Im Schatten von 1001 Nacht - Deepa Mehtas "Fire"

Indische Lebensrealität abseits der Hochglanz-Fantasie Bollywoods


Magisterarbeit, 2008

127 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Stand der Forschung

Methoden und Aufbau

I. Hauptteil
1. Deepa Mehta
1.1 Vita
1.2 Filmografie
2. Das indische Kino der Gegenwart
2.1 Bollywood und die indische Filmindustrie
2.2 Zensur
2.3 Verbreitung
2.4 Rezeption in Indien
2.5 Rezeption im Westen
3. Filmanalyse: Fire (1996)
3.1 Bedingungsrealitat: Entstehung und Hintergrund
3.1.1 Personliche Bedingungen
3.1.2 Historische Bedingungen
3.1.3 Das indische Diaspora-Kino
3.2 Die Filmrealitat und ihre Bezugsrealitat
3.2.1 Filmhandlung und Dramaturgie
3.2.2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
3.2.2.1 Tradition, Religion, Kastenwesen
3.2.2.2 Stadtisches Leben
3.2.2.3 Familie
3.2.2.4 Das Verhaltnis von Frauen untereinander
3.2.2.5 Ehe
3.2.2.6 Sexualitat
3.2.3 Figuren
3.2.3.1 Frauen
3.2.3.2 Manner
3.2.4 Figuren-Interaktionen
3.2.4.1 Frau Mann
3.2.4.2 Frau Frau
3.2.4.3 Figurenentwicklungen
3.3 Wirkungsrealitat: Reaktionen auf den Film in Indien und im Westen
3.3.1 Reaktionen im Westen
3.3.2 Reaktionen in Indien

II. Schlussteil
1. Ergebnisse
1.1 Film und Wirklichkeit
1.2 Quellenkritik
2. Ausblick: Gesellschaft im Wandel

III. Appendix
1. Szenische Filmanalyse von Fire
2. Literaturverzeichnis

Einleitung

„Cinema functions significantly in narrating nations and producing national identities... When films such as Fire ... do not conform to these expectations, they are rendered il­legible or primitive in dominant national and international discourses.“ (Desai 2004: 36)

Im Fruhjahr 2004 sah ich zufallig einen indischen Spielfilm im Fernsehen. Meine zu- nachst oberflachliche Anteilnahme wandelte sich bald in eine eigentumliche Faszinati- on: Dieser Film - mit deutschem Titel „In guten wie in schweren Tagen“ - war so an­ders als alle mir bis dahin bekannten Filme, dass ich mich dem nicht entziehen konnte. Gut drei Stunden dauerte der Film und er schleuderte mich durch ein kurzweiliges Wechselbad der Gefuhle.

Seitdem habe ich sehr viele indische Filme gesehen. Die meisten Filme, die den Weg von Indien nach Deutschland schaffen, stammen aus „Bollywood“, der Filmindustrie in Bombay. Sie stellen den indischen Mainstream dar und sind nach einem immer ahnli- chen Muster aufgebaut, bei dem viel Tanz und Musik nicht fehlen durfen.

Mir fiel bald auf, dass nicht nur immer wieder dieselben dramaturgischen Elemente repetiert werden, sondern auch stereotype Rollenbilder. Zusammen mit den seit einigen Jahren durch die GroBstadte tourenden Musicals und exotischen Tanzshows entwerfen die Bollywood-Filme ein Bild von Indien und seiner Gesellschaft, das vielen Betrach- tern und vor allem Betrachterinnen wie das Paradies erscheinen muss.[1]

So entwickeln Bollywood-Fans oft auch ein Interesse fur Indien als Land, wollen gem dorthin reisen und die Exotik und Romantik der Filme aus erster Hand erleben. Sie be- legen damit das an den Anfang dieser Arbeit gestellte Zitat von Jigna Desai eindruck- lich. Die vornehmlich weiblichen Bollywood-Fans ziehen sich gern „indisch“ an, mit traditionellen Saris oder indischen Accessoires, kaufen in indischen und pakistanischen Lebensmittelladen ein, pflegen einen innerdeutschen Bollywood-Kino-Tourismus und sind in Internetforen vernetzt. Sie feiern die traditionellen hinduistischen Feste, obwohl sie keine Hindus sind. Das Indien der deutschen Fans wird so zur Projektion einer Pro- jektion: Die bunten Bollywood-Melodrame generieren - aus einem reichhaltigen kultu- rellen Fundus - die modernen Marchen aus Tausendundeiner Nacht, in denen Traume von orientalischer Exotik und unverganglicher Liebe noch wahr werden . Aber diese Marchen zeigen nicht das wahre Leben, weder in Indien, noch in irgendeinem anderen Land. Vielmehr verdecken die Bollywood-Filme den Blick auf eine Realitat, die viel ernuchternder ist und in der keine Prinzessinnen vorkommen, die von ihren Prinzen auf Handen getragen werden:

„Der Durchschnittseuropaer (...) weib von Indien .. .nur wenig. Aber auch der durch- schnittliche Indienreisende (.) bleibt nur allzu gem in den Klischees hangen. In Wien die Lipizzaner und Schonbrunn - in Indien die Elefanten und das Taj Mahal. Die Reisen finden ... im Kopf statt, und die Realitat bleibt auf der Strecke.“ (Emmer 1997: 10)

Ich werde in dieser kulturwissenschaftlichen und filmanalytischen Arbeit dieser Realitat im Schatten von Tausendundeiner Nacht, im Schatten des Bollywood-Marchen- Kommerzes, nachgehen.

Das Medium Film soll dabei dennoch das Fenster fur die Betrachtung bilden, denn ab- seits der offentlich prasenten Hochglanz-Fantasien des Mainstream-Kinos gibt es Filme, die ein anderes Indien zeigen.

Fire von Deepa Mehta ist ein solcher Film. Als Fire im November 1998 in Indien in die Kinos kam, rief er nach kurzer Zeit einen - politisch gelenkten - Sturm der Entrustung hervor. Die Regisseurin wurde als Nestbeschmutzerin beschimpft und mit dem Tode bedroht. Deepa Mehta hatte es gewagt, Tabus zu brechen, indem sie an den Monumen- ten der indischen Gesellschaft - Familie und Ehe - ruttelte, das Bild des Patriarchen demontierte und die Frauen dazu ermutigte, eigene Wege zu gehen, abseits der Unter- werfung unter die von Mannern gemachte Tradition.

Fur diese Untersuchung werde ich durch das Fenster des Films Fire einen tieferen Blick in die urbane indische Gesellschaft werfen. Innerhalb des Betrachtungsausschnitts wer­de ich explizit der Frage nachgehen, was der Film Fire uber die Lebensumstande von[2] Frauen in der stadtischen Mittelschichtgesellschaft Indiens aussagt. Dazu werde ich mittels einer Filmanalyse die zentralen Aussagen des Films herausarbeiten und diese Aussagen in Relation zu wissenschaftlichen Erkenntnissen uber die indische Gesell- schaft setzen. Dabei werde ich die filmdramaturgischen Aspekte des indischen Kinos berucksichtigen.

Zunachst werde ich kurz uber die fur die Filmanalyse verwendete Methodik referieren, bevor ich im Hauptteil der Arbeit in der gebotenen Kurze einige allgemeine Grundlagen zum indischen Kino der Gegenwart und zum Werk von Deepa Mehta der eigentlichen Filmanalyse voranstelle.

Zugunsten von Lesbarkeit und inhaltlicher Stringenz werde ich im Hauptteil uber die in der Analyse ermittelten Rollenbilder, die Figureninteraktion und uber die festgestellten Realitatsbezuge referieren, wahrend sich die vollstandige szenische Analyse im Anhang befindet. Die Ergebnisse der szenischen Filmanalyse werde ich exemplarisch in Bezug zu den recherchierten literarischen Quellen setzen.

Im Schlussteil werde ich die Resultate der Analyse im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit darstellen und bewerten.

Stand der Forschung

Den umfassenden Rahmen des Forschungsfeldes bilden zum einen der indische Film als nationale Kunstform und dabei - in Abgrenzung zum exemplarischen Betrachtungsge- genstand - insbesondere Bollywood, und zum anderen die kulturethnologische, kultur- geschichtliche und sozialwissenschaftliche Forschung zur Situation von Frauen in In- dien und zu den verschieden definierten Rahmenbedingungen dieser Situation.

Die thematische Fokussierung des Forschungsfeldes erfolgt uber den spezifischen Be- trachtungsgegenstand, den Film Fire von Deepa Mehta.

Zum indischen Film und dort insbesondere zu Bollywood gibt es mittlerweile umfassen- de Literatur mit einer stetig wachsenden Zahl von Werken, wobei zwischen wissen­schaftlichen Werken und devotionaler „Fan-Literatur“ scharf zu trennen ist. Die hier verwendete Literatur zu diesem Forschungsaspekt stammt uberwiegend aus dem eng- lischsprachigen Raum, zu dem im literarischen Sinne auch Indien zu rechnen ist.

