaggebend für diese Formulierung der „Vorgeschichte“ ist nicht das vollständige Leben auf der Straße, sondern der von der Dauer und Häufigkeit steigende Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen auf der Straße[7].

In älteren Quellen finden sich Bezeichnungen, wie AusreißerInnen, TrebegängerInnen[8] und Weggelaufene (vgl. Jordan/ Trauernicht 1988). Als „AusreißerInnen“ werden hier Kinder und Jugendliche bezeichnet, die oft nur kurzfristig aus dem Herkunftssystem weglaufen und damit ein Signal setzen wollen.[9] „TreberInnen“ sind Kinder und Jugendliche, die „aus massiven Konfliktlagen heraus aus den ihr Leben bestimmenden Sozialisationsinstanzen ausbrechen und in der Regel ohne festen Wohnsitz und ohne regelmäßige Einkünfte eine häufig illegale Existenz“ führen (aus: Jordan/ Trauernicht 1981 S. 8/19).

Der Begriff „TreberInnen“ ähnelt dem des „Straßenkindes“[10]. Permien und Zink beschreiben „Straßenkinder“ als Kinder und Jugendliche, die sich schrittweise, meist nicht von heute auf morgen, von den gesellschaftlich für sie vorgesehenen Sozialisationssystemen (wie Familie, Schule, Ausbildung u.ä.) entfernen, beziehungsweise von diesen ausgegrenzt werden. Folgen sind drohende Obdachlosigkeit beziehungsweise „Pendel“ - Aufenthalte zwischen Eltern und der jeweiligen Szene[11].

Degen (1995, S. 18) verwendet den Begriff ‚Straßenkind‘, um die nach seiner Meinung bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen den in Industrieländern und den in armen Ländern lebenden Kindern und Jugendlichen zu verdeutlichen. Degen und Langhanky sehen Gemeinsamkeiten in den Bedingungen, die unter anderem dazu beitragen, daß Kinder und Jugendliche auf der Straße leben (vgl. Degen 1995; Langhanky 1993). Genannt werden hier die soziale Situation, die Aktionsraüme und die sozialen Bezüge. Pfennig kritisiert an der Verwendung des Begriffs ‚Straßenkinder‘ die „Mitleid erregende Wirkung“ (Pfennig, 1996, S. 13), welche von den Medien bevorzugt genutzt wird. Sie gebraucht jedoch diese Bezeichnung weiter in ihrem Buch und faßt ihn als „Oberbegriff für einen Personenkreis ... dessen Heterogenität hinsichtlich vielfältiger Lebensbelastungen bestimmt wird“ zusammen (ebd.). Jogschies sieht in der Bezeichnung ‚Straßenkind‘ ein Signal für einen „jugendpolitischen und jugendhilfepolitischen Handlungsbedarf“ (Jogschies 1998, S.195).

In den wissenschaftlichen Ausarbeitungen habe ich noch eine Vielzahl ausführlicher Diskussionen und Ausführungen gefunden, die sich mit einer sehr differenzierten Begriffsklärung über Straßenkinder auseinander setzen.[12] Mein Interesse liegt jedoch nicht darin, einen Schwerpunkt auf die begriffliche Bestimmung von ‚Straßenkindern‘ zu legen, da dies anscheinend auch den vielen Autoren nicht ausreichend, beziehungsweise nur annähernd, gelungen ist. Die Vielfältigkeit der Lebensbedingungen auf der Straße machen eine Festlegung auf bestimmte Definitionen schwer. Meiner Meinung nach ist eine Auflistung bestimmter Typen von ‚Straßenkindern‘ über kurz oder lang nicht mehr aktuell und somit auch nicht hilfreich für das Verständnis der Problematik und die Arbeit mit Jugendlichen, die auf der Straße leben. Die Straße als Lebensraum für Jugendliche unterliegt ständig wechselnden Bedingungen, die neue „Typen“ von ‚Straßenkindern‘ hervorbringen.

Ich werde im weiteren Verlauf meiner Arbeit die Bezeichnung „ Jugendliche, die auf der Straße leben “ oder auch „ Straßenjugendliche “ verwenden – letztere Bezeichnung auch nur als Vereinfachung durch die Kürze der Formulierung.

Abschließend möchte ich noch eine persönliche Erfahrung dazu einbringen: In meinem Praktikum mit Straßenjugendlichen in Berlin Mitte, habe ich kaum von den Jugendliche n gehört, daß sie sich selbst als ‚Straßenjugendliche‘ und schon gar nicht als ‚Straßenkind‘ bezeichnet haben. Sie identifizieren sich mit einer speziellen Gruppierung der Straßenszenen, zum Beispiel denen der Punks und bezeichnen sich selbst auch so (vgl. auch Permien/ Zink 1998, S.223).

