Jugendgewalt in Deutschland

Verbreitung, Ausprägungen und sozialisatorische Ursachen


Diplomarbeit, 2010

98 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Lebensphase Jugend
2.1 Die Lebensphase Jugend im gesellschaftlichen Zusammenhang
2.1.1 Die historische Entstehung der Lebensphase Jugend und ihre Expansion
2.1.2 Abgrenzung der Lebensphase Jugend zur Lebensphase Kindheit
2.1.3 Abgrenzung der Lebensphase Jugend zum Erwachsensein
2.2 Die Entwicklungsaufgaben in der Lebensphase Jugend
2.2.1 Probleme bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben
2.2.2 Transition und Moratorium
2.3 Die Entwicklung der Identität und Persönlichkeit
2.4 Jugendkulturen

3 Gewalt
3.1 Gewaltbegriffe
3.1.1 Zur Abgrenzung von Gewalt und Aggression
3.1.2 Zur Abgrenzung von Gewalt, abweichendem Verhalten und Kriminalität
3.2 Entwicklung einer zweckmäßigen Definition von Jugendgewalt

4 Jugendgewalt in Deutschland
4.1 Formen von Jugendgewalt
4.1.1 Bullying
4.1.2 Cyber - Bullying
4.1.3 Happy Slapping
4.1.4 School Shootings
4.1.5 Rechtsextreme Jugendgewalt
4.2 Zusammenfassung

5 Die Bedeutung der Sozialisationsinstanzen
5.1 Die Sozialisationstheorie
5.2 Die Sozialisationsinstanzen
5.2.1 Die Familie
5.2.2 Die Schule
5.2.3 Die Gleichaltrigengruppe
5.3 Die Bedeutung der Herkunft
5.4 Der Kreislauf der Gewalt

6 Resümee

7 Verzeichnisse

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Quellenverzeichnis

1. Einleitung

In dieser Diplomarbeit soll es um das vielbeachtete Thema Jugendgewalt gehen, eine Thematik, welche in ganz besonderem Maße die Öffentlichkeit interessiert und dafür prädestiniert ist, Gemüter zu erhitzen. Jugendgewalt besitzt in der heutigen Zeit einen festen Platz in der öffentlichen Diskussion. Kommt es dann noch zu außerordentlich schweren Fällen von Jugendgewalt, werden diese besonders aufmerksam von den Medien begleitet und dominieren häufig die mediale Berichterstattung. In der Folge werden die verschiedensten Schlussfolgerungen getroffen, Experten befragt und Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Oftmals wird ein trostloses Bild des Zustandes, in dem sich die heutige Jugend befindet, gezeichnet und die Zukunft der Gesellschaft in Frage gestellt. Schlagzeilen in großen deutschen Tageszeitungen zu jugendlichen Tätern wie „Sperrt das Pack weg“ (Bild 2009: 1) sind in diesem Zusammenhang nicht selten anzutreffen. Es wird verallgemeinert und übertrieben. Eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Ursachen von Jugendgewalt, ihren verschiedenen Ausprägungen und des allgemeinen Zustandes der Jugend ist nur in Einzelfällen anzutreffen, welche allerdings häufig nicht im Blickfeld der breiten Öffentlichkeit liegen. Hinzu kommt, dass die Problematik immer nur dann die Gesellschaft in einen angemessenen Umfang zu interessieren scheint, wenn es zu den angesprochenen, besonders spektakulären Fällen von Jugendgewalt kommt. Eine differenzierte Auseinandersetzung ist in diesen Phasen allerdings nicht zu erwarten, da infolge der Taten eher ein Klima von Hysterie und Ablehnung herrscht.

Auf Basis dieser Fakten entstand die Intention zu der vorliegenden Arbeit. Ziel dieser soll es sein, die Problematik vertiefend zu beleuchten und somit den Anstoß für einen differenzierteren Blick auf das Problemfeld zu geben.

Um dies zu erreichen, soll in einem ersten Teil ein allgemeiner Überblick zur Lebensphase Jugend skizziert werden. Welche Probleme mit dieser einhergehen und wie sie insgesamt für die Entwicklung eines Menschen zu bewerten ist, sollen dabei besonders im Blickpunkt stehen.

Anschließend soll eine Begriffsbestimmung zur Gewaltproblematik ein möglichst klares Verständnis von dem besprochenen Gegenstand ermöglichen. Im Zuge einer Abgrenzung zu verwandten Begriffen wird dabei die Betonung der Mehrdeutigkeit des Begriffs im Vordergrund stehen. Ziel des Abschnittes ist es, eine angemessene Definition für die spezifischen Merkmale von Jugendgewalt abzuleiten.

Im anschließenden Hauptabschnitt geht es um die allgemeine Verbreitung von Jugendgewalt, deren spezifische Formen und die Erläuterung dieser. Die dargestellten Ausprägungen von Jugendgewalt sind dabei so ausgewählt, dass sie ein möglichst breites Spektrum des Phänomens abdecken. Dieses reicht von verbalen und gegen das Physische Wohlbefinden gerichtete Angriffe, bis hin zu gezielten Attacken mit Tötungsabsicht.

Als ein wichtiges Hilfsmittel bei der Auseinandersetzung mit diesen Ausprägungen stellte sich dabei die repräsentative Schülerbefragung des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsens heraus, auf dessen Ergebnisse häufig zurückgegriffen wurde. Somit konnten die Beschreibungen mit den Ergebnissen dieser Befragung gefestigt werden. Wenn entsprechende Erhebungen von anderen Institutionen vorlagen, so wurden diese ebenso herangezogen und im jeweiligen Kontext vorgestellt. Lagen zu bestimmten Ausprägungen spezifische Erklärungsansätze vor, so wurden diese ebenso im jeweiligen Zusammenhang erläutert.