Bei der an sich uberreichlich vorhandenen kulturethnologischen, kulturgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Literatur erfolgt die Eingrenzung uber den Bezug auf die Situation von Frauen in Indien, erganzt um forschungsrelevante Aspekte der Gegen- wartskultur und der Kulturgeschichte.

Zu den Filmen von Deepa Mehta existiert bislang sehr wenig wissenschaftliche Litera­tur. Aus diesem Grund habe ich fur die Filmanalyse auch online verfugbare Quellen herangezogen: Interviews, Zeitungsberichte und Essays. Der kritischen Betrachtung dieser Quellen kommt besondere Bedeutung zu, um den wissenschaftlichen Anspruch dieser Arbeit nicht zu beeintrachtigen. Um hier nicht zu sehr von eventuell schwer zu bewertenden Fremdquellen abhangig zu sein, wurden wichtige Informationen uber ei- nen standigen Austausch mit der Regisseurin und mit dem ausfuhrenden Produzenten David Hamilton verifiziert.

Methoden und Aufbau

Die methodische Basis der Untersuchung ist die systematische Filmanalyse zu Fire. Ich werde mich dabei im ubergreifenden Rahmen an der Methodik von Helmut Korte (Kor- te 2004) orientieren. Diese sieht die Einbeziehung relevanter externer Faktoren in die Filmanalyse vor.

Auf diese Weise konnen Faktoren sowohl auf der Seite der Filmentstehung wie auch auf der rezeptiven Ebene berucksichtigt werden.

Korte unterscheidet bei der Analyse vier ineinander verzahnte Bereiche:

1. Filmrealitat (Inhalt, Form, Handlung)
2. Bezugsrealitat (Verhaltnis der filmischen Darstellung zur Realitat)
3. Bedingungsrealitat (Kausalitat der Entstehung hinsichtlich der historischen Situation, unter Berucksichtigung von Inhalt und Form)
4. Wirkungsrealitat (dominante zeitgenossische Rezeption / heutige Rezeption)

Der Schwerpunkt der Analyse von Fire wird auf der Ermittlung der Filmrealitat und der Bezugsrealitat liegen.

Fur die Detailanalyse der Beziehungsstrukturen der Figuren in der Filmrealitat und fur die Erfassung kultureller Besonderheiten habe ich die Szenenanalyse mit Elementen aus der Methodik nach Lothar Mikos (Mikos 2003) erganzt.

Hier stand vor allem der Ansatz im Vordergrund, die immanente Filmanalyse am spe- ziellen Erkenntnisinteresse auszurichten und somit einer ausufernden und zu unspezifi- schen Detailanalyse vorzubeugen.

Aus beiden methodischen Ansatzen habe ich ein Analyse-Werkzeug entwickelt, zu dem sich im Anhang (Szenische Filmanalyse) nahere Erlauterungen befinden.

Weiterhin habe ich mit Deepa Mehta und mit David Hamilton im August und Septem­ber 2007 mehrere fernmundliche Gesprache zur Erorterung von Details gefuhrt, die in die Analyse und Interpretation eingegangen sind.

Die Bedingungsrealitat beinhaltet die Frage nach der Intention der Regisseurin, die zu- gleich Drehbuchautorin von Fire ist. Hierfur werde ich Material aus alteren Interviews mit Deepa Mehta und aus den eigenen Erorterungen mit Deepa Mehta und David Ha­milton heranziehen.

Fur die Evaluation der Wirkungsrealitat werde ich neben Abschnitten aus den verwen- deten Monografien zeitgenossische Zeitungsberichte uber die Ereignisse und Reaktio- nen bei der Veroffentlichung des Films heranziehen, weiterhin auch spater erschienene, daruber reflektierende Artikel aus der Fachpresse.

Die Arbeit wird die Bereiche der Bedingungsrealitat und der Wirkungsrealitat im Rah- men der Analyse berucksichtigen, aber sie werden keine Kernbereiche darstellen.

Zu Gunsten besserer Lesbarkeit und zur Vermeidung von Redundanzen werde ich die Untersuchungsbereiche der Filmrealitat und der Bezugsrealitat in Bezug auf den jewei- ligen Betrachtungsaspekt in direkter Abfolge gegenuber stellen.

I. Hauptteil

1. Deepa Mehta

1.1 Vita

Deepa Mehta wurde 1950 in Amritsar im Bundesstaat Punjab/Indien, nahe der Grenze zu Pakistan, als Tochter eines Filmhandlers und Kinobesitzers geboren. Als Hindus mussten die Eltern 1947 aus dem Pakistan zugeschlagenen Teil Indiens in das indische Hoheitsgebiet im Punjab fliehen. 1952 wurde ihr Bruder Dilip geboren.

Deepa Mehta studierte bis 1971 Philosophie an der Universitat Delhi. In dieser Zeit lernte sie Paul Saltzman kennen, einen kanadischen Regisseur und Produzenten. Mit ihm wanderte sie 1973 nach Kanada aus und heiratete ihn im gleichen Jahr.

Noch 1973 grundete sie mit Paul Saltzman und Dilip Mehta die Filmproduktionsfirma Sunrise Films Ltd.

Aus ihrer Ehe mit Paul Saltzman ging eine Tochter, Devyani Mehta-Saltzman (*1980), hervor. Die Ehe wurde 1995 geschieden (Kanda 2003: 2).

Zwischen 1975 und 1986 trat Deepa Mehta als Regisseurin oder Autorin kaum in Er- scheinung. Sie hatte Probleme mit der eigenen Identitat als Immigrantin und Angehori- ge einer Minderheit sowohl in Kanada wie auch in Indien, wo sie jetzt zu den NRIs ge- zahlt wurde, den Non-Resident Indians (Desai 2004: 185).

Wahrend ihres Scheidungsprozesses, der zwei Jahre in Anspruch nahm, schrieb Deepa Mehta das Drehbuch zu Fire.

Am 13. Juni 2006 wurde ihr fur ihre kritische filmische Auseinandersetzung mit den indischen Frauenrechten die Ehrendoktorwurde der juristischen Fakultat der Universitat in West-Ontario/Kanada verliehen.

Deepa Mehta gilt heute als Kanadas international bekannteste Regisseurin (Levithin 2002: 273). Eigentlich muss man sie jedoch als eine Diaspora-Kulturproduzentin be- greifen, denn als Angehorige zweier Staaten steht sie fur einen kosmopolitischen Trans- nationalismus, der ihr auf der einen Seite Zugang zu verschiedenen Sichtweisen ge-[3] wahrt, auf der anderen Seite aber auch kritische Fragen nach kultureller Authentizitat provoziert. Insbesondere im Bezug auf ihren Film Fire musste sich Mehta den Vorwurf gefallen lassen, unter einem „Mangel an Intimitat“ mit ihrem Heimatland zu leiden (De- sai 2004: 185)

1.2 Filmografie

Deepa Mehtas Karriere begann 1973. Zunachst schrieb sie Drehbucher fur Kinderfilme, dann arbeitete sie vor allem an Dokumentarfilmen. 1974 war sie fur das Drehbuch und den Schnitt bei der Dokumentation The Bakery verantwortlich, bei der ihr Mann Regie fuhrte. Es folgte ein Dokumentarfilm (At 99: A Portrait of Louise Tandy Murch, 1975) und - nach einer langen Pause - eine Dokumentation uber die Arbeit ihres Bruders (Travelling Light: The Photojournalism of Dilip Mehta, 1986).[4]

Zwei Jahre spater stieg Deepa Mehta als Co-Regisseurin fur Martha, Ruth & Edie in die Spielfilmproduktion ein. Es schlossen sich kleinere Regiearbeiten fur Serienproduktio- nen an, namentlich fur eine Episode der kanadischen TV-Serie The Twin (1988) und die Regie fur vier Folgen der Serie Danger Bay (1988 - 1989). Als alleinige Regisseurin fur einen vollstandigen Spielfilm debutierte sie 1991 mit Sam & Me.[5] Der Film gewann eine Auszeichnung auf dem Filmfestival in Cannes.

Steven Spielberg engagierte sie 1993 fur die Regie einer Folge von The Young Indiana Jones Chronicles (Benares, January 1910). 1994 folgte der Film Camilla mit Jessica Tandy und Bridget Fonda in den Hauptrollen. 1995 arbeitete sie nochmals fur Spielberg als Regisseurin fur The Young Indiana Jones Chronicles in dem Fernsehfilm Travels with Father. Sie fuhrte Regie fur den Abschnitt Greece (ausgestrahlt 1996).

Im gleichen Jahr begann Deepa Mehta die Dreharbeiten an ihrer Elements-Trilogie mit dem Film Fire. Sie war auch erstmals selbst fur das Drehbuch verantwortlich und damit alleinig fur die kunstlerische und inhaltliche Leitung. Der Film gewann 14 internationa­le Auszeichnungen.