2.2. Alltag und Überlebensstrategien

Ich habe in der Literatur sehr unterschiedliche Ansatzpunkte für die Beschreibung vom ‚Leben auf der Straße‘ auf der Straße gefunden. Diese sind jedoch auch nur Versuche, die annähernd Lebensbedingungen und –situationen von Straßenjugendlichen beschreiben können. Das Straßenleben stellt so vielfältige Anforderungen und Bedingungen individuell für jeden einzelnen Jugendlichen, daß eine allgemeine Darstellung nicht realistisch ist[13]

2.2.1. Szeneorte und Straßenszenen

Szeneorte

Vor allem Innenstädte, deren öffentliche Plätze und Bahnhöfe sind Orte an denen sich unterschiedliche Jugendszenen finden - unter anderem auch verschiedene Straßenszenen. Der Bahnhof als Anlaufpunkt bietet Jugendlichen die Möglichkeit, sich Informationen zu Schlafplätzen, Hilfs- und Unterstützungsangeboten und andere lebenspraktische Dinge, zu holen. Häufig sind an diesen bekannten Plätzen SozialarbeiterInnen und auch andere Jugendliche zu finden, die Informationen zu eben genannten Bereichen austauschen. Aber nicht nur der Bahnhof bietet als Szeneort Kontaktmöglichkeiten. Die zentrale n Plätze der Innenstädte (beispielsweise U- und S- Bahnhöfe, Fußgängerzonen, Einkaufsstraßen und -gebäude) bieten neben sozialen Kontakten die Chance, sich Geld zu verdienen (‚Schnorren‘). Permien und Zink bezeichnen deshalb diese Plätze als „Präsentierfläche“ (Permien/ Zink 1998, S. 225), die vor allem tagsüber von den Jugendlichen genutzt wird. Die City ist ein „offener Ort“, der sehr belebt und unüberschaubar ist. Dadurch wird Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet, sich zu verstecken und sich zurückzuziehen. Einkaufspassagen und Bahnhöfe dienen bei schlechtem Wetter als Unterschlupf oder auch zum Aufwärmen. Die Anbindung an öffentliche Verkehrsmitteln erleichtert die An- und Abreise der Jugendlichen und gewährleistet, daß Passanten vorbeikommen, die sie zum Beispiel um Geld bitten (vgl. Permien/ Zink 1998, S. 225 ff).

Aber auch die Nähe zu Gleichgesinnten, das Erzählen und Zeit verstreichen lassen und das Beobachten anderer vorbeigehender Leute sind wichtige Gründe für die Anwesenheit Jugendlicher (und dabei nicht nur die, die bereits auf der Straße leben) an zentralen Plätzen der Innenstädte und Bahnhöfe. Die Jugendlichen probieren sich in den öffentliche n Räume n aus und versuchen dabei Identität und Lebenssinn zu gewinnen (ebd.).

Zinnecker spricht von der „Doppelseite des Straßenlebens“ (Zinnecker 1998, S.112): Kinder und Jugendliche lernen gleichzeitig die Rolle des Käufers, Konsumenten und Verkehrsteilnehmers, sowie die Rolle „der verpönten Straßenexistenz als Pöbel, Publikum, Stadtstreicher und Vagabunden“. Die Jugendlichen balancieren zwischen diesen gegensätzlichen Rollenzuschreibungen, was für Erwachsene irritierend und beunruhigend ist.

Ich habe bis jetzt die Orte beschrieben, an denen sich die Jugendlichen häufig tagsüber aufhalten. Über die Möglichkeiten, wo sich die Jugendlichen nachts beziehungsweise abends aufhalten, habe ich in der Literatur nicht sehr viele Angaben gefunden. Wenn die Jugendlichen keinen Schlafplatz bei Freunden, Bekannten, Freiern oder anderen Personen haben, greifen sie mitunter auf Notschlafplätze in Jugendhilfeeinrichtungen zurück (in vielen Städten werden diese Einrichtungen als ‚ Sleep In ‘ bezeichnet; diese haben eine unterschiedlich hohe Anzahl von Schlafplatzberechtigungen[14] im Monat für die Jugendlichen). Vor allem in den Wintermonaten wird diese Möglichkeit häufiger genutzt. Im Sommer nächtigen einige Jugendliche in Parks und Grünanlagen. Im Vergleich zu früher ist dies jedoch aufgrund der Angst vor Überfällen oder auch Polizeikontrollen weniger geworden ist (vgl. Permien/ Zink 1998, Hansbauer 1998).

Trotz der Räumung vieler besetzte r Häuser in Großstädten, finden die Jugendlichen immer noch leerstehende Häuser und Wohnungen, teilweise auch verlassene Bauwagen, die sie über kurze (aufgrund von Räumungen) oder längere Zeit für sich als Obdach nutzen[15]. Da auf Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen verstärkt private Sicherheitsdienste die Jugendlichen vertreiben, können sie auch dort nicht bleiben. Einige kehren in unregelmäßigen Zeitabständen nach Hause zurück, um dort zu übernachten (siehe auch in Punkt 2.4.3).

Straßenszenen[16]

Cliquen und Straßenszenen haben eine große Bedeutung für die Ausbildung von Identität. Jugendliche erfahren hier Anerkennung, Sicherheit, Status, Emotionalität und entwickeln nach und nach ihre Identität (vgl. Steffan 1989). Aus der Jugendforschung kommen diesbezüglich folgende Erklärungen[17]:

- Jugendliche werden früh soziokulturell selbständig und suchen auch diese Unabhängigkeit. Zugleich bleiben sie jedoch länger wirtschaftlich von ihren Eltern abhängig.
- Um ihre soziokulturelle Unabhängigkeit ausleben zu können, suchen Jugendliche nach Orten, wo sie Cliquen bilden, Szenen antreffen und existentielle Probleme gemeinsam bewältigen können.
- Einhergehend mit der Ungewissheit über ihre Zukunft (durch mangelnde Ausbildungs- und Arbeitsplätze) suchen Jugendliche nach Abenteuer, Abwechslung, Erlebnis und Selbstexpression. Sie brauchen sowohl diese Möglichkeiten der Erlebnisfülle, um die Gegenwart für sie (er-)lebbar zu machen, als auch ein unterstützendes offenes Angebot zur täglichen Lebensbewältigung.