Im theoretischen Teil der Arbeit liegt der Fokus auf der Sozialisationstheorie. Eine erschöpfende Analyse aller Theorien, welche man zur Erklärung jugendgewalttätigen Handelns heranziehen könnte, ist in dieser Arbeit nicht möglich, weshalb sich auf ein Theoriekonstrukt konzentriert wurde. In der Sozialisationstheorie liegt nach Ansicht des Autors die größte Erklärungskraft, da sich über die Erläuterung des Einflusses der verschiedenen Sozialisationsinstanzen auf die Ausprägung gewalttätigen Verhaltens ein in besonderem Maße zusammenhängendes und sich gegenseitig bedingendes Modell ableiten lässt. Es soll aufgezeigt werden, wie die einzelnen Sozialisationsinstanzen ineinander greifen und gemeinsam eine Art Kreislauf generieren, aus dem es für die Täter, welche häufig auch gleichzeitig Opfer (ihrer Sozialisation) sind, nur sehr schwierig ist auszubrechen.

Empirische Ergebnisse zur Bearbeitung dieser Aufgabenstellung konnten wiederum aus der repräsentativen Schülerbefragung des KFN herangezogen werden.

Im Zuge der Bearbeitung der genannten Punkte, lassen sich die folgenden Fragestellungen ableiten:

1. Welche Formen von Jugendgewalt gibt es?
2. Hat der Umfang von Jugendgewalt in den vergangenen Jahren zugenommen?
3. Welche Auswirkungen haben die Sozialisationsinstanzen auf die Ausbildung Jugendgewalttätigen Verhaltens?

2. Die Lebensphase Jugend

In dieser Diplomarbeit wird die Jugendgewalt thematisiert. Um sich dieser Problematik anzunähern, benötigt man ein möglichst klares Verständnis von den Begrifflichkeiten. Was versteht man also eigentlich unter Jugend? Sicher hat jeder Mensch ein klar begrenztes Bild, was er unter Jugend bzw. einem Jugendlichen versteht. Zum einen gibt es die vermeintlich offensichtlichen Erkennungsmerkmale von Jugendlichen wie etwa eine spezifische Sprache oder besondere Kleidung, zum anderen aber auch bestimmte Erfahrungen, die Menschen mit der Jugend verbinden. Genannt seien hierbei etwa erste Erfahrungen mit der eigenen Sexualität, Streit mit den Eltern, Spaß mit Gleichaltrigen etc. Eine genaue Angabe was eigentlich die Besonderheit dieses so vielschichtigen Lebensabschnittes ist, dürfte ungleich schwerer fallen. Obwohl die Diskurse über das Jugendalter und über Jugendprobleme zur Alltagsdiskussion gehören, ist der jeweilige Fokus oftmals äußerst verschieden. Einmal geht es um die Jugend als Zukunft, wie man sie fördern und fordern muss und in der nächsten Titelgeschichte der Boulevardzeitungen wird brutale Jugendgewalt thematisiert und es wird die Frage diskutiert, wie man den Jugendlichen Einhalt gebieten kann. Genau dieses letzte Beispiel scheint momentan die öffentliche Diskussion und die Medien im Hinblick auf die Jugend zu dominieren.

In der Wissenschaft benötigt man jedoch mehr als diesen diffusen Jugendbegriff, der je nach individuellen Erfahrungen und Vorstellungen variiert. In der Jugendforschung gibt es eine spezifische Vorstellung der Lebensphase Jugend, ihren Besonderheiten und Merkmalen, welche im Folgenden näher dargestellt werden soll. Dies ist wichtig, um ein einheitliches Verständnis von Jugend zu gewährleisten und um im weiteren Verlauf der Arbeit das Verständnis durch begriffliche Unschärfe nicht zu erschweren.

2.1 Die Lebensphase Jugend im gesellschaftlichen Zusammenhang

Die Lebensphase Jugend ist heute eine der wichtigsten biografiebestimmenden Phasen eines jeden Menschen. In dieser Phase, die sich bis zu 15 Jahre ausdehnen kann, erlangt der junge Mensch wichtige Kompetenzen, die für den erfolgreichen Verlauf seines Lebens entscheidend sein können (Hurrelmann 2007). Auch der Körper macht elementare Veränderungen durch. Die Jugend ist gekennzeichnet durch zwei elementare Übergänge. Zum einen markiert sie das Ende der Kindheit und zum anderen endet sie mit dem Übergang zum Erwachsensein. Dabei wird sie als eine gewisse Altersspanne mit nicht klar zu definierenden Grenzen bezeichnet. Aufgrund der verschiedenen biografischen Erfahrungen und den damit verbundenen, unterschiedlichen Entwicklungsverläufen ist es, obwohl in der Literatur häufig versucht, nicht zweckmäßig Jugend mit bestimmten Altersgrenzen zu definieren. Einzig und allein der Startpunkt der Jugendphase ist über die Geschlechtsreife recht eindeutig festlegbar. Aber auch hier gibt es - nicht nur zwischen den Geschlechtern - erhebliche Unterschiede.

Gekennzeichnet ist die Jugendphase durch eine schrittweise Integration der Jugendlichen in die Erwachsenengesellschaft, verbunden mit der Übernahme von komplexen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dabei pendeln die jungen Menschen stets zwischen Unselbständigkeit und Selbständigkeit, da sie mit ähnlichen Anforderungen wie Erwachsene konfrontiert werden. Aufgrund des schrittweisen Integrationsprozesses besitzen sie noch nicht alle Kompetenzen, die sie benötigen um diesen Anforderungen gerecht zu werden (Krebs 1997).

2.1.1 Die historische Entstehung der Lebensphase Jugend und ihre Expansion

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Jugend als eigenständige Phase im individuellen Lebenslauf noch nicht bekannt (Hurrelmann 2007: 71). In den vorindustriellen Gesellschaften betrachtete man zu dieser Zeit das Kind als eine verkleinerte Version eines Erwachsenen (ebd.). Erst mit dem Fortschreiten der Industrialisierung kann man von einer stärkeren Abgrenzung der Phasen sprechen. So gab es zwar auch in den ersten 50 Jahren des 20. Jahrhunderts nur die Kindheit, welche als Phase dem Erwachsenenalter vorgelagert wurde, jedoch wurde diese Phase in eine frühe und in eine späte aufgeteilt. Die späte Phase wurde als Jugend definiert und dauerte höchstens fünf Jahre (ebd.: 21). Historisch betrachtet kam die Lebensphase Jugend aus den Schichten des Bürgertums, welche über die nötigen Ressourcen, verfügten ihren Nachkommen eine längere Vorbereitungszeit auf das Berufsleben zu gewähren. Im Zuge der Industrialisierung wurde dies verstärkt auch Arbeiterfamilien möglich. Im besonderen Maße vorangetrieben wurde die Entwicklung einer eigenständigen Lebensphase Jugend durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Dadurch wurde jedem jungen Menschen, egal welcher Bevölkerungsgruppe er angehörte, eine Mindestzeit an Jugend zuteil. Jugend ist als ein „gesellschaftliches und pädagogisches Konzept“ (Schäfers und Scherr 2005: 19) zu verstehen, in welchem die Jugendlichen nicht mehr der andauernden Kontrolle durch die Eltern ausgesetzt sind und in dem sie sich auch nicht dem Zwang der Erwerbsarbeit unterordnen müssen.