1998 setzte sie die Trilogie mit Earth /1947 fort, wobei sie wiederum allein fur Dreh- buch und Regie verantwortlich zeichnete. Dieses Prinzip der kunstlerischen Alleinver- antwortung behielt sie bei allen ihren folgenden Filmen bei.

Water sollte die Trilogie im Jahr 2000 abschlieBen, aber der Film konnte wegen massi- ver, politisch gelenkter und gewalttatiger Proteste nicht gedreht werden. Davon schock- iert und frustriert, verfilmte Deepa Mehta 2002 mit Bollywood/Hollywood eine harmlo- se Komodie mit leichten Seitenhieben auf die indische Mainstream-Filmproduktion und auf indische Traditionen. Dem schloss sich 2003 mit Republic of Love ein Liebesdrama an, basierend auf einem Roman von Carol Shields.

Erst 2004 nahm Deepa Mehta geheim und unter strengen Sicherheitsvorkehrungen die Dreharbeiten zu Water wieder auf, diesmal auf Sri Lanka. Ende 2006 kam Water auch in die deutschen Kinos und erhielt eine Oscar-Nominierung fur den besten auslandi- schen Film bei den Academy Awards 2007.

Gegenwartig arbeitet Deepa Mehta an einem Film mit dem Titel Exclusion, der nach einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1914 das Schicksal indischer Fluchtlinge auf einem Schiff vor der Kuste Kanadas beleuchtet. Die Veroffentlichung ist fur 2008 vor- gesehen.

2. Das indische Kino der Gegenwart

Fur die bessere Einordnung des Films Fire erfolgt hier zunachst ein kurzer Uberblick uber den indischen Film, seine Verbreitung, Rezeption und Entstehungsbedingungen. Die Darstellung muss sich dabei darauf beschranken, einen allgemeinen Einblick in das Forschungsfeld zu gewahren, ohne dieses in seiner ganzen Komplexitat erfassen zu konnen.

2.1 Bollywood und die indische Filmindustrie

Das indische Kino kann auf eine uber hundertjahrige Geschichte verweisen. Als „Vater des indischen Kinos“ gilt Dhundiraj Govind Phalke (1870-1944). Der gelernte Lithograf und Fotograf sah um 1910 einen franzosischen Passionsfilm - Life of Christ - im Kino in Indien. Er war so beeindruckt davon, „Augenzeuge“ des Werkes und der Leiden Christi geworden zu sein, dass er sich fortan autodidaktisch am Filmemachen versuch te.[6] Er bediente sich thematisch an der reichen indischen Mythologie und Geschichte, weshalb Phalke in Indien als derjenige gilt, der „die indische Tradition auf Celluloid“ gesichert hat. Seine Einflusse reichen jedoch vom traditionellen indischen Sanskrit- Theater uber den „westlichen“ Film bis hin zur Fotografie (Schulze 2003: 12f.). Phalke war es auch, der 1918 eine Art Standard fur gutes indisches Kino festlegte:

„The concept for a good film requires a story full of rasa[7], divinity and virtue, giving a real/accurate view of existence/the world, effortlessly showing the true path. This is no easy task, but by the grace of God the mute will speak in dulcest tones and the lame will scale the mountain peak.” (Schulze 2003: 10)

Aus diesen hehren Anfangen hat sich die groBte Kino-Industrie der Welt entwickelt. Die Filme aus Indien turmen sich zu einem jahrlichen Berg von 800 bis 1000 Neuveroffent- lichungen, von denen etwa 150 bis 200 aus Bombay kommen, das seit 1995 Mumbai heiBt (Ganti 2004: 3; Uhl/Kumar 2004: 12). „Bollywood“ ist eine Verballhornung von „Bombay“ und „Hollywood“ und rekurriert damit auf den okonomischen und massen- medialen Siegeszug des Bombay-Kinos. Die Filme aus Mumbai werden in der Sprache Hindi veroffentlicht, weshalb alternativ zu „Bollywood“ auch vom Hindi-Kino gespro- chen wird. Es existieren daneben noch viele andere lokale Kino-Industrien, teils mit kaum geringerem ProduktionsausstoB, etwa das tamilische Kino oder das Telegu-Kino aus dem Bundesstaat Andra Pradesh, das Bengali-, Kannada- und Malayalam-Kino. Diese regionalen Industrien bedienen jeweils einen eigenen Sprachraum in Indien - Telegu wird beispielsweise von etwa 75 Millionen Menschen in Indien gesprochen - und sind zum Teil ahnlich kommerzialisiert wie das Hindi-Kino. Hindi sprechen in In- dien geschatzte 370 Millionen Menschen als Muttersprache, weitere 155 Millionen als Zweitsprache, insgesamt uber 600 Millionen im sudasiatischen Sprachraum. Zu der Verbreitung des Hindi als Zweitsprache hat das Bollywood-Kino mit seiner Popularitat in Indien wesentlich beigetragen (Tharoor 2005: 162f.).

Dabei sind es die zeitgenossischen Bollywood-Filme, wie sie etwa seit Beginn der 90er produziert werden, die das westliche Bild des aufstrebenden Indiens mit seiner faszinie- renden Mischung aus exotischer Tradition und westlich orientierter Modernitat pragen. Der Beginn der 90er Jahre markiert einen technologischen und kulturellen Wendepunkt in Indien, denn zu dieser Zeit verbreitete sich in den groBeren Stadten mehr und mehr das Satelliten-Fernsehen, so dass der Einfluss westlicher Medien auf die nationale Me- dienproduktion zunahm. Gleichzeitig kam es in den westlichen Landern mit groBerem indischen Diaspora-Anteil zu einem Bollywood-Boom. In Singapur, London, Toronto, Moskau, New York, Chicago, Los Angeles, San Francisco und etlichen weiteren GroBs- tadten in der ganzen Welt entstanden neue Kinos, die ausschlieBlich indische Filme zeigten. Schon bald verdienten die indischen Filmproduktionsfirmen an der Veroffentli- chung und Auffuhrung ihrer Filme in den westlichen Landern mehr als am indischen Markt (Ganti 2004: 38f.).

Diese plotzliche „Globalisierung“ des Bollywood-Films wirkte sich auch auf dessen Inhalte aus. Waren zuvor noch Klassenunterschiede, Armut, okonomischer Uberlebens- kampf und Krieg mogliche Themen, so verschwanden diese nun fast ganzlich aus dem Repertoire. Der Fokus speziell der Familien-Melodramen und der Romanzen - der so genannten family entertainers“ - lag nun auf gesellschaftlichem Wohlstand[8]. Die Pro- tagonisten gehorten nicht mehr der Arbeiterklasse oder niedrigeren Mittelklasse-Kasten an, sondern waren plotzlich unvorstellbar reich, fur gewohnlich die Sohne und Tochter von Millionaren. Kamen doch mal Angehorige der Arbeiterklasse vor, so waren sie meist die Ursache fur Konflikte oder Probleme.[9] AuBerdem gibt es seit den 90ern kaum noch die Darstellung von Verbrechern oder Verbrechen im Bollywood-Film, so dass auch die Notwendigkeit der Darstellung des Staates und seiner Reprasentanten ent- fallt.[10] Auch die Rollenzuweisungen veranderten sich: War etwa der wohlhabende Ge- schaftsmann in den Filmen der 50er bis 80er Jahre noch der Verursacher von Ungerech- tigkeit, Ausgrenzung und Kriminalitat, so ist er in den 90ern zum geduldigen, liebenden und liebenswurdigen Familienvater mutiert (Ganti 2004: 39).

Das typische Bollywood-Melodram entwickelt sich seither um eine - heterosexuelle - Liebesgeschichte herum, oft eine Dreiecksgeschichte, bei der Klassenunterschiede keine Rolle spielen, weil die Protagonisten der gleichen Klasse angehoren.[11] Die Spannung entsteht aus dem Gegensatz familiarer Erwartungen und personlichen Begehrens in Be- zug auf eine bevorstehende Heirat bzw. eine entflammte Liebe, die von den strengen Eltern zunachst nicht toleriert wird. Auch in der Konfliktauflosung hat sich der Hindi- Film im Zuge Globalisierung verandert, wobei hier eine Tendenz zu einer konservative- ren Geisteshaltung zu beobachten ist. War in fruheren Filmen die Rebellion der Jugend gegen die altere Generation ein gern verwendetes Thema, so uberwiegen nun Geschich- ten, in denen junge Paare wieder in den Schutz und die Tradition der Familie zuruck- kehren. Die Betonung des indischen Nationalstolzes im zeitgenossischen Hindi-Film ist unubersehbar. Immer haufiger werden auch die in der Diaspora lebenden Inder themati- siert, ihr Verhalten unter dem Einfluss der westlichen Moderne und wie sie die moderne Lebensweise mit ihrer Heimatliebe in Einklang bringen (Kruger 2004: 5).