Permien und Zink versuchen die unterschiedlichen Szene- Erscheinungsbilder oder auch -gruppierungen darzustellen. Sie unterscheiden dabei in sichtbare und unsichtbare Straßenjugendliche[18]. Zu den sichtbaren zählen demnach Jugendliche aus der Punkszene und auch Jugendliche, „deren Verelendung und körperlicher Verfall durch starken Drogen- oder Alkoholkonsum unübersehbar ist (ebd. S. 222). Daneben gibt es aber auch Straßenjugendliche, welche sich unauffällig kleiden und ihren Zustand tarnen. Sie sind bemüht nicht auf den ersten Blick oder durch ihr Verhalten als Straßenjugendliche/r entlarvt zu werden. Dadurch wollen sie sich vor Eingriffen der Polizei und privaten Sicherheitsdiensten an öffentlichen Plätzen schützen.

Die „Ersatzfamilie“ auf der Straße

„man bekommt von dem einen wenig, von der anderen viel, nie alles von einer Person und nicht von allen das Gleiche “ (Zitat einer Jugendlichen; In: Sax 1999, S.44).

Dieses Zitat umschreibt Beziehungserfahrungen Jugendlicher, die versuchen in ihrer erwählten Gruppe oder Szene Gefühle zuzulassen, zu erleben aber auch das Gegenteil davon. Gefühlskälte, Unsicherheit sich jemanden anzuvertrauen, widersprüchliche Wünsche und Verhaltensweisen in der Gruppe, Unverständnis der eigenen Person durch andere Gruppenmitglieder und auch Konkurrenz sind alltägliche Auseinandersetzungen der Jugendlichen. Die soziale n Kontakte zwischen Straßenjugendlichen entwickeln sich zum einen zwangsläufig als eine Form der Überlebensstrategie, um sich nicht alleine durchschlagen zu müssen. Zum anderen aus dem Bedürfnis nach Liebe, Anerkennung und emotionaler Nähe[19] heraus. Die Erwartung eine Art Ersatzfamilie in Freunden auf der Straße zu finden, erfüllt sich in der Realität häufig nicht. Permien und Zink fanden heraus, daß der harte Alltag auf der Straße mit den belastenden Anforderungen zum (Über-) Leben dazu führt, daß Konkurrenz untereinander entsteht. Teilweise kommt es dazu, daß sich die Jugendlichen untereinander berauben, erpressen, verprügeln und bedrohen (vgl. Permien/Zink 1998, S.277).

Neuankömmlinge werden trotz allem nicht abgelehnt oder ausgeschlossen. In der Zugehörigkeit zu ihrer Szene erleben Jugendliche etwas, daß vergleichbar mit den Sozialisationserfahrungen in der Familie ist. Sie lernen durch andere Jugendliche in der Szenegruppe. Diese haben teilweise ähnliche Erlebnisse und Erfahrungen, wie sie selbst gemacht, und vermitteln häufig die Fähigkeiten und Kenntnisse,die sie brauchen, um auf der Straße leben zu können[20]. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt sich durch den Leidensdruck, die alltäglichen Erlebnisse und Anforderungen, sowie durch die Hoffnung eine – wenn auch kleine - emotionale Stütze[21].von den anderen zu erhalten.

2.2.2 Legale Lebensbewältigungsstrategien

Laut Befragungen von ExpertInnen durch die Projektgruppe 1995 (vgl. Jogschies 1998, S.201 ff.) haben Jugendliche, die auf der Straße leben, für die Beschaffung von Geld und Lebensmitteln folgende legale Ressourcen:

Sie nutzen soziale Hilfseinrichtungen, wie zum Beispiel Suppenküchen, Kleiderkammern, Notschlafstellen und Tagestreffs. Das Informationsnetz Ihres Freundes- und Bekanntenkreises bietet ihnen Adressen und Informationen wo sie Nahrung und Unterkunft gewährt bekommen. Nach Jogschies machen sich die Jugendlichen den „guten Willen“ (ebd.. S.201) des sozialen Umfeldes nutzbar. Dabei ist die Häufigkeit und Güte der in Anspruch genommenen Hilfen nicht unbegrenzt[22].