Wie bereits erwähnt, hat sich die Lebensphase Jugend in den vergangenen Jahrzehnten deutlich ausgedehnt. Dies hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen, die diese Ausdehnung begünstigten. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Bildungsexpansion im vergangenen Jahrhundert gewesen (Baacke und Vollbrecht 2003). Betrachtet man das deutsche Schul- und Hochschulsystem, so gehören Ausbildungszeiten in Deutschland von bis zu 20 Jahren nicht zur Ausnahme (Krebs 1997). Hurrelmann spricht in diesem Zusammenhang auch von dem „Bildungssystem als biografischen Warteraum auf dem Wege zum Erwachsenenalter“ (Hurrelmann 2007: 22). Da die Aufnahmemöglichkeiten des Arbeitsmarktes seit den 1990er Jahren stetig abgenommen haben (Schäfers und Scherr 2005: 116), werden potenzielle neue Arbeitskräfte so lange wie möglich im (Aus) Bildungssystem gehalten. Durch die heterogenen Ausbildungswege ist somit kein endgültiger Punkt definierbar, an dem der Übergang von der Jugendphase zum Erwachsenen vollzogen wird. Je nach individueller Biografie, Bildung und Ausbildung kann der Übergang in den späten Teenagerjahren bis weit in das zweite Lebensjahrzehnt hinein dauern. Ein weiterer Faktor, welcher die Ausdehnung der Lebensphase Jugend begünstigt hat, ist die Vorverlagerung der Sexualreife. Heutige Jugendliche werden deutlich früher geschlechtsreif als noch vor 50 Jahren, was zu einem früheren Beginn der Jugend führt (Baacke und Vollbrecht 2003). Als Ergebnis dieser Ausweitung der Jugend, ist es zweckmäßig, diese Phase weiter zu differenzieren. Zwar sind alle Zugehörigen als Jugendliche zu bezeichnen, jedoch scheint es nicht plausibel eine pubertierende 14 - Jährige mit einer 26 - jährigen Studentin, die sich im Examen befindet, zu vergleichen. Beide sind laut Definition Jugendliche, befinden sich allerdings auf gänzlich verschiedenen biografischen Entwicklungsstufen. Schäfers und Scherr schlagen daher die folgende Unterteilung der Lebensphase Jugend vor:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Phasen der Lebensphase Jugend (Schäfers und Scherr 2005: 24)

Es konnte gezeigt werden, wie sich die Jugendphase als eigenständige Lebensphase im Lebenslauf entwickelt hat und wie sie weiter expandierte. Wie aber grenzt man die Jugend zu der jeweils vor- und nachgelagerten Lebensphase ab?

2.1.2 Abgrenzung der Lebensphase Jugend zur Lebensphase Kindheit

Der Übergang von der Lebensphase Kindheit zur Lebensphase Jugend ist gekennzeichnet durch vielfältige Veränderungen physischer und psychischer Natur. Dabei nimmt die Pubertät einen besonderen Stellenwert ein. Sie markiert das Schlüsselereignis, dass den Übergang von der Kindheit zur Jugend verdeutlicht und in welcher der Körper massive Veränderungen erfährt. Aber auch die Persönlichkeit des jungen Menschen ist beim Übergang von der Kindheit zur Jugend Veränderungsprozessen unterworfen. Die Kindheit ist gekennzeichnet durch die Abhängigkeit von den Eltern. Das Kind versucht die Handlungsweisen der Eltern zu imitieren und definiert sie als die stärksten Bezugspersonen. Die Jugend hingegen grenzt sich von den Eltern ab und ist bemüht, sich von ihnen zu unterscheiden. Heute wird im Alter von 12- bis 14 Jahren das Kindheitsstadium definitiv verlassen (Göppel 2005: 5).

2.1.3 Abgrenzung der Lebensphase Jugend zum Erwachsensein

Wie bereits erwähnt wurde, ist eine allgemeine Bestimmung des Zeitpunkts des Übergangs von der Jugendphase zum Erwachsensein nicht möglich. Aufgrund der heterogenen Biografien können die Übergänge zu verschiedenen Lebensaltern geschehen. Dennoch gibt es einige Faktoren, die Auskunft darüber geben, wann man die Zeit der Jugend verlässt. Beispiele für solche Faktoren sind etwa der Abschluss der Ausbildung bzw. die endgültige Abkoppelung vom Elternhaus durch die Gründung einer eigenen Familie. Hurrelmann spricht auch davon, dass die unruhige Such- und Testphase der Jugend vorerst abgeschlossen ist und ein gewisser Reifungsprozess eingesetzt hat (Hurrelmann 2007). Klaus Hurrelmann unternimmt den Versuch einer eindeutigen Abgrenzung der Lebensphasen. Er spricht davon, dass der Übergang zum Erwachsensein dann erfolgreich vollzogen ist, wenn die vielfältigen Aufgaben, die sogenannten Entwicklungsaufgaben des Jugendalters, erfolgreich bewältigt wurden. Wann dieser Prozess abgeschlossen ist kann allerdings nicht genau bestimmt werden (ebd.). Im Gegensatz zum Übergang von der Kindheit in die Jugendphase, sind die Übergänge von der Jugend zum Erwachsensein fließend.

Im Folgenden soll näher auf das Konzept der Entwicklungsaufgaben eingegangen werden.