Die indische GroBfamilie - die „joint family“[12] einschlieBlich ihrer sporadisch im Aus- land lebenden Angehorigen - und die Wahrung der Familienwerte, sowie die Festigung indischer Traditionen bilden die Kernelemente moderner Melodramen, die den uber- wiegenden Anteil der Bollywood-Produktion ausmachen (Ganti 2004: 40f.).

Religiose Aspekte sind aus dem indischen Mainstream-Film nicht wegzudenken, ebenso wenig wie Musik- und Tanzeinlagen. In Bezug auf Religion und Mythologie hat sich der Fokus von der Darstellung des Wirkens der Gotter auf das Leben der Menschen hin zur Visualisierung von Religiositat gewandelt. Religiose Vorgange und Zeremonien werden als Bestandteil des Alltags der Protagonisten gezeigt und auch mit deren mo derner Lebensweise in Einklang gebracht.[13]

Auch in den Liedern und Tanzszenen druckte sich ursprunglich eine gewisse Religiosi­tat aus, in ihrer Sensibilitat und Denkweise (Dwyer 2006: 149), aber in modernen Bol- lywood-Filmen hat zunehmend eine MTV-Videoclip-Asthetik Einzug gehalten, bei der exotische Kulissen und erotische Kostume und Andeutungen im Vordergrund stehen. Beliebtes Stilmittel sind „Wet Sari“-Szenen, in denen die Darstellerinnen bekleidet im Meer oder einem Fluss baden.

Die Songs sind in Indien ein entscheidender kommerzieller Aspekt, was wesentlich dar- auf zuruckzufuhren ist, dass Musik obligatorischer Bestandteil der indischen Alltagskul- tur ist. Alle wichtigen Momente des Lebens - Geburten, Hochzeiten, Totenfeiern - sind mit Musik und Tanz verbunden (Dudrah 2006: 47f.). Jeder neue Film benotigt daher sechs oder sieben gute Songs, verbunden mit ausgefallenen Tanzsequenzen, um an der Kinokasse zum Erfolg zu werden. Entsprechend liegt der Fokus hier nur noch sekundar auf einer emotionalen Untermalung des Filmplots oder der Gefuhle der Protagonisten, sondern vor allem auf der Verkaufsforderung (Uhl/Kumar 2004: 22). Dennoch stellen Bollywood-Filme aber keine Musicals dar, auch wenn oft die Musik fur die Filme noch vor den Dreharbeiten komponiert wird. Es ist auBerdem ublich, dass die Filmmusik bis zu drei Monate vor dem Filmstart veroffentlicht wird, um die Melodien bereits im po- tenziellen Publikum zu etablieren. Die Musik der Bollywood-Filme gehort in indischen Stadten zur Klangkulisse des offentlichen Alltags (Dudrah 2006: 48; Ganti 2004: 78ff.).

Die Kommerzialisierung der Filmwirtschaft und die Ausrichtung der Filmproduktion auf die Profitmaximierung haben allerdings im Laufe der Zeit dazu gefuhrt, dass ein GroBteil der neu entstehenden Filme nach einem analytisch ermittelten Erfolgsrezept aufgebaut wird, das eine stilistische und dramaturgische Gleichformigkeit bewirkt.[14]

Mittlerweile scheint der Begriff „Bollywood“ mehr und mehr zu einem Synonym fur eine globale indische Popkultur zu werden, zu der nicht mehr nur die Filme auf Mumbai gehoren, sondern die globale Distribution einer durch die Filme positiv imaginierten exotischen Kultur (Dudrah 2006: 30f.). Hier soll jedoch nicht unerwahnt bleiben, dass es innerhalb des nationalen indischen Films neben dem kommerziellen auch ein kunstle- risch anspruchsvolles Kino gibt, das so genannte Parallel Cinema, dessen herausragen- de Vertreter Satyajit Ray und Mrinal Sen sind (Gregor 1992: 12).

Die Filme Deepa Mehtas werden aber dem Diasporic Cinema zugeordnet, was sie im Prinzip weder im Mainstream, noch im Parallelkino verortet, da dies inhaltliche Zuord- nungen innerhalb eines nationalen Kinos sind, das sich uber den Drehort des Films so- wie die Nationalitat und den Wohnort der Verantwortlichen und der Mitwirkenden defi- niert.[15] Dem Diasporic Cinema sind auch die im Westen sehr erfolgreichen Filme Mon­soon Wedding von Mira Nair (2001) und Kick it like Beckham von Gurinder Chadha (2002)[16] zuzurechnen, die zwar den Siegeszug des Bollywood-Kinos im Westen mit eingelautet haben, diesem aber selbst nicht angehoren.[17]

2.2 Zensur

„It’s [i.e. Film; ed.] very significant, in India especially, because it’s the cheapest form of entertainment in our country. So it can form a lot of opinions, it can change the way people think, definitely it can. (...) ... I think we should be slightly more socially aware in our films than we are now ., because we shouldn’t lose sight of the fact that we are here to entertain people. (...) But then also we shouldn’t lose sight of the fact that we are dealing to a country which feeds on Hindi films, which breathes Hindi films, which does take its Hindi films very seriously, so we should not have things in our film which might have any negative influence on society.” Aditya Chopra, Filmregisseurn[18]

Jeder Film, der in Indien veroffentlicht werden soll, muss vom Central Board of Film Certification, der staatlichen Zensurbehorde, uberpruft werden. Die Einrichtung geht auf den British Code of Censorship zuruck, den GroBbritannien 1918 auch in allen Ko- lonien etablierte. Im gleichen Jahr wurde der Indian Cinematograph Act gesetzlich ver- ankert, der neben der Zensur die Vergabe von Kinolizenzen regelte (Uhl/Kumar 2004: 131). Die Aufgaben der Zensurbehorde unterlagen im Laufe der Zeit mehrfachem Wan- del. Hatte sie zunachst die Wahrung des Ansehens der Kolonialmacht zum Ziel, kam ab 1940 die Aufgabe hinzu, die Darstellung der aufkeimenden Unabhangigkeitsbewegung in Filmen zu verhindern. Nach der Erlangung der Unabhangigkeit veranderten sich die Aufgaben wiederum: Jetzt wurde daruber gewacht, dass Filme nicht die offentliche Ordnung und Sicherheit im noch jungen Staat gefahrdeten, dass Beziehungen zu ande- ren Staaten nicht belastet wurden und offentlicher Anstand und Moral gewahrt blieben. 1953 wurde ein Passus eingefugt, der es verschiedenen staatlichen Institutionen erlaubt, die Auffuhrung von bereits von der Zensurbehorde zertifizierten Filmen dennoch zu untersagen (Uhl/Kumar 2004: 132). Seitdem wurden die Richtlinien kaum mehr veran- dert[19], was dazu fuhrte, dass sich die Gutachter mit der Zeit immer weniger an den Richtlinien orientierten, sondern immer starker an ihrer tradierten Praxis. In einer Un tersuchung wurde 1968 festgestellt, dass kein einziger indischer oder westlicher Film in Indien hatte veroffentlicht werden durfen, hatten sich die Zensoren wortgetreu an den Zensurrichtlinien orientiert. Dennoch kam es zu keiner Anderung der Richtlinien, und noch heute bildet die „gangige Praxis“ die Basis fur die Beurteilungen (Uhl/Kumar 2004: 133). Im Laufe der Zeit haben auch die Regisseure diese Praxis verinnerlicht, so dass Inhalte, die AnstoB erregen konnten, in freiwilliger Selbstbeschrankung vermieden werden (Ganti 2004: 194f.). So gibt es in Mainstream-Filmen praktisch keine Kusssze- nen, weil das Kussen auf den Mund vielerorts als intime Handlung angesehen und in der Offentlichkeit als anstoBig empfunden wird.[20]

Die Zensurbehorde vergibt vier verschiedene Zertifikate:

U: Universal oder Unrestricted; Zertifikat fur Filme ohne jeglichen anstoBigen Inhalt. Enthalt keine oder nur sehr geringe Gewaltdarstellung und „Sinnlichkeit“.

U/A: Unrestricted with adult accompaniment; Zertifikat fur Filme mit moderater Ge­waltdarstellung, Sprache oder Sinnlichkeit. Es konnten Anteile enthalten sein, die fur Kinder unter 12 Jahren nicht geeignet sind.

A: Adults; Zertifikat fur Filme mit extremer Gewaltdarstellung, Sexualitat (einschlieB- lich teilweiser Nacktheit), Furcht einfloBenden Bildern und expliziter Sprache.

S: Special; seltenes Zertifikat fur Filme, die einer bestimmten Klasse vorbehalten sind.