Desweiteren wird es für die Jugendlichen immer schwieriger, ihren finanziellen Bedarf über das Schnorren abzudecken, da die Freigiebigkeit der Bevölkerung immer stärker abnimmt Steigende Preise und weniger Toleranzbereitschaft gegenüber jugendlichen Randgruppen sind Gründe hierfür.. Gleichzeitig verringern sich die Chancen dieser Jugendlichen auf Gelegenheitsjobs und Schwarzarbeit als kurzzeitige Geldquelle[23]. Durch diese können Jugendliche zwar keine gesicherte Existenz aufbauen, jedoch das aktuelle Überleben auf der Straße sichern.[24] Normale Ausbildungs- und Arbeitsplätze stehen den Jugendlichen kaum beziehungsweise gar nicht zur Verfügung, da die wenigsten von ihnen eine abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung haben. Dadurch fällt es den Jugendlichen schwer, in eine gesellschaftlich akzeptierte Lebensform zurückzukehren - tendentiell werden sie und fühlen sie sich ausgegrenzt. Jogschies schrieb dazu: „Es scheint, daß die Gesellschaft die Nischen, Gelegenheiten und Ressourcen, in denen solche entwurzelten Kinder und Jugendliche überleben können, selbst vorgibt bzw. verweigert“ (Jogschies 1998, S.208).

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2.2.3 Illegale Lebensbewältigungsressourcen

Demzufolge erschließen sich die Jugendlichen nicht legale Möglichkeiten der finanziellen Versorgung - Diebstahl/ Raub, Drogenhandel und Prostitution. Größtenteils handelt es sich hier um Gelegenheitsstraftaten (Kleindiebstähle in Form von Nahrung und Kleidung aus Kaufhäusern und Märkten, spontane kleine Raubüberfälle in Form von Handtaschendiebstählen und ähnliches). Das Erbeutete wird für sich selbst, für Freunde oder auch zum Verkauf an Bekannte verwendet. Beim Handel mit Drogen werden die Jugendlichen als Botengänger, Vermittler und Überbringer von illegalen Drogen durch organisierte Drogendealer engagiert (vgl. hierzu weitere Ausführungen in Jogschies 1998, S.203 ff).

Vor allem in den alten Bundesländern nutzen viele Straßenjugendliche die Möglichkeit sich durch Prostitution Geld zu verdienen. Sie verkaufen ihren Körper zur sexuellen Befriedigung der Freier und auch für die Pornographie. Durch ihre finanzielle Notlage sind die Jugendlichen gezwungen, ihre Körper als Ware anzubieten. Um dies erträglicher zu machen gebrauchen sie Drogen und drohen in den Teufelskreis der Sucht zu geraten, die sie wiederum über die Prostitution finanzieren (vgl. Jogschies 1998). Manche Freier bieten den Jugendlichen Schlafplätze, auch ohne körperliche Befriedigung, an. Männliche Stricher suchen häufig im sexuellen Kontakt eine Art Ersatz der schwachen Vaterfigur[25].

2.3 Entscheidung für die Straße – Ursachenforschung

Warum sich Jugendliche für ein Leben auf der Straße entscheiden, dort verbleiben beziehungsweise versuchen auszusteigen, ist von sehr vielfältigen Faktoren abhängig, die im Einzelfall sehr unterschiedlich aussehen und kombiniert sein können (Jogschies 1998). Die Projektgruppe 1995 hielt folgende als wesentlich genannte Faktoren, die Straßenkarrieren bedingen, in ihrer Untersuchung fest:

- Die bisherige Lebenssituation und der soziale Hintergrund (Familie, Bezugspersonen- näheres in 2.3.1),
- das Einstiegsalter (wie bereits in Punkt 2.1 erwähnt entscheiden sich die Jugendlichen hauptsächlich im Alter von 14 bis 16 Jahren für den Einstieg ins Straßenleben),
- das Geschlecht und die Nationalität (vgl. Projektgruppe 1995 S.139 ff.),
- die Art der Gruppe oder Szene in denen sich die Jugendlichen aufhalten und wie sie deren Gelegenheitsstruktur nutzen (vergleiche auch 2.3.3 ‚Sogwirkung der Szene‘),
- die Angebote und Rückmeldungen der Jugendhilfe (Ausführungen hierzu in 2.3.4 ‚Erfahrungen mit der Jugendhilfe‘),
- die öffentliche Aufmerksamkeit, die unter anderem durch „beschönigende“ Berichte (Abenteuerlust, Freiheit der Straße) das Interesse bei anderen Jugendlichen wecken und
- gesellschaftlich bedingte Faktoren, die eine soziale (Re-)Integration erschweren (vgl. 2.3.2 Gesellschaftliche Bedingungen).

2.3.1 Familienstrukturelle Bedingungen

In Untersuchungen verschiedener Autoren über mögliche Ursachen für Straßenkarrieren, wurde festgestellt, daß bei einer Vielzahl von Jugendlichen instabile und unvollständige Familien- und Beziehungsverhältnisse und damit einhergehende frühe Scheidungs- und/oder–Trennungserfahrungen tiefgreifende Veränderungen für die in diesen Konstellationen aufgewachsenen Kindern und Jugendlichen bedeuteten. Dauerhafte und konstante Beziehungen und Bindungen, sowie das Vorhandensein beider (leiblicher) Elternteile, waren in den Lebensgeschichten vieler Straßenjugendlicher eher die Ausnahme[26]. Die in solchen Verhältnissen aufwachsenden Kinder bleiben nach Trennung der Eltern in der Regel bei der Mutter und erleben, daß ein neuer Partner an die Stelle des vergangenen tritt. In der Biographie der Jugendlichen finden sich, nach Hansbauer, auch häufig Erfahrungen vom Verlust einer engen Bezugsperson durch Tod. Die fehlende familiäre Einbindung führt dazu, daß Kinder und Jugendliche verstärkt Zuflucht auf der Straße suchen[27].