2.2 Die Entwicklungsaufgaben in der Lebensphase Jugend

Das Konzept der Entwicklungsaufgaben wurde ursprünglich von dem Pädagogen Robert J. Havighurst beschrieben. In diesem Konzept wird der Lebenslauf als eine Abfolge von Problemen definiert, denen sich das Individuum gegenübersieht und die es bewältigen muss (Göppel 2005 nach Havighurst 1956). In der Jugend, die für die spätere Entwicklung eines Menschen und seine gesellschaftliche Positionierung von großer Bedeutung ist nehmen die Entwicklungsaufgaben eine wichtige, richtungsweisende Position ein. Havighurst selbst definiert Entwicklungsaufgaben wie folgt:

„Eine Entwicklungsaufgabe ist eine Aufgabe, die in oder zumindest ungefähr zu einem bestimmten Lebensabschnitt des Individuums entsteht, deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während ein Misslingen zu Unglücklichsein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben führt“ (Göppel 2005: 72 nach Havighurst 1956: 215).

Von Interesse scheint nun sicherlich die Frage nach dem Ursprung der Entwicklungsaufgaben. Wer stellt sie? Wer gibt sie vor? Havighurst unterscheidet dabei drei verschiedene Kategorien. Zum einen gibt es Entwicklungsaufgaben, die sich aus der körperlichen Entwicklung ergeben. Gemeint sind damit die körperlichen Reifungsprozesse, welche in ihrer Folge „[...] neue Erfahrungs- und Verhaltensmöglichkeiten eröffnen“ (Göppel 2005: 72). Der Aufgabencharakter liegt demzufolge in der physischen und psychischen Verarbeitung dieser neuen Möglichkeiten. Die zweite Kategorie sind nach Havighurst die gesellschaftlichen Erwartungen, welche an das Individuum gestellt werden. Damit sind die, je nach Kultur durchaus variierenden, Normen und Werte gemeint, die jeder Mensch zu internalisieren und zu befolgen hat (ebd.). Die dritte Kategorie wird von den abschließenden persönlichen Zielsetzungen gebildet, die sich jedes Individuum selbst stellt. In der Tabelle 2 sind die Kategorien noch einmal in einer kurzen Zusammenfassung übersichtlich dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Kategorien der Entwicklungsaufgaben (Göppel 2005: 72 nach Havighurst 1956)

Je nach dem wie sich die gesellschaftlichen und kulturellen Begebenheiten darstellen, können die Entwicklungsaufgaben gänzlich unterschiedlich ausfallen. Vor 100 Jahren wurden demzufolge andere Aufgaben gestellt als heute. Man kann also keine Liste mit bestimmten Aufgaben erstellen, welche in einer konkreten Lebensphase „abgearbeitet“ werden müssen, sondern muss die vorhandenen Aufgaben „immer wieder auf ihre Kultur- und Zeitgemäßigkeit überprüfen“ (Göppel 2005: 73). Havighurst hat Anfang der 50-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts einen Katalog mit spezifischen Entwicklungsaufgaben, welche er als wichtig für den 12 bis 18 jährigen Nachwuchs ansah, erarbeitet.

Infolgedessen wurde er von verschiedenen Autoren überarbeitet. Göppel nennt unter anderem Dreher sowie Fend (ebd.).

Für die weitere Bearbeitung des Themas, werde ich mich an die gekürzte Version von Hurrelmann halten, welcher folgende vier Entwicklungsaufgaben des Jugendalters in zentralen Bereichen benennt. Diese vier sind nach Hurrelmann:

1. „Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz, um selbstverantwortlich schulischen und anschließend beruflichen Anforderungen nachzukommen, mit dem Ziel, eine berufliche Erwerbsarbeit aufzunehmen und dadurch die eigene ökonomische Basis für die selbstständige Existenz als Erwachsene zu sichern.
2. Entwicklung des inneren Bildes von der Geschlechtszugehörigkeit, Akzeptieren der veränderten körperlichen Erscheinung, Aufbau einer sozialen Bindung zu Gleichaltrigen des eigenen und des anderen Geschlechts, Aufbau einer heterosexuellen (oder auch homosexuellen) Partnerbeziehung, welche potenziell die Basis für eine Familiengründung und die Geburt und Erziehung eigener Kinder bilden kann.
3. Entwicklung selbständiger Handlungsmuster für die Nutzung des Konsumwarenmarktes einschließlich der Medien und Fähigkeit zum Umgang mit Geld mit dem Ziel, einen eigenen Lebensstil zu entwickeln und zu einem kontrollierten und bedürfnisorientierten Umgang mit den „Freizeit“ - Angeboten zu kommen.
4. Entwicklung eines Werte- und Normensystems und eines ethischen und politischen Bewusstseins, das mit dem eigenen Verhalten und Handeln in Übereinstimmung steht, sodass die verantwortliche Übernahme von gesellschaftlichen Partizipationsrollen als Bürger im kulturellen oder politischen Raum möglich wird“ (Hurrelmann 2007: 27ff).

Betrachtet man die Entwicklungsaufgaben aus einer soziologischen Perspektive, so bezeichnet die erste Entwicklungsaufgabe den Leistungsbereich (ebd.). Wird sie zufriedenstellend bewältigt, wächst die Leistungsfähigkeiten des jungen Menschen an, er übernimmt neue Rollen wie etwa die Rolle als Schüler und erbringt in der Institution Schule, in die er diese Rolle verkörpert, seine Leistung auch unabhängig von dem Einfluss der Eltern. Die zweite Entwicklungsaufgabe legt den Fokus auf den Prozess der Ablösung von der Familie und der gleichzeitigen Hinwendung zu Gleichaltrigen. Dadurch ist der junge Mensch dazu gezwungen, sich selbst in der Gesellschaft zurechtzufinden. Die Gleichaltrigen, welche sich in der gleichen Situation befinden, sind oftmals die einzige Hilfestellung bei der Bewältigung dieser Aufgabe. Die dritte von Hurrelmann beschriebene Entwicklungsaufgabe ist ebenso wie die zweite auf ein erhöhtes Maß an Selbständigkeit ausgelegt (ebd.). Der Jugendliche muss es schaffen die vielfältigen Konsumangebote einzuschätzen und gemäß seiner Interessen die passenden Angebote auszuwählen. Auch hier bilden die Gleichaltrigen eine wichtige Unterstützungsfunktion. Die vierte und letzte Entwicklungsaufgabe gibt Auskunft über selbständiges Handeln bezüglich moralischer und politischer Orientierungen (ebd.). Mit der zunehmenden Selbständigkeit geht das Schwinden der Einflussmöglichkeiten der Eltern einher. Die Ablösung vom Elternhaus schreitet immer weiter fort, womit dem jungen Menschen „eine Selbstdefinition des sozialen und des politischen (Bürger-)Status ohne direkten Einfluss der Eltern möglich [wird]“ (Hurrelmann 2007: 34).