2.3 Verbreitung

Gerade weil die aufmerksame Zensur dafur sorgt, dass indische Filme einem religios- konservativen Moralkodex genugen, der keine Kusse auf den Mund und auch keine Nacktheit erlaubt, haben Bollywood-Filme ein uber Indien weit hinaus reichendes Ver- breitungsgebiet. Indische Filme werden nach China, Ostasien und in die gesamte islami- sche Welt exportiert, von Marokko bis Indonesien. Sie werden uberall in Sudasien ge- sehen, in den Maghreb-Landern in Nordafrika, in Sudamerika, Osteuropa und in Russ- land. Hinzu kommen die Lander, in denen viele NRIs leben, also Kanada, die USA und GroBbritannien, sowie vermehrt westliche Lander mit einem wachsenden „Fan-Publikum“, insbesondere Deutschland (Kruger 2004: 4; Dudrah 2006: 30). Die weitaus meisten in Hindi gedrehten Filme werden fur die Exportlander entsprechend untertitelt. Fur die Lander mit einem groBer werden westlichen Publikum kommen zunehmend auch synchronisierte Fassungen auf den Markt.

2.4 Rezeption in Indien

Die landeseigenen Filme haben in Indien einen hohen Stellenwert fur die Freizeitgestal tung, wobei aber deutlich zwischen der stadtischen Mittelklasse-Bevolkerung und der Landbevolkerung unterschieden werden muss.[21]

Der Kinobesuch in einer GroBstadt wie Delhi oder Mumbai gilt als ein Ereignis mit ho- hem Erlebniswert fur die ganze Familie. Die Eintrittspreise sind recht niedrig[22], die Vorfuhrung folgt einem festgelegten Muster: Nach der Werbung kommt ein staatlich verordneter Dokumentarfilm, dann erst der Hauptfilm, der traditionell in der Mitte fur eine Pause unterbrochen wird (Uhl/Kumar 2004: 13, 14).

Die Rezeption des eigentlichen Films weist in Indien einige Eigenheiten auf, die in der tiefen Verwurzelung des Kinos in der Alltagskultur begrundet sind. Bei einer Erstauf- fuhrung verfolgt das Publikum den Film mit einem HochstmaB an Aufmerksamkeit, um moglichst kein Detail zu versaumen. Der Besuch von Erstauffuhrungen gilt besonders bei jungeren Kinogangern als auBerst prestigetrachtig. Etwa ab der zweiten Ausstrah- lungswoche beginnen sich die Publikumsreaktionen deutlich zu verandern. Jetzt spre- chen eingeweihte Zuschauer die Dialoge mit und singen sogar die Lieder, wozu sie deutlich die Stimmen erheben. Das Erscheinen der Hauptdarsteller auf dem Bildschirm wird mit Applaus begruBt, und als besonders gelungen empfundene Darbietungen wer­den mit einem lauten „wahwah“ - auf Hindi „sehr gut“ oder „groBartig“ - gelobt (Uhl/Kumar 2004: 14). Hier uberschreitet das Kinoerlebnis die Grenze der passiven Rezeption hin zu einer aktiven Mitwirkung der Zuschauer, aus der die eigentliche Ge- samtrezeption entsteht. Nur aus der Kenntnis dieser besonderen Art der Rezeption lasst sich auch nachvollziehen, warum indische Mainstream-Filme einer anderen Dramatur gie folgen als westliche Filme.[23] Die Rezeption westlicher Filme folgt auch in Indien dem bei uns bekannten Muster, ohne die fur indische Filme typischen Reaktionen - al- lerdings mit einer Pause in der Filmmitte (Uhl/Kumar 2004: 14f.).

Der Kinobesuch ist in den Stadten ein fester Bestandteil der Freizeitgestaltung, der in den Tagesablauf zwischen Schule oder Beruf und dem heimischen Alltag integriert wird. Tag fur Tag besuchen zwischen ein und zwei Prozent der indischen Bevolkerung - das sind uber 10 bis 20 Millionen Menschen[24] - die etwa 9.000 stadtischen Kinos[25]. Viele weitere Menschen in den landlichen Gegenden kommen ebenfalls in den regel- maBigen Genuss indischer Filme, wenn ihre Dorfer von einem der schatzungsweise 4.500 „fahrenden Kinos“ - oft nur ein Moped mit einem Anhanger, ausrollbarer Lein- wand und einem Projektor - besucht werden.

Wenn man also in Rechnung stellt, dass ein erheblicher Teil der indischen Bevolkerung regelmaBig und sehr haufig ins Kino geht, so liegt die Vermutung nahe, dass die Rezi- pienten eine sehr enge Beziehung zu den Filmen und zu den Stars haben. Aufgrund die- ser engen Beziehung tritt ein erstaunlicher Umkehreffekt ein: Die Filme werden zu ei­nem Bestandteil der Alltagskultur und bilden nicht etwa eine vorhandene Realitat ab, sondern sie verursachen eine Veranderung der Realitat, weil die Rezipienten ihr Gedan- kengut, ihre moralischen Vorstellungen und ihr Sozialverhalten aus den Filmen schop- fen, und ihre Handlungen am Verhalten und den Dialogen der Stars orientieren (Ganti 2004: 192, 199). Das geht uber einen bloBen Eskapismus, wie er verschiedentlich schnell diagnostiziert wird (z.B. Alexowitz 2003: 16), ein Stuck weit hinaus. Indische Soziologen wie R. K. Dudrah konstatieren, dass die Filme zur Identitatsbildung nicht nur der Rezipienten als Individuen, sondern zur Identitatsbildung der ganzen Nation beitragen. Nach dieser Auffassung setzen die Filme inhaltlich an der den Rezipienten bekannten Gegenwart an und bieten ihnen Identifikationsmoglichkeiten auf dem kleins- ten, einfachsten gemeinsamen Nenner, und entwerfen von dieser Position aus ein positi- ves, modernisierendes Zukunftsbild mit einer dem allgemeinen Konsens entsprechenden Wertevermittlung (Dudrah 2006: 121, 123). Da dies einen „Wertekanon“ - der auch uber die gangige Zensurpraxis definiert wird - voraussetzt, konnte man die Bollywood- Filme auch als ideologische Filme betrachten, etwa in ihrer Vermittlung eines hetero- normativen Ideals fur das geschlechtliche Zusammenleben (Dudrah 2006: 122).

2.5 Rezeption im Westen

Im Westen konnten Filme aus Bollywood zuerst in den Regionen FuB fassen, in denen sich eine groBere Anzahl von NRIs niedergelassen hat. Die indische Diaspora gilt als eine der am schnellsten wachsenden in der Welt. 2002 schatzte Vijay Mishra die Ge- samtzahl der im Ausland lebenden Inder auf uber 11 Millionen, davon 1,5 Millionen in Europa (1,3 Mio. allein in GroBbritannien). Dabei ist zwischen der Diaspora der Kolo- nialzeit und der postkolonialen Diaspora des globalisierten Marktes zu unterscheiden. Wahrend die alte Diaspora vornehmlich in den fruheren britischen Kolonien zu finden ist, richtete sich die zweite Diaspora-Bewegung der 60er Jahre auf die Metropolen der fruheren Kolonialmacht, auf Nord- und Sudamerika und Australien (Mishra 2002: 235).

Diese neue Diaspora, die groBen Wert auf eine enge Bindung an das Heimatland legt, stellt den wesentlichen Absatzmarkt fur Bollywood-Filme auBerhalb Indiens dar. Die NRIs betrachten die Bollywood-Filme als „ein Stuck Heimat“ und als eine Imagination kultureller Solidaritat uber die Grenzen der Sprachen und der nationalen Unterschiede innerhalb der Diaspora-Gemeinde hinweg (Mishra 2002: 237).

Nach gangiger Ansicht vermitteln die Bollywood-Filme in ihrer formelhaften Gleichar- tigkeit einen Eindruck indischer Werte, Traditionen und gegenwartiger Entwicklungen (Kruger 2004: 4; Kaur 2005: 311 et al.). Bei eben dieser Vermittlung von Werten, ver- bunden mit der Annahme, dass Rezipienten indischer Filme unabhangig von ihrer na­tionalen Herkunft eine eigenstandige Rezeptionskompetenz entwickeln (Rajadhyaksha 2005: 268ff.), zu der auch eine uber den temporaren Eskapismus hinaus gehende Adap­tion von Werten und Vorstellungen fur das Alltagsleben gehort, durfte auch die Faszina- tion zu verorten sein, die Bollywood-Filme fur westliche Rezipienten haben. Es scheint dabei kein Zufall zu sein, dass gerade die romantischen Filme im Westen so erfolgreich sind. Die darin erzahlten Liebesgeschichten sind dabei, in Bezug auf Indien, „kein Spie­gel gesellschaftlicher Verhaltnisse. Vielmehr kippen sie den offiziellen ,Sittenkodex’, der die Beziehungen zwischen den Geschlechtern festlegt. (...) Liebesgeschichten wer- den so zu Tragern unserer versteckten Bedurfnisse und verdeckten Sehnsuchte. Die Lie- besgeschichte, ob nun im Film oder in Erzahlungen, ist ein Traum von einer Liebe, die frei ist von alien auBeren Beschrankungen und inneren Hemmungen“ (Kakar 2006: 65f.). Was Sudhir und Katharina Kakar hier fur die indischen Rezipienten annehmen, lasst sich auch auf ein westliches Publikum ubertragen.