Die Familie als Sozialisationsinstanz verliert für Kinder und Jugendliche immer mehr an Bedeutung – Normen und Werte werden verstärkt durch Gruppen oder Szenen zu denen sie sich zugehörig fühlen und durch Medien vermittelt (vgl. Lutz 1999, S.41 ff.).

Als weitere familienstrukturelle Faktoren fanden Hansbauer, Permien und Zink heraus, daß Straßenjugendliche häufig aus Haushalten mit unterdurchschnittlichen Einkommen und weniger formal hohen Bildungsabschlüssen der Eltern kommen. Desweiteren belegen mehrere Studien den Zusammenhang von Armut mit deren Auswirkungen auf das erzieherische Verhalten der Eltern, die oftmals weniger konfliktfähig und einen eher kontrollierenden und einengenden Erziehungsstil bevorzugen[28]. Kinder sind nach Übereinkunft mehrere Studien die Bevölkerungsgruppe, die am häufigsten von Armut bedroht ist[29].

Das Leben in Armut beinhaltet ein Leben in sozialen Brennpunkten, ein niedriges Konsumniveau und - im Falle der Berufstätigkeit - eine unregelmäßige Betreuung und eine Doppelbelastung für die Eltern[30]. Psychosoziale Belastungen in der Familie äußern sich durch unbefriedigte emotionale Zuwendung. Teilweise sind psychische und physische Gewaltanwendung oder Mißbrauch in unterschiedlichen Formen Erfahrungen, die einige Jugendliche vor dem Einstieg ins Straßenleben machen (vgl. Möller/ Radloff 1998). Permien und Zink beschreiben Beziehungserfahrungen der Jugendlichen, welche unter einem unklarem und teilweise widersprüchliche n Erziehungsverhalten der (Stief-)Eltern aufwuchsen. Eine verläßliche, vertrauensvolle Eltern- Kind- Beziehung konnte sich durch die unkalkulierbaren Wechsel zwischen Ablehnung und Zuwendung nicht entwickeln.

Vernachlässigung, Gleichgültigkeit und Demütigungen durch Strafen erlebten viele Jugendliche in ihren Herkunftsystemen (vgl. Permien/ Zink 1998, S. 111ff.). Ursache für dieses Elternverhalten sind, nach Dücker, die schwierigen, frustrierenden und als aussichtslos erlebten Lebensbedingungen, die als Erfahrungen an die Kinder weiter gegeben werden. Dadurch entwickeln diese das Bedürfnis nach einer alternativen Orientierung zu an noch nicht erlebten Erwachsenenbeziehungen (vgl Dücker 1999, S.17ff.). Eine Folge dieser Beziehungserfahrungen ist die mangelnde Fähigkeit der Jugendlichen Schuldgefühle oder Loyalitäten zu entwickeln (siehe in Klatetzky 1994, S.12).

Häufig finden sich in Herkunftsfamilien mindestens ein Elternteil mit tendenziell hohem Alkohol- bzw. Drogenkonsum. Permien und Zink bezeichnen dieses Suchtverhalten der Eltern als „Modell der inneren Flucht“, worauf die Jugendliche in ihrem weiteren Leben oft auch zurückgreifen[31].

2.3.2 Gesellschaftliche Bedingungen

Laut Thiersch finden wir gegenwärtig eine „ Pluralisierung “ in der Gesellschaft vor. Das bedeutet, daß eine Vielfalt von Lebenswegen möglich ist, die jeder einzelne individuell für sich wählen kann (vgl. Thiersch 1992, S. 21ff.). Grundsätzlich ist diese Individualisierung positiv, da dadurch jedem einzelnen ein freies und selbstgestaltetes Leben offen steht[32]. Gleichzeitig birgt jedoch diese Chance auch das Risiko der Überforderung. Eine individuelle Lebensgestaltung wird beeinflußt von „... ungleichen äußeren Abhängigkeiten und Bedingungen ... [und von] ungleich verteilten materiellen und sozialen Ressourcen“ (Rauschenbach 1992, S. 41).

Eine Festlegung der Lebensplanung und Lebensentwürfe ist in der heutigen Wohlstands- und Leistungsgesellschaft nicht mehr möglich –‚flexibel und mobil muß man heute sein‘[33]. Schnelle Veränderungsprozesse basieren auf theoretischen Fortschritten und Wissenszuwachs. Die soziale Situation ist eine Folge der Entwicklung von Gesellschaft, Technologie und Zivilisation. Zunehmende Armut und sich verringernde Ressourcen sozialstaatlicher Absicherung gefährden die zukünftige Akzeptanz eines Sozialstaates durch die Gesellschaft (weiterführende Aussagen In: Beck 1986).