2.2.1 Probleme bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben

Wie verdeutlicht werden konnte, ist die Jugendphase durch vielfältige Veränderungen gekennzeichnet und stellt verschiedenste Herausforderungen an den jungen Menschen. Aufgrund diverser Einflussfaktoren, die von Biografie zu Biografie unterschiedlich sein können, kann es zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung der beschriebenen Entwicklungsaufgaben kommen. Dies kann verschiedenste Ursachen haben. Ein hervorzuhebender Fakt ist aber die Heterogenität der Entwicklungsverläufe während der Kindheit der Individuen, durch welche die jungen Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen in die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben gehen (Schäfers und Scherr 2005). Kommt es durch mangelnde Bewältigungskompetenzen zu einer fehlerhaften Bearbeitung der Entwicklungsaufgaben, so kann dies zu jugendspezifischen Risikoverhalten führen.

2.2.2 Transition und Moratorium

Wenn man in der Jugendforschung von Transition und Moratorium spricht, dann soll mit diesen Begriffen die Qualität und Geschwindigkeit des Übergangs zum Erwachsensein beschrieben werden. Unter Transition versteht man dabei den reibungslosen und schnellsten Übergang, bei dem es das Ziel des Jugendlichen ist möglichst rasch die Jugendphase zu verlassen und erwachsen zu werden. Wenn man von einem Moratorium spricht dann meint dies hingegen die unbereitschaft die Jugendphase zu verlassen. Der junge Mensch hat kein Interesse erwachsen zu werden und versucht dementsprechend, so lange wie möglich in der Jugendphase zu verweilen. Eine bewusste Verweigerung der Bewältigung der spezifischen Entwicklungsaufgaben ist die Folge. Nicht selten führt ein ausgeprägtes Moratorium zur Hinwendung zu Sub- bzw. Alternativkulturen, unter Umständen verbunden mit abweichendem Verhalten. In der Realität spielen für Jugendliche oftmals beide Formen des Übergangs eine Rolle, wobei verschiedene Kombinationen von Transition und Moratorium denkbar sind (Hurrelmann 2007: 44).

- Transition hoch, Moratorium hoch: Bei dieser Kombination ist die Vorstellung wie der Jugendliche sein Leben gestaltet durch Integration gekennzeichnet. Er verfolgt die Bewältigung der an ihn gestellten Entwicklungsaufgaben. Dennoch lässt der junge Mensch aber auch nicht die sich ihn bietenden Möglichkeiten der Lebensgestaltung als Jugendliche Person außer Acht. (ebd.)
- Transition hoch, Moratorium niedrig: Hierbei ist das Hauptziel des Jugendlichen auf Assimilation ausgerichtet. Er verfolgt hauptsächlich die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben und strebt einen schnellen Übergang zum Erwachsensein an. In seiner Lebensgestaltung richtet er sich nach den von der Gesellschaft vorgegebenen Mustern. (ebd.) - Transition niedrig, Moratorium hoch: Diese Kombination ist von der Verweigerung des Jugendlichen die sich ihn stellenden Entwicklungsaufgaben zu bewältigen gekennzeichnet. Er orientiert sich eher an „gesellschaftliche Nischen“ (ebd.), also speziellen Jugendsubkulturen. (ebd.)
-Transition niedrig, Moratorium niedrig: Bei dieser Kombination sind weder Anstrengungen zu erkennen die Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, noch ein eigener Entwurf der Lebensphase Jugend, abseits der gesellschaftlichen Normen. (ebd.)

Wie dargelegt werden konnte, spielt für Jugendliche während des Übergangs zum Erwachsensein, sowohl die strikte Bewältigung der von den verschiedenen Instanzen gestellten Entwicklungsaufgaben eine Rolle, gleichermaßen aber auch das Verweilen in der Jugendphase mit den sich dadurch bietenden Möglichkeiten.

2.3 Die Entwicklung der Identität und Persönlichkeit

Eng verbunden mit den vorangegangenen Ausführungen zu den verschiedenen Entwicklungsaufgaben sowie der Konzeption von Transition und Moratorium sind weitere wichtige Merkmale, die die Lebensphase Jugend bestimmen, die Ausbildung und Entwicklung einer Identität und Persönlichkeit. In Bezug auf die Entwicklungsaufgaben, wird die Ausbildung einer Identität als „[...] vorrangige und übergreifende im Jugendalter zu lösende Aufgabe“ (Oepke 2005: 63) angesehen. Auch Hurrelmann hält in diesem Zusammenhang fest:

„Die Suche nach Orientierung und Sinngebung ist für die Phase Jugend im Lebenslauf charakteristisch wie für wohl keine andere Lebensphase davor und danach“ (Hurrelmann 2007: 31).

Jeder Junge Mensch beschäftigt sich wohl irgendwann einmal mit den Fragen „Wer bin ich?“, „Was möchte ich einmal sein?“, oder auch „Was macht mich besonders?“. Im Zuge der mannigfaltigen Veränderungen im Jugendalter in physischer sowie psychischer Form hat die Beantwortung dieser Fragen einen hohen Stellenwert. Durch die Entwicklung der Geschlechtsreife und das Entdecken der eigenen Sexualität wird die „[...] naive kindliche Identität“ (Schäfers und Scherr 2005: 91) ihrer Grundlage entzogen und im Grunde genommen der Startschuss für die Identitätsentwicklung gegeben.

Wie funktioniert nun aber die Identitätsbildung? Im Jugendalter setzt sich der junge Mensch verstärkt mit vorgegebenen Normen, Werten und Erwartungen kritisch auseinander. Diese Vorgaben können dabei entweder übernommen werden oder in Form einer kritischen Betrachtung abgewandelt oder gänzlich abgelehnt werden (Hurrelmann 2005). Dieser Prozess des Suchens nach der eigenen Identität, „ist ein Charakteristikum des menschlichen Entwicklungsprozesses, dass in dieser intensiven Form typisch und charakteristisch für das Jugendalter ist“ (Olbrich und Todt 1984 zitiert nach Hurrelmann 2007: 31).