Die Bollywood-Filme wecken Assoziationen von romantischer Liebe, so rein und un- verfalscht, dass sie kaum real sein, von der man aber wenigstens eine Weile traumen kann. Die Traumartigkeit des Bildes ist dabei fur westliche Rezipienten direkt mit der exotischen, marchenhaften Ausstrahlung Indiens verbunden, wodurch die Vision ro­mantischer Liebe aus der nuchternen Realitat entruckt wird (Emmer 1997: 9).

Alexowitz konstatiert - etwas ubertrieben und ohne kritische Distanz - eine „Indisie- rung des Abendlandes“ und vermutet die Ursachen bei „Werteverfall, Arbeitslosigkeit, Desorientierung und Zukunftsangst“, denen die Bollywood-Filme „Lebensfreude, Exo- tik und Aufbruchstimmung“ entgegen setzen. Hinzu komme die Vermittlung von Wer- tevorstellungen, „die in diesen Kulturen einen hoheren Stellenwert besitzen als bei uns. Man denke da an Familiensinn, Tugend, Ehre und Respekt“ (Alexowitz 2003: 196).

In Bezug auf die Rezeption von Bollywood-Filmen im Westen gibt es bisher nur wenige Untersuchungen, die sich vor allem auf GroBbritannien als „Ursprungsland“ des Bolly- wood-Booms beziehen. Dieser Boom machte sich dort erstmals 2002 so bemerkbar, dass er sich auch in der Berichterstattung der Massenmedien niederschlug. Im Mai 2002 wurden in London und Manchester uber einen Monat lang in verschiedenen Laden Pra- sentationen indischer Mode durchgefuhrt, beworben in TV, Radio und Printmedien. Im Juni 2002 wurde in London das Musical Bombay Dreams von Andrew Lloyd Webber uraufgefuhrt. Etwa zur gleichen Zeit veroffentlichten englische Popstars Songs mit in- disch assoziierten Versatzstucken. Der Trend setzte sich auch im folgenden Jahr fort. In englischen TV-Serien tauchten jetzt vermehrt Episoden mit Bollywood-Thematiken auf und britische Modehersteller brachten von Bollywood inspirierte Kleidung heraus. Um die Filme und die Stars herum entwickelte sich ein Sekundarmarkt, der praktisch alles feilbietet von Fan-Zeitschriften und Postern uber Bettwasche bis hin zum originalge- treuen Nachbau eines Star-Badezimmers. Wahrend sich der „Bollywood-Hype“ in den Medien wieder verfluchtigte, wurden die Filme und die damit assoziierten Merkmale Bestandteil der Alltags- und Konsumkultur (Dudrah 2006: 117f.).

Die deutschen Medienrezipienten scheinen sich in Bezug auf Bollywood-Filme recht eindeutig in „Uninteressierte“ und „Fans“ aufzuteilen, wobei Frauen von der Gesamt- zahl der Bollywood-Rezipienten etwa 80% ausmachen.[26] Die „Fans“ entwickeln uber ihre Filmleidenschaft hinaus auch ein verstarktes Interesse fur Indien an sich und fur die uber die Filme assoziierten Merkmale indischer Kultur: Sie interessieren sich fur indi- sche Musik, fur indischen Schmuck, Kleidung und Accessoires, kaufen in indischen Lebensmittelladen ein (Alexowitz 2003: 198), wo sie neben indischem Essen auch hau- fig Raubkopien vieler Bollywood-Filme kaufen konnen. Im Internet gibt es mittlerweile etliche deutschsprachige Foren, in denen sich die Fans uber die Filme, uber ihre Lieb- lingsschauspieler, Musik, Indien als Land, Kleidung, Schmuck und indischen Kitsch austauschen oder sich zum gemeinsamen Kinobesuch verabreden.[27]

Eine empirische Untersuchung des Rezeptionsverhaltens westlicher Zuschauer wahrend der Kinovorstellung existiert meines Wissens bisher nicht[28]. Eigene Beobachtungen bei Kinobesuchen in Bremen und auf einem funftagigen indischen Filmfestival in Stutt­gart[29] vermitteln den Eindruck, dass das deutsche Publikum zum uberwiegenden Teil deutlich den Bollywood-Mainstream bevorzugt und bei der Rezeption dazu neigt, die mittlerweile auch hier hinreichend bekannten indischen Rezeptionsgewohnheiten zu imitieren, also nicht still und konzentriert der Filmhandlung zu folgen, sondern diese durch extrovertierte Emotionen zu begleiten und zu kommentieren. Auch werden be- liebte Filme mehrfach angesehen, sowohl im Kino wie auf DVD, so dass auch deutsche Fans schlieBlich in der Lage sind, die Dialoge nachzusprechen oder Lieder mitzusingen. Dennoch funktioniert die Integration des Bollywood-Lebensstils in den Alltag nicht reibungslos, da die sozialen Zusammenhange und die umgebende Gesellschaft dafur in der Regel nicht adaquat sind. So bleiben die meisten Bollywood-Fans „Freizeit-Wahl Inder“, die sich auBerhalb ihrer Wohnung oder des Kinos umgebungskonform kleiden und verhalten.

Gegenwartig gibt es in der Bollywood-Filmindustrie eine Tendenz, sich noch starker dem westlichen Markt anzupassen und die ansonsten traditionell mit etwa drei Stunden sehr lange Spielzeit bei neuen Produktionen zu verkurzen. Damit durften die Filme ein groBeres Massenpublikum ansprechen und im Westen die Grenze von der eingeschwo- renen Fan-Nische hin zum allgemeinen, von westlichen Sehgewohnheiten gepragten Publikum uberschreiten. Damit folgen die Bollywood-Produzenten einer Entwicklung, die von Regisseurinnen wie Deepa Mehta und Mira Nair vorgegeben wurde - allerdings tun sie das aufgrund rein kommerzieller Erwagungen.

3. Filmanalyse: Fire (1996)

Entsprechend dem schematischen Aufbau der Analyse nach Mikos werde ich nachfol- gend zunachst auf die Umstande der Entstehung des Films Fire eingehen, bevor die Analyse der Filmrealitat hinsichtlich der eingangs formulierten Fragestellung und die ausfuhrliche Gegenuberstellung der indischen Lebensrealitat erfolgen. Zum Schluss des Kapitels werde ich auf die Reaktionen auf den Film im Westen und in Indien eingehen.

3.1 Bedingungsrealitat: Entstehung und Hintergrund

„It came about in part because I had a real desire to de-mystify India. The India of the British Raj, of Maharajaz and beautiful Princesses surrounded by abject poverty just does not exist anymore. I wanted to make a film about contemporary, middle-class In­dia, with all its vulnerabilities, foibles and the incredible, extremely dramatic battle that is waged daily between the forces of tradition and the desire for an independent, indi­vidual choice.” Deepa Mehta, 1997 (zitiert nach Margetts 1997)

Fur eine umfassende Filmanalyse ist es erforderlich, moglichst alle Kontextfaktoren der Entstehung des Filmes hinsichtlich ihres moglichen Einflusses auf die Produktion sowie die inhaltliche und formale Gestaltung zu beleuchten. Nachfolgend liegt der Fokus der Betrachtung vor allem auf den personlichen Beweggrunden der Regisseurin und deren Ursachen, einschlieBlich der Stellung des Films innerhalb ihres Gesamtwerks, sowie auf[30] dem historischen Kontext der Filmentstehung. Weitere Faktoren, wie etwa die Stellung des Films im Vergleich zu anderen, ahnlich gelagerten Filmen des Zeitraums und zur zeitgenossischen Filmproduktion, konnen nur am Rande berucksichtigt werden.

3.1.1 Personliche Bedingungen

Deepa Mehta begann 1993 das Drehbuch fur Fire zu schreiben. Zu dieser Zeit befand sie sich im Scheidungsprozess mit ihrem Ehemann Paul Saltzman. Die Ehe wurde 1995 geschieden (Kanda 2003: 2). Etwa in diese Zeit fallt auch die Fertigstellung des Dreh- buchs. Entsprechend reflektiert das Drehbuch, wie Deepa Mehta selbst angibt, ihre ei- gene Einstellung und ihr emotionales Befinden hinsichtlich der Gebundenheit in einer Ehe[31]. Sie hielt sich wahrend der Entstehungsphase des Drehbuchs in Kanada und in Indien auf (Desai 2004: 160).