Diese gesellschaftlich veränderten Rahmenbedingungen beeinflussen die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen. Sie sind konfrontiert mit einer Vielfalt von Lebensstilen, Trends, Moden und Normen. Eine freie Lebensführung Kinder und Jugendlicher ohne ausgegrenzt zu werden ist nur dann möglich, wenn sie bereit sind, sich schulischen Anforderungen zu stellen (vgl. IGFH 1992 S.168 ff.). Vermehrte Wahlmöglichkeiten zur individuellen Lebensführung bieten jungen Menschen die Möglichkeit, sich frei für einen der Lebenswege zu entscheiden, wobei sie jedoch gleichzeitig unter dem Zwang stehen „etwas aus sich zu machen“ (IGFH 1992 S. 181). Da Jugendliche frühzeitig eigene Entscheidungen treffen müssen, entwickeln einen zunehmenden Orientierungsbedarf. Gleichaltrige mit ähnlichen Schwierigkeiten dienen als Orientierung.

Der Einfluß von Wohlstand bringt für Jugendliche höheres Taschengeld mit sich – die Konsumorientierung nimmt zu. Eine Folge dieser Entwicklung ist die schon frühzeitig beginnende Verschuldung. Die Spanne zwischen arm und reich wird dabei immer größer (ebd.).

2.3.3 Sogwirkung der Szene

In heutiger Zeit ist es für Jugendliche nicht schwer Möglichkeiten zum Anschluß an Jugendgruppen oder- Szenen zu finden (vgl.Hansbauer/ Permien/ Zink 1997). Es gibt mehr attraktive Alternativen, die Jugendliche, wenn sie von zu Hause oder aus Jugendhilfe- Einrichtungen geflohen sind, für sich nutzen. Bahnhofs- und Cityszenen stellen einen zentralen Flucht- und Überlebensraum dar. Hier können Jugendliche leichten Zugang finden und brauchen keine langen Aufnahmerituale über sich ergehen lassen. Durch die Aufnahme in eine Szene wird den Jugendlichen der Zugang zu bestimmten Gefährdungen eröffnet (zum Beispiel Drogenkonsum und –Handel, kriminelles Verhalten, Prostitution...), die das abweichende Verhalten der Jugendlichen verstärken . „So werden dann die ersten Kontakte zur Szene oftmals zum Auslöser für ein Verhalten, daß durch die eigene Entwicklung als Möglichkeit längst vorbereitet war“ (Hansbauer 1998, S. 47 und ff.). Erlebnisarmut im sozialen Umfeld des Herkunftssystems bringt Jugendliche dazu, Abenteuer und Spannung an anderen Orten zu suchen. Riskantes Verhalten wird als Ausdruck von Freiheit ausprobiert (vgl. Becker 1995 S. 33-45)[34].

2.3.4 Erfahrungen mit der Jugendhilfe

Permien und Zink fanden heraus, daß die Jugendhilfe in fast allen Lebensphasen von Straßenjugendlichen eine Rolle spielte, das heißt: vor, bei Beginn und während des Straßenlebens (vgl. Permien/ Zink 1998, S. 331 ff.).

In der Zeit bevor Jugendliche flüchteten, wirkte der ASD (Allgemeine Sozialpädagogische Dienst) oder auch das Jugendamt vor allem in Fragen der Sorgerechts- Regelung. Fremdplazierungen wurden dagegen selten befürwortet, da das Jugendamt zunächst Alternativen in Form von ambulanten, familien- unterstützenden Maßnahmen anbietet (Hansbauer 1998, S. 40ff.). Teilweise wurden Jugendliche auch dann nicht fremdplaziert, wenn sie mehrmals von zu Hause flüchteten und gegen ihren Willen wieder zur Familie geschickt wurden. Oftmals waren problematische Familienverhältnisse dem Jugendamt bekannt, jedoch wurden wenig kontinuierliche und wirksame Hilfen angeboten (vgl. Permien/ Zink 1998 S.332).

Präventive Eingriffe können eher selten erfolgen, da häufig die problematische und konfliktreiche Familiensituation zu spät bekannt wird. Andere Erziehungseinrichtungen der Kinder und Jugendlichen (wie Kita, Schule) arbeiten kaum mit der Jugendhilfe zusammen und werden nicht als Frühwarner aktiv (Permien/ Zink 1998)[35]. Ein Grund hierfür sieht Blandow in der Einstellung dort tätiger Pädagogen „daß gewisse Probleme normal sind“ (vgl. Blandow 1996 S.179).

Ist die Notwendigkeit einer Fremdplazierung offensichtlich, dauert es oft lange bis eine stationäre Jugendhilfemaßnahme in einem Heim oder einer Wohngemeinschaft gefunden ist beziehungsweise die Kostenübernahme bewilligt wurde (Hansbauer 1998).

Die Jugendlichen halten sich, wenn sie ins Straßenleben eingestiegen sind, nicht ausschließlich in der Szene auf, sondern kehren zeitweise zu ihren Familien zurück oder versuchen im Rahmen der Jugendhilfe in Jugendeinrichtungen zu kommen. Häufig sind diese Hilfen jedoch unzureichend für die Bedürfnisse der Jugendlichen oder aber zu hochschwellig in Bezug auf die persönlichen Voraussetzungen der Jugendlichen, so daß die Einrichtung selbst eine (Weiter-)Betreuung ablehnen (Permien/ Zink 1998). Aufgrund mangelnde r Angebote der Jugendhilfe werden Maßnahmen nur widerwillig und mit viel Überredungskunst der SozialarbeiterInnen im Jugendamt von den Jugendlichen angenommen. Kommt es dann zu Konflikten oder Krisen in den Maßnahmen, erleben die Jugendlichen ein Verschieben in eine andere Maßnahme. Fehlende Problemsicht und mangelnde Orientierung an den Bedürfnissen und Lebenswelten der Straßenjugendlichen führen immer wieder zu Abbrüchen von Jugendhilfe- Maßnahmen und tragen dazu bei, daß die Straße als einziger Ausweg gewählt wird. Die Jugendlichen entwickeln aufgrund negative r Erfahrungen Mißtrauen gegenüber Helfern, die vorgeben sie zu verstehen und ihnen helfen zu wollen.