Weiterhin wichtig für die Ausbildung einer eigenen Identität sind das jugendtypische Ausprobier- und Suchverhalten. Das Tragen spezieller Kleidung, die Nachahmung von Vorbildern oder die Hinwendung zu besonderen Jugendkulturen gehören zum Suchprozess im Jugendalter dazu (Schäfers und Scherr 2005: 92; Krebs 1997). Diesen, durch die Gesellschaft vorgegebenen Identifikationsmöglichkeiten wird eine wichtige Funktion zuteil. Den Peers, also den gleichaltrigen Bezugspersonen, kommt in dieser Phase der Identitätsbildung ebenso eine wichtige Rolle zu (Krebs 1997).

Es erscheint in diesem Zusammenhang interessant, dass während dieser Phase des Ausprobierens und Suchens nach seinen Platz in der Gesellschaft oftmals das größte Konfliktpotenzial mit den erwachsenen Bezugspersonen der Jugendlichen, zumeist den Eltern, innewohnt. So stellt sich hier auch ein stärkeres Risikoverhalten der jungen Menschen ein, um beispielsweise zu zeigen das sie bereit sind erwachsen zu werden (Engel und Hurrelmann 1993: 18). Gleichermaßen dient dieses Verhalten auch der bewussten Abgrenzung von den Eltern, indem die Jugendlichen beispielsweise durch den verstärkten Konsum von Alkohol oder Tabak, die Konfrontation mit erwachsenen bewusst in Kauf nehmen (ebd.).

Dieser Übergang von der Familien- zur Jugendkultur wird somit auch als eine besonders kritische Stelle in der individuellen Identitätsbildung betrachtet (Büttner 1993: 92). Durch die Ablösung von den ehemals wichtigsten Bezugspersonen und der Hinwendung zu den gleichaltrigen Bezugsgruppen mit ihren eigenen Identifikationsmerkmalen und der dadurch erhaltenen Bestätigung der Identität ist „[...] ein lebensnotwendiger Durchgang hin zur eigenen Identität“ (ebd.: 91).

Die Ausbildung der Identität wird in besonderer Weise durch gesellschaftliche Zustände, Problemlagen etc. beeinflusst (ebd.: 94). Besonders erschwerende Bedingungen moderner Gesellschaften sind dabei etwa über deren Komplexität zu beschreiben. Wurde der Lebenslauf in archaischen Gesellschaften bereits von Geburt an vorgegeben, gibt es in der Gegenwartsgesellschaft mannigfaltige Möglichkeiten und Angebote der Selbstverwirklichung (ebd.). Einen besonderen Stellenwert bei der Identitätsbildung nimmt die Sozialisation ein. Je nach Ausprägung und Ausrichtung der verschiedenen Sozialisationsinstanzen können die Auswirkungen auf den Identitätsbildungsprozess positiver, aber auch negativer Natur sein.

Im 5. Kapitel wird diese Problematik mit Fokus auf Jugendgewalttätiges Verhalten detaillierter ausgearbeitet.

2.4 Jugendkulturen

Jugendkulturen sind als ein spezifisches Phänomen des 20. Jahrhunderts zu kennzeichnen. Als Sozialisationsinstanz gewinnen sie zunehmend an Bedeutung, worauf im fünften Kapitel dieser Diplomarbeit eingegangen wird. Die Herausbildung der Jugendkulturen und die Pluralisierung der Gesellschaft sind eng miteinander verbunden. Die Mitglieder ein und derselben Jugendkultur teilen dabei beispielsweise als Erkennungszeichen eine gemeinsame Kleidung, hören ähnliche Musik oder Vertreten gleiche Meinungen zu politischen Fragestellungen. Diese Punkte tragen ebenso zur Unterscheidung zu anderen Jugendkulturen bei.

Zur Zeit der Weimarer Republik war in diesem Zusammenhang zum ersten Mal von den Jugendkulturen der „Halbstarken, Banden und Cliquen“ (Hafeneger 1994: 63) die Rede. Letztere wurden zu dieser Zeit als eine Form der „proletarischen Jugendkultur“ (ebd. 64) klassifiziert, in denen sich vor allem in den Großstädten arbeitslose junge Männer organisierten. Im Jahr 1930 wurde die Anzahl der verschiedenen Cliquen in Berlin auf etwa 100 geschätzt, wobei die durchschnittliche Mitgliederzahl zwischen 10 und 100 variierte (ebd. 66). Die Intention der Gruppen reichte von einfachen Wandervereinigungen bis hin zu „beinahe Verbrecherverein[en]“ (ebd. 66). Im Nationalsozialismus wurden die Jugendbewegungen, die eigene Stile und Vorstellungen als ihr Markenzeichen hatten verfolgt und unterdrückt (Schröder und Leonhardt 1998: 18). Die faschistische Führungsspitze nutzte die vermeintlichen Jugendorganisationen der Hitlerjugend und des Bundes deutscher Mädel für ihre eigenen ideologischen Ziele. Nach dem 2. Weltkrieg, in den 1950er Jahren orientierten sich die deutschen Jugendlichen verstärkt an US - amerikanischen Vorbildern. So fand die in den USA populäre Halbstarkenbewegung, die mit ihrer „Rebellion ohne Ziele“ (Wartenberg 1990, zitiert nach Schröder und Leonhardt 1998: 19) den Zeitgeist der Jugendlichen in Deutschland traf, auch ihren Weg nach Deutschland. Die folgenden beiden Jahrzehnte waren in der Entwicklung der Jugendbewegungen von stärkerem politischen und sozialen Interesse geprägt, wie die Jugend und Studentenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre verdeutlichen. In den 80er Jahren kann man von einer „Ästhetisierung der Jugendkulturen“ (ebd.) sprechen. Protestierende und politische Bewegungen aus den vergangenen Jahren existierten weiter und gaben Anregungen für sich neu entwickelnde Kulturen. In den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kann man weiterhin von einer „Pluralisierung der Jugendkulturen“ (ebd.) sprechen. Durch die massiv angewachsenen Möglichkeiten der Selbstentfaltung und Freizeitbeschäftigung bilden sich immer wieder neue Bewegungen denen sich Jugendliche zugehörig fühlen. Je nachdem wie man die Differenzierungen der einzelnen Gruppen vornimmt kann man von bis zu 400 verschiedenen Stilrichtungen sprechen (Kohlstruck 2002: 77). Einen großen Anteil daran haben die Industrie mit ihrer Werbung und die Massenmedien, die erkannt haben welches wirtschaftliches Potenzial in den jungen Menschen liegt, was sie so gut wie möglich abschöpfen wollen (Schröder und Leonhardt 1998: 19).