Gleichzeitig war das Drehbuch zu Fire, verbunden mit dem Vorhaben, daraus einen Film zu schaffen, fur den Deepa Mehta die alleinige kreative Entscheidungstragerin sein wurde, der Grundstein fur ihre Karriere als unabhangige Filmemacherin. Die Entschei- dung zu unabhangiger kreativer Arbeit resultierte dabei nicht allein aus dem Loslo- sungsprozess von ihrem Ehemann, der auch ihr Geschaftspartner war, sondern auch daraus, dass sie mit dem Schnitt des Spielfilms Camilla (1993) unzufrieden war, fur den sie als Regisseurin engagiert worden war (Levitin 2002: 276).

Fire war jedoch nicht als fur sich allein stehender Spielfilm geplant, sondern als Auftakt einer Trilogie, deren Grundidee ebenfalls in der fur Fire relevanten Entstehungszeit entwickelt wurde. Deepa Mehta hatte sich vorgenommen, mit den drei Spielfilmen die Unterdruckung der indischen Frauen durch die drei gesellschaftlichen Elemente Traditi­on, Politik und Religion abzubilden. Diesen ordnete sie sinnbildhaft die drei Elemente Fire, Earth und Water als Filmtitel zu.

Auffallig ist, dass sich Mehta dabei an der indischen Geschichte abarbeitet, beginnend in der Gegenwart (Fire), gefolgt von der indischen Unabhangigkeit 1947 mit den Pog- romen zwischen Moslems und Hindus (Earth) und der Situation indischer Witwen in Benares um 1930 (Water). Ihr fur 2008 erwarteter Spielfilm Exclusion ist im Jahr 1914 angesiedelt, wendet sich aber starker der verdrangten kanadischen Geschichte zu, indem er das Schicksal indischer Kriegsfluchtlinge vor der Kuste Kanadas beleuchtet.

Aus diesen Zusammenhangen wird ein Vorgang der Selbstreflexion der Regisseurin deutlich, die sich thematisch an ihrer indischen Herkunft und ihrem eigenen Lebenslauf als kanadische Immigrantin und Angehorige der indischen Diaspora abarbeitet.

Fire wurde 1995/1996 an Originalschauplatzen in Indien gedreht. Er wurde aus indi­schen und nordamerikanischen Quellen finanziert (Desai 2004: 160). Mehta war es of- fenbar wichtig, mit ihrem Film aus den medialen Klischees auszubrechen: „Ich denke, es war wichtig, ein Bild des gegenwartigen Mittelklasse-Indiens zu zeichnen, nicht ein hungerndes Indien, nicht ein exotisches Indien.“ (Desai 2004: 176, Ubers.: Verf.)

3.1.2 Historische Bedingungen

Die erste Halfte der 90er Jahre war in Indien von sehr unterschiedlichen Ereignissen bestimmt. Politisch wurde sie vom Aufflammen starker nationalistischer Stromungen gepragt. Bereits 1989 hatte eine „Koalition der Nationalen Front“ die Regierung der Kongresspartei unter Rajiv Gandhi besiegt und bildete fortan eine Minderheitenregie- rung unter V.P. Singh von der nationalistischen Janata-Partei (BJP). 1991 wurde Rajiv Gandhi von einem tamilischen Selbstmordattentater ermordet. Die Wahlen spulten wie- der die Kongresspartei an die Macht. Die politische Instabilitat begunstigte jedoch die Hindu-nationalistischen Stromungen. Im Dezember 1992 kam es zur Zerstorung der Babri-Moschee in Ayodhya durch einen Hindu-Mob. Dies fuhrte zu schweren Ausei- nandersetzungen zwischen Hindus und Moslems in mehreren indischen Stadten. Die Spannungen hielten 1993 an; es kam sogar zu Bombenexplosionen in Bombay. Die Kongresspartei konnte sich nur mit Muhe an der Macht halten; es kursierten Geruchte uber Bestechungen von Oppositionellen (Tharoor 2005: 13f.).

Wahrend Indien in eine politische Krise steuerte, erlebte der religiose Extremismus eine Blutezeit. Die Auseinandersetzung der Hindus mit den Moslems bewirkte eine verstark-[32] te Hinwendung von Teilen der Bevolkerung zum Hindu-Nationalismus, also der Ver- bindung der religiosen Identitat mit dem Nationalstolz.

Die politischen und religiosen Unruhen spiegelten aber auch den in den 90er Jahren verstarkt einsetzenden Prozess der Integration Indiens in die globalisierte Welt. So soll- te Indien 1996 Austragungsort fur die Cricket-Weltmeisterschaften und fur die Wahlen zur Miss World werden (Tharoor 2005: 14). Eine uber Jahrtausende gewachsene tradi- tionelle, religiose Kultur wurde in den wenigen Jahrzehnten nach der Unabhangigkeit mit der vollen Wucht des globalisierten, modernen und tendenziell sakularen Westens konfrontiert, was zu gesellschaftlichen Umwalzungen fuhren musste. Die Auseinander- setzung einer religios gepragten Kultur mit der eindringenden marktwirtschaftlichen Moderne spielte sich dabei vor allem in den wachsenden GroBstadten ab, in denen sich eine neue Mittelschicht herausbildete, die am wirtschaftlichen Aufschwung und starke- rer Konsumorientierung teilhaben wollte, ohne ihre kulturellen Wurzeln preiszugeben.

3.1.3 Das indische Diaspora-Kino

Die Verortung von Fire innerhalb einer nationalen oder transnationalen Kinokultur fallt allgemein schwer. Die indischen und die westlichen - kanadischen - Einflusse sind nachweisbar, insofern konnte man der Ansicht Jigna Desais folgen, die den Film sowohl im sudasiatischen Diaspora-Kino wie auch im sudasiatischen Kino selbst einordnet (De- sai 2004: 161). Damit steht Fire im Rahmen der Diaspora-Regisseure, die mit Beginn der 90er Jahre ihre Kameras „zuruck“ auf das Heimatland richteten, um die dortigen Veranderungen in Zeiten der Globalisierung abzubilden, etwa Manoj Nelliyattu Shya- malan (Praying with Anger, 1992), Mira Nair (Kama Sutra/A Tale of Love,1997; Salaam Bombay!, 1998; Monsoon Wedding, 2001), Jagmohan Mundhra (Bawandar / The Sand Storm, 2000), Nagesh Kukunoor (Hyderabad Blues,1998; Bollywood Cal­ling, 2001; Teen Deewarein / Three Walls, 2003; Hyderabad Blues 2 - Rearranged Marriage, 2004) und der Pakistaner Khamosh Pani (Silent Water, 2003).

Eine Kategorisierung als kanadischer Film kam dagegen nicht in Frage - jedenfalls nicht fur die kanadische Filmforderung. Dafur hatte der Film in Kanada mit uberwie- gend kanadischen Schauspielern gedreht werden mussen. So mussten die 1,6 Mio. Dollar fur den Film aus privaten Quellen kommen.

3.2 Die Filmrealitat und ihre Bezugsrealitat

Die Erfassung der Filmrealitat erfolgt in Form einer ubergreifenden Auswertung der Filmanalyse von „Fire“ (siehe Anhang) hinsichtlich der eingangs formulierten Frages- tellung. Nach einem kurzen Uberblick uber die Filmhandlung und ihre dramaturgischen Wendungen werde ich die im Film gezeigten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Figuren und ihre Beziehungen untereinander analysieren und in Bezug zur indischen Lebensrealitat setzen, wie sie sich in der verwendeten Fachliteratur darstellt.

Die Bezugspunkte der Filmrealitat zur indischen Lebensrealitat sind durch die Angaben der literarischen Quellen gekennzeichnet.

Film- und Tontechnik werden in diesem Abschnitt keine gesonderte Erwahnung finden, weil sie nach den Erkenntnissen der vorgenommenen Filmanalyse von Fire fur den Be- trachtungswinkel dieser Arbeit eine untergeordnete Rolle spielen. Sofern diese Aspekte fur einzelne Szenen Bedeutung haben, ist dies in der Szenenanalyse im Anhang ver- merkt. Die Szenenreferenzen sind jeweils in Klammern angegeben.

3.2.1 Filmhandlung und Dramaturgie

Die junge Inderin Sita kommt durch eine arrangierte Ehe mit dem Geschaftsmann Jatin in eine Mittelschicht-Familie in Neu Delhi. Die Familie, in der neben Jatin auch sein alterer Bruder Ashok mit seiner Frau Radha, sowie die Mutter der beiden Bruder und der Hausangestellte Mundu gemeinsam unter einem Dach leben, betreibt einen Schnell- imbiss und nebenbei eine Videothek.

Radha und Ashok sind seit 16 Jahren verheiratet. Radha kann keine Kinder bekommen; ihr frustrierter Ehemann Ashok hat sich deshalb schon nach drei Jahren Ehe einem Guru zugewandt, um seinen Korper und Geist von fleischlichen Gelusten zu befreien. Radha leidet darunter, erfullt aber ergeben ihre Pflicht als Ehefrau und Schwiegertochter.