Hinzu kommt, daß sie sich wenig im Jugendhilfesystem auskennen und somit nicht wissen, welche Hilfsangebote möglich sind. Dadurch erleben Jugendliche das Jugendamt als „anonyme Macht, die ihrem Schicksal und ihren Bedürfnissen relativ gleichgültig und verständnislos gegenübersteht“ (Hansbauer 1998 S. 46)[36].

2.4 Entwicklungsverläufe von Straßenkarrieren

Permien und Zink untersuchten bei ihren Forschungen die Frage wie ‚Straßenkarrieren‘ beginnen, welche Motive und Strategien sich dahinter verbergen und wie die Entwicklung im weiteren Verlauf des Straßenlebens aussieht. Ihre Untersuchungen basieren auf Befragungen von Jugendlichen und sogenannten ExpertInnen, die mit Straßenjugendlichen arbeiten[37]. Im folgenden werden die Ergebnisse der Forschungen dargestellt. Dabei wird die Entwicklung von ersten Fluchten hin zu einer Verfestigung des Straßenlebens aufgezeigt. Desweiteren werden Faktoren beschrieben, die ein längerfristiges Straßenleben begünstigen.

2.4.1 Erste Fluchten

Zahlreiche Berichterstattungen der Medien erwecken den Eindruck, daß Straßenjugendliche aufgrund von Provokationen und dramatischen Belastungserfahrungen in der Familie spontan und plötzlich von zu Hause flüchten und in ein Straßenleben einsteigen.

Daneben gibt es jedoch auch die „ schleichende n “ Fluchten, die oftmals wenig Aufmerksamkeit und Beachtung bei den Eltern und auch in der Öffentlichkeit finden[38]. Kinder und Jugendliche verbringen schon in der Kindheit, im näheren Wohnumfeld der Eltern, einen Großteil ihrer Freizeit auf der Straße. Sie sammeln dort erste intensive Erfahrungen und bauen Kontakte auf. Daran knüpfen sie verstärkt ab dem Alter von 12 Jahren an. Besonders in Situationen, wo sie Frust durch die Schule/ Ausbildung oder Konflikte und belastende Familienverhältnisse erleben, ziehen sie sich in einen Bekanntenkreis auf der Straße zurück. Sie intensivieren diese Kontakte und erweitern ihren Erlebnisraum außerhalb des elterlichen Wohnumfeldes. Kommt es dann zu verstärkten Konflikte n und Krisen, reagieren diese Jugendlichen im Gegensatz zu anderen, die weiter bei den Eltern wohnen bleiben, mit der Flucht.

Durch eine Flucht erhöht sich die Distanz der Jugendlichen zur Schule und Familie. Sie erschließen sich einen neuen Freundes- und Bekanntenkreis, der oft weit entfernt vom Wohnort der Eltern angesiedelt ist.

[...]


[1] Zu diesen Autoren zählen: Jogschies, Permien und Zink, , Möbius , Hansbauer., die Projektgruppe 1995 und das ISP.

[2] Vgl. Britten 1995 und Seidel 1996.

[3] Vgl. Steffan 1989.

[4] Vgl. Permien/Zink, 1998, S.190ff.

[5] Vgl. Jogschies 1998; Permien/Zink 1998, Hansbauer 1998, Bodenmüller 2000.

[6] Vgl. Permien/Zink 1998, Hanbauer 1999.

[7] Vgl. Jogschies 1998 S.193 ff.

[8] Der Begriff ‚TreberIn‘ oder auch ‚TrebegängerIn‘ stammt aus dem Ersten Weltkrieg und wurde von Fürsorgezöglingen in Berlin gebraucht. Gemeint waren damit diejenigen unter ihnen, die aus dem Erziehungsheim entwichen und sich vor Polizei und Behörden verstecken mußten (aus: Jordan/ Trauernicht 1981, S. 18)

[9] Vgl. 2.4.1 dieser Arbeit.

[10] UNICEF unterteilt Straßenkinder weltweit in 1. Jugendliche, ‚ auf der Straße ‘, die noch Verbindung zu ihrer Familie unterhalten und 2. Jugendliche ‚ der Straße‘, die vollständig auf sich allein gestellt sind“ (aus: Buchholz 1998, S. 22)

[11] Vgl. Permien/ Zink 1998 S. 14 ff. und Punkt 2.4.3 dieser Arbeit.

[12] Uwe von Dücker verwendet eine Typologie von Straßenjugendlichen, die das Institut für Soziale Arbeit 1996 entwickelte. Dabei werden Straßenjugendliche unterschieden in die „ Ausgegrenzten“, „Auffälligen“ und die „Gefährdeten“ (In: Dücker u.a. 1999).