3. Gewalt

Will man Gewalt definieren, so steht man unweigerlich vor großen Problemen. Denn ähnlich wie bei dem Jugendbegriff verstehen viele Menschen unterschiedliche Dinge unter Gewalt. Aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion ist es um die Begriffsbestimmung nicht besser bestellt. Imbusch z.B. kennzeichnet Gewalt auch gleichzeitig als einen „[...] der schillerndsten und schwierigsten Begriffe der Sozialwissenschaften“ (Imbusch 2002: 26).

Die meisten Personen haben ein klares Verständnis von Gewalt und können häufig Beispiele für vermeintlich gewalttätiges Verhalten nennen. Diese Auffassungen sind jedoch stark von den individuellen Erfahrungen geprägt und können nicht verallgemeinert werden. Je nach Hintergrund der befragten Personen können dabei etwa Fakten ausgelassen werden und andere dafür besonders hervorgehoben werden (ebd.). Ebenso sind der soziale, kulturelle und historische Kontext von Bedeutung (Schroeder 2004: 136). Dies ist beispielsweise an der immer wieder aufkeimenden öffentlichen Diskussion und Ablehnung gegenüber häuslicher Gewalt zu sehen. Noch vor einigen Jahrzehnten wäre die damit verbundene heutige Empörung nicht denkbar gewesen.

In der Öffentlichkeit werden oftmals viele Dinge synonym mit Gewalt bezeichnet. Eine Ohrfeige ist Gewalt, aber ist es auch Gewalt, wenn eine Mutter ihrem Sohn einen derben Schlag auf den Hintern gibt? Wenn jemand mit einer Waffe auf eine Person schießt, so ist das für die meisten Menschen zweifellos eine Form von Gewalt. Was ist aber, wenn ein Polizist in Selbstverteidigung auf einen Angreifer schießt? Ist dies dann auch Gewalt? Diese Beispiele könnte man beliebig fortsetzen, womit die diffuse Gestalt des Gewaltbegriffs deutlich wird.

Berichte über gewalttätiges Verhalten von Jugendlichen sind in den Medien tagtäglich zu finden. Diese Taten werden dann oftmals relativ unreflektiert unter den Begriff der Jugendgewalt einsortiert (Sturzbecher et. al 2001: 249). Da derartige Berichterstattungen ein großes öffentliches und auch politisches Echo mit sich bringen, wird aus diesen, oftmals nur Einzelfällen, ein Bild abgeleitet, dass die Jugend als Drohkulisse aufbaut (ebd.). Dies entspricht in keinster Weise einer differenzierten Auseinandersetzung mit so einem komplexen Thema. Daher soll im folgenden Kapitel verdeutlicht werden, wie unterschiedlich und vielseitig die Begriffsdefinitionen von Gewalt sein können. Des Weiteren soll eine Abgrenzung zu verwandten Begriffen durchgeführt werden, welche oftmals synonym mit dem Gewaltbegriff verwendet werden. Ist ein besonders aggressiver Mensch auch gleichzeitig ein Gewalttäter? In welchem Verhältnis stehen die Begriffe abweichendes Verhalten und Kriminalität zu Gewalt?

Diese Fragen sollen verständlich beantwortet werden, um abschließend eine angemessene Definition für Jugendgewalt ableiten zu können, welche den Gegenstand möglichst komplex erfasst.

3.1 Gewaltbegriffe

Wie in den einleitenden Worten des Kapitels bereits angedeutet wurde, ist es schwierig, den Gegenstandsbereich von Gewalt einzugrenzen. Im Alltag basieren die meisten Äußerungen darüber, was Gewalt ist und was nicht, auf Basis eines „intuitiven Gebrauchs“ (Montau 1996: 15). Es stellt sich die Frage ob es überhaupt möglich ist, einen klaren Gewaltbegriff abzuleiten oder ob der Begriff nur dazu da ist, dass mannigfaltige Feld von durch Menschen verursachte Gewalthandlungen zu bezeichnen (ebd.). Aufgrund dieser Vieldeutigkeit kann man nicht von einer allgemein anerkannten Definition sprechen: Diese würde eine Eindeutigkeit voraussetzen, welche bei dem Begriff Gewalt nicht gegeben ist (ebd.).

Geht man zurück zu den Anfängen der Gewaltforschung, so wurde Gewalt durch ein immer gleiches Merkmal bestimmt: Damit eine Handlung oder eine Begebenheit als Gewalt gekennzeichnet werden kann, muss eine „körperliche Schädigung“ (ebd.: 16) eines Menschen vorliegen. Man kann in diesem Zusammenhang auch von der sogenannten personalen Gewalt sprechen, bei der eine Handlung von einem Individuum in gewaltvoller Absicht gegen ein anderes Individuum gerichtet ist. Was ist aber unter körperlicher Schädigung zu verstehen? Geht man von einem besonders engen Gewaltbegriff aus, der nur auf physische Angriffe ausgelegt ist, würde man unter dieser Bezeichnung nur die offensichtlichen, sichtbaren Schädigungen subsumieren. Gegen dieses enge Verständnis von Gewalt spricht, gerade in der heutigen Zeit, der Fakt, dass man mit verbalen Attacken mindestens ebenso viel Schaden anrichten kann, wie mit physischer Gewalt (Tillmann et al. 2007). In einem noch weiter gefassten Verständnis von physischer Gewalt, wird nicht nur die Schädigung von Personen beachtet, sondern auch Gewalt gegen Gegenstände. Dazu würde beispielsweise der gesamte Komplex des Vandalismus zählen. Die personale Gewalt bezeichnet also eine spezielle Form von Gewalt, welche sich auf verschiedene Art und Weise zeigen kann.