[13] Vgl. hierzu folgende Literaturquellen: Degen 1995, Seidel 1996, Pfennig 1996, Hansbauer 1998 und Permien/ Zink 1998.

[14] Oftmals monatlich begrenzt auf 8 Nächte, wo sie im ‚Sleep In‘ übernachten, duschen, Wäsche waschen und essen können.

[15] Vgl. Degen 1995, Seidel 1996, Permien/ Zink 1998, Hansbauer 1998.

[16] Die ‚Szene‘ beschreibt eine Gruppe von Jugendlichen, die sich nicht nur einmal trifft, sondern die sich als großen Gruppenzusammenhang begreift, bestimmte Orte nutzt und spezifischen jugendkulturell geprägten Lebensstilen nachgeht (Permien/ Zink 1998 S.219ff.).

[17] Aus Böhnisch/ Schefford 1985.

[18] Vgl. Permien/ Zink 1998, S. 222 ff.

[19] Vgl. Permien/ Zink 1998, S. 275 ff., Sax 1999 S. 44 ff.

[20] Vgl. Permien/Zink 1998 S.231ff. und Jogschies 1998, S.193ff.

[21] Vgl. Permien/ Zink 1998, Hansbauer 1998.

[22] Wie zum Beispiel schon erwähnt die Inanspruchnahme von Notschlafstellen im Sleep In.

[23] Drückerkolonnen nutzen häufig die Möglichkeit über Straßenjugendliche neue Arbeitskräfte zu bekommen, die sie dann durch Druck und starke Kontrolle nicht so einfach gehen lassen.(vgl. Jogschies 1998).

[24] Nach Jogschies werden die Jugendlichen durch moralische, soziale und juristische Wertungen immer weiter in eine Außenseiterposition gedrängt, da sie die Möglichkeit zu Gelegenheitsjobs immer weniger in Anspruch nehmen oder auch nehmen können.

[25] Weiterführende (nicht im Quellenverzeichnis aufgeführte) Literatur hierzu:

Renate Sänger/ Reiner Laschet/ Giesela Zorn-Lingnau, 1994: Kinderpornographie und Frühprostitution, In: Kind, Jugend und Gesellschaft Heft 2/94 S.43-55.

[26] Vgl. Hansbauer/ Permien/ Zink 1997, Permien/ Zink 1998, S. 103ff.

[27] Diskussionen darüber sind in Degen 1995, Pfennig 1996 und Hansbauer/ Permien/ Zink 1997 zu finden.

[28] Dies belegen unter anderem folgende Studien:

- Sabine Walper, 1995:Kinder und Jugendliche in Armut,In: Bieback/ Milz 1995 S. 181-219,
- Andreas Klocke 1996: Aufwachsen in Armut. Auswirkungen und Bewältigungsformen der Armut im Kindes- und Jugendalter, In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, Heft 16/96

[29] Weiterführende Studien zu dieser Thematik:

- Walter Hanesch u.a. 1994: Armut in Deutschland, Reinek
- Rainer Geißler 1996: Die Sozialstruktur Deutschlands zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Zwischenbilanz zur Vereinigung, Opladen
- Andreas Klocke/ Klaus Hurrelmann 1998: Kinder und Jugendliche in Armut, Opladen

[30] Ausführliche Informationen zu diesem Thema in: Klatetzky 1994 S.4 ff.

[31] Vgl. Permien/ Zink 1998 S.111.

[32] Vgl. Hierzu Thiersch 1992 und Rauschenbach 1992.

[33] Vgl. Thiersch 1992, Rauschenbach 1992 und Becker 1995.

[34] Klaus Hurrelmann beschreibt die spezifischen Entwicklungsprobleme Jugendlicher, die sich u.a. im Risikoverhalten ausdrücken, um eine Ich-Identität auszubilden in seinem Buch „ Lebensphase Jugend“ von 1994.

[35] Uwe von Dücker gibt in seinem Buch „Wir wollen mitreden!“ von 1999 Anregungen, wie zum Beispiel eine pädagogische Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe aussehen könnte, um dem Schulausschluß oder der Schulverweigerung entgegen zu wirken.

[36] Kritische Anmerkungen gegenüber der Jugendhilfe und deren Rolle in Bezug auf Straßenkarrieren mache ich in 4.6.

[37] Vgl. Projektgruppe 1995 und Permien/ Zink 1998.

[38] Vgl. Permien/ Zink 1998 S. 140ff.

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
Die Straße als Lebensraum mit wachsender Attraktivität für Jugendliche. Eine Konkurrenz für die Jugendhilfe?
Hochschule
Alice-Salomon Hochschule Berlin  (Fachbereich Sozialarbeit)
Veranstaltung
Projektseminar Methoden
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
93
Katalognummer
V1580
ISBN (eBook)
9783638109796
ISBN (Buch)
9783638908375
Dateigröße
850 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Straßenjugendliche, Krise, Abbrecher, Wegläufer, Jugend, Jugendhilfe, Hilfen zur Erziehung, Methoden, Beriebswirtschaft in sozialer Arbeit, Berufsrolle
Arbeit zitieren
Dipl.-Sozialpädagogin Sandra Jenning (Autor:in), 2001, Die Straße als Lebensraum mit wachsender Attraktivität für Jugendliche. Eine Konkurrenz für die Jugendhilfe?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1580

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