Je nach zu Grunde gelegter Definition, kann man also von einem engen Gewaltbegriff (physische Gewalt gegen Personen) oder von einem weiter gefassten Gewaltbegriff (physische Gewalt gegen Gegenstände sowie auch verbale und psychische Gewalt) sprechen.

Eine wiederum erweiterte Definition schlägt Galtung mit seinem Begriff der strukturellen oder auch indirekten Gewalt (Galtung 1984) vor. Dieser war vor allem in der Friedensforschung der 1970er Jahre bedeutsam (Montau 1996: 19). Strukturelle Gewalt liegt nach Galtung in einer Gesellschaft dann vor, wenn „Menschen so beeinflusst werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung“ (Galtung 1975: 9). Galtung spricht sich damit deutlich gegen ein zu enges Verständnis von Gewalt aus und erweitert den Begriff erheblich. Sein Gewaltverständnis umfasst ebenso gesellschaftliche Strukturen, die Menschen in ihrer Lebensentfaltung beeinträchtigen. So ist beispielsweise Armut als strukturelle Gewalt zu kennzeichnen, da sie durch die Gesellschaft bedingt, negative Auswirkungen auf Individuen hat. Ebenso wäre ein Mangel an medizinischer Versorgung oder auch an Menschenrechten als strukturelle Gewalt zu bezeichnen.

Im Gegensatz zu personaler Gewalt, ist strukturelle Gewalt also nicht auf die Handlungen von Individuen zurückzuführen, sondern „[...] bezeichnet die soziale Lage einer Gruppe oder Klasse von Personen“ (Montau 1996: 20).

In der folgenden Tabelle sollen die einzelnen Gewaltbegriffe noch einmal übersichtlich dargestellt und erläutert werden, um ein einheitliches Verständnis zu gewährleisten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3: Die verschiedenen Formen von Gewalt

3.1.1 Zur Abgrenzung von Gewalt und Aggression

In der öffentlichen Diskussion, aber auch im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Aggression und Gewalt häufig synonym verwendet. Es scheint daher zweckmäßig, auch den Aggressionsbegriff genauer zu definieren.

Grundsätzlich verhält es sich hierbei ähnlich wie beim Gewaltbegriff. Der „faktische Sprachgebrauch“ (Nolting 2005: 14) ist bei dem Aggressionsbegriff ebenfalls nicht einheitlich. Verschiedene Individuen haben ein unterschiedliches Verständnis von aggressiven Handlungen. Dabei zählen einzelne Personen nur direkte körperliche Gewalt zu aggressivem Verhalten, andere sprechen hingegen schon bei gewissen Musikrichtungen von aggressiver Musik (ebd.).

Bei der Begriffsbestimmung für Aggression kann man, ähnlich wie bei der Definition des Gewaltbegriffs, je nach Definitionsgrundlage von einem engen und weiten Begriff sprechen (Nolting 1993). Unter einem engen Verständnis von Aggression ist dabei das zielgerichtete Schädigen von anderen Personen zu verstehen. Dies kann durch Schläge oder aber auch durch Waffengewalt geschehen. Dieses enge Verständnis von Aggression ist mit der weiter oben beschriebenen Definition von personaler Gewalt gleichzusetzen. Ein synonymer Gebrauch der beiden Begriffe würde in diesem Zusammenhang nichts im Wege stehen. Der eng gefasste Gewaltbegriff ist als eine spezifische Form von Aggressivem Verhalten zu verstehen. Zum Verhältnis von Aggression und Gewalt kann man weiterhin festhalten, dass zwar jedes Gewalttätige Verhalten aus Aggressionen resultiert, aber nicht jede Aggression Gewalttätiges Verhalten nach sich ziehen muss (Dierbach 2001).

Legt man nun also ein weites Verständnis von Aggression zu Grunde, so zählen nicht nur die zielgerichteten Taten mit der Absicht einer Schädigung zu aggressivem Verhalten, sondern noch weitere, wie die folgenden Definitionsbeispiele zeigen.

„Mit Aggression ist jedes Verhalten gemeint, das im wesentlichen das Gegenteil von Passivität und Zurückhaltung darstellt“ (Bach & Goldberg 1974: 14 zitiert nach Nolting 1997: 24).

„Aggression ist jene dem Menschen innewohnende Disposition und Energie, die sich ursprünglich in Aktivität und später in den verschiedensten individuellen und kollektiven, sozial gelernten und sozial vermittelten Formen von Selbstbehauptung bis zur Grausamkeit ausdrückt“ (Hacker 1971: 80 zitiert nach Nolting 1997: 24).

Diese Definitionen sind mit schädigenden oder verletzenden Handlungen, die Voraussetzung für die enge Definition von Aggressivem Verhalten, nicht in Verbindung zu bringen. Im Gegenteil beschreiben sie viel mehr positive Handlungen. So ist es beispielsweise im Fussball eine Auszeichnung wenn einem Abwehrspieler eine aggressive Spielweise in der Verteidigung attestiert wird.

Im Grunde genommen wäre also nach der weiten Definition von Aggression „jedes tatkräftige Handeln“ (Nolting 1993: 10) als aggressiv zu bezeichnen.

3.1.2 Zur Abgrenzung von Gewalt, abweichendem Verhalten und Kriminalität

Abweichendes Verhalten, oder auch deviantes Verhalten bezeichnet einen Grundbegriff in der Soziologie. Unter Devianz versteht man jede Abweichung von Normen, Konventionen und Werten die zu einer bestimmten Zeit in einer Gesellschaft herrschen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Jugendgewalt in Deutschland
Untertitel
Verbreitung, Ausprägungen und sozialisatorische Ursachen
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Soziologie)
Note
1,8
Autor
Jahr
2010
Seiten
98
Katalognummer
V155862
ISBN (eBook)
9783640690398
ISBN (Buch)
9783640690886
Dateigröße
1392 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziologie, Jugendsoziologie, Gewalt, Jugendgewalt, Sozialisation, Bullying, Cyber Bullying, Amoklauf, School Shooting, KfN, Sozialisationsinstanzen
Arbeit zitieren
Sven Zimmermann (Autor:in), 2010, Jugendgewalt in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/155862

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