Die Ankunft Sitas in der GroBfamilie lost nachhaltige Veranderungen aus.[33]

Jatin ist die Ehe mit Sita nur um der Familie Willen und wegen des Wunsches Ashoks nach einem mannlichen Erben eingegangen - er trifft sich weiter mit seiner Geliebten Julie, ohne es Sita ernsthaft zu verheimlichen. Sita fuhlt sich von ihm abgelehnt.

Anstatt sich jedoch in ihr vorgezeichnetes Schicksal als pflichtbewusste Mutter zu fu- gen, begehrt Sita auf. Radha nimmt sich als altere Schwagerin ihrer an. Sitas Lebenslust und ihre modernen Ansichten wecken in Radha neues Selbstbewusstsein. Die beiden von ihren Lebenspartnern zunehmend frustrierten Frauen wenden sich immer mehr ei- nander zu, werden zu Freundinnen und schlieBlich, nach einer unbeobachtet miteinander verbrachten Nacht, zu heimlichen Geliebten, die mehr und mehr gegen die Bevormun- dung durch die Manner aufbegehren.

Die nach einem Schlaganfall gelahmte und stumme Mutter Biji beobachtet das Treiben ihrer Sohne und derer Frauen und „kommentiert“ es auch durch Mimik und Gestik, meist aber ohne bemerkt oder ernst genommen zu werden.

Auch der Hausangestellte Mundu ist nicht glucklich. Er wird in der Familie nicht als Mensch wahrgenommen, sondern als Inventar. Dabei beobachtet er die Vorgange in der Familie missgunstig und ist uber alle Verwicklungen informiert. Heimlich begehrt er Radha, die fur ihn aber unerreichbar ist. Er verschafft sich Erleichterung durch Mastur­bation. Als er dabei von Radha erwischt wird, lost dies eine dramatische Wende aus.

Der drohende Verlust der Existenzgrundlage und die letztendliche Erkenntnis, Radha niemals besitzen zu konnen, treiben Mundu dazu, Radha und Sita an Ashok zu verraten. In einem dramatischen Akt der Ablosung verlassen Radha und Sita das Haus ihrer Ehemanner, um eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.

3.2.2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

„It is quite obvious that issues such as marriage, the economic and social role of women, social aspects of gender equality, and the relationship between elders and their descendants are not only components of cinematic dramaturgy, but also palpable aspects of social change in real life.” (Kruger 2004:3)

Die indische Gesellschaft ist ein vielschichtiges Konstrukt unterschiedlicher Gruppen, die wesentlich durch drei hierarchische Prinzipien determiniert sind: Religion, Sozial- status und Geschlecht.[34] Die Determinanten bedingen und beeinflussen einander, so dass eine getrennte Betrachtung hinsichtlich ihrer Bedeutung fur die Lebensrealitat von Frauen in der indischen Mittelschicht schwierig ist. Aber sie sind auch untereinander hierarchisch geordnet.

Die indische Mittelklasse umfasst etwa 200 bis 300 Millionen Menschen[35] und stellt kein homogenes Forschungsfeld dar: Im Suden des Landes sind die Frauen uberwiegend starker am Leben ihrer Ehemanner beteiligt[36] und die Bevolkerung kleinerer Stadte weist zumeist eine etwas traditionellere Lebensweise auf als die in groBeren Stadten. Aber dennoch sind die Gemeinsamkeiten der Mittelklasse auffalliger als ihre Unter- schiede in Kaste, Sprache oder Religion (Kakar 2006: 46f.).

Nach einer grundlegenden Betrachtung des hierarchischen Ordnungsprinzips der Hindu- Gesellschaft sollen im Nachfolgenden die Lebensumstande der indischen Frauen der Mittelschicht in den jeweils unterschiedlichen Kontexten der Gesellschaft allgemein und der Familie im Besonderen , die Geschlechterverhaltnisse, die Erziehung im Eltern- haus sowie die sozialen Beziehungen von Frauen untereinander, die Situation in der Ehe und die Relevanz der Sexualitat naher beleuchtet werden. Diese Bereiche sind unterei­nander eng verzahnt und gegenseitig bedingend. Die getrennte Betrachtung in unter­schiedlichen Abschnitten erfolgt demnach vor allem aus Grunden der Ubersichtlichkeit und der besseren Fokussierung auf die einzelnen Aspekte der Lebensrealitat.

3.2.2.1 Tradition, Religion, Kastenwesen

Die Tradition ist in der Sozialisierung der Inder fest verankert. Traditionelle Werte, die fur Hindus mit der Religion eng und unlosbar verzahnt sind, sind obligatorische Be- standteile des Selbstverstandnisses (Uhl/Kumar 2004: 135). Aus diesem Grund losen sich junge Inder und Inderinnen nicht von ihrem Elternhaus, indem sie dessen tradierte Werte anzweifeln. Eine teilweise Individualisierung im Zuge des Erwachsenwerdens erfolgt uber die „Dehnung“ traditioneller Werte (Kakar 2006: 19f.).[37]

Religion und Tradition kommen im indischen Film uber die Darstellung von Hindu- Ritualen zum Ausdruck und werden haufig zum thematischen Schauplatz einer Ausei- nandersetzung zwischen Hindu-Religion, Tradition und der Modernisierung der urbanen Gesellschaft. Kruger (2004: 5) weist darauf hin, dass im Bollywood-Film eine noch recht neue Tendenz zu beobachten sei, eine „geeinte Nation“ uber das „Konstrukt of- fentlicher Zeremonien, Symbole, Institutionen und Diskurse“ darzustellen.

Auch Fire behandelt die Aspekte von Tradition und Religion, verwendet sie jedoch in einem anderen Kontext. Die Tradition spielt im Leben der Familie eine groBe Rolle. Gelegentlich findet sie in Ritualen einen visuellen, ritualisierten Ausdruck (Sz. 07 et al.), aber meist beherrscht sie als immanentes, aber nicht sichtbares Konstrukt das Ge- schehen und die Interaktionen.

So ist die Familie in Fire traditionell organisiert. Biji fungiert als Vertreterin der altes- ten Generation innerhalb der Familie nominell als Oberhaupt, dem alle anderen Fami- lienmitglieder Respekt schulden, aber das eigentliche Oberhaupt ist der alteste Sohn Ashok, der in der Nachfolge seines Vaters steht.

In der Hierarchie folgt Jatin als zweiter Sohn, wobei ihm Radha als Ehefrau des alteren Sohnes und Familienoberhauptes im Rang nicht nachsteht. Ihre Aufgabenbereiche sind so weit getrennt, dass sie im Alltag kaum miteinander zu tun haben und eine Hierarchi- sierung im Grunde nicht greift. In geschaftlichen Dingen hat Radha aber offenbar wenig Einfluss auf die familiaren Entscheidungen. Dort sind die Verantwortlichkeiten traditio­nell nach Geschlecht definiert: Die Manner kummern sich um die finanziellen oder wirtschaftlichen Aspekte, die Frauen arbeiten in der Kuche.

Sita als jungste Frau in der Familie markiert das Ende der verwandtschaftlichen Hierar­chie. Sie muss Ashok als Familienoberhaupt gehorchen, Jatin als ihrem Ehemann und Radha als der alteren Schwiegertochter. Ihre Integration in die familiaren Arbeitspro- zesse im Haus und in der Kuche erfolgt obligatorisch und ohne Alternative (Sz. 16).

[...]


[1] Gerhard Emmer weist darauf hin, dass diese Entwicklung im Grunde schon viel alter ist und auf die amerikanischen Filme der 50er Jahre zuruckgeht („Der Tiger von Eschnapur“), die ein Indien der Palaste und Moguln zeigen (vgl. Alltagskulturen in Indien 1997: 9).

[2] Die Marchenerzahlungen aus Tausendundeiner Nacht sind im Kern vermutlich indischen Ursprungs und wurden erst spater in Mittelpersische ubertragen und verschriftlicht. Sie gehen auf Erzahlungen zuruck, die dem indischen Dichter und Dramatiker Kalidasa zugeschrieben werden. Die Geschichten wurden um altpersische Erzahlungen erganzt und im 7. Jahrhundert im persischen Buch Hazar Afsan („Tausend Er- zahlungen“) zusammengefasst und im 8 Jahrhundert ins Arabische Alf Ayla („Tausend Nachte“) ubersetzt und islamisiert, d.h. mit islamischen Formeln und Zitaten angereichert. Es gibt keinen einheitlichen Ur- text, sondern eine offene Geschichtensammlung, zu der im 11. und 12. Jahrhundert weitere Erzahlungen aus dem arabischen Raum kamen. Die alteste erhaltene Handschrift stammt von 1450. Dieser fugte der franzosische Orientalist Antoine Galland in einer Veroffentlichung um 1710 weitere Geschichten hinzu, etwa die beruhmten Erzahlungen Ali Baba und die 40 Rauber, Sindbad der Seefahrer und Aladin und die Wunderlampe. Galland entfernte bei seiner Ubersetzung alle religiosen und erotischen Konnotationen aus den Erzahlungen und machte so „Marchen“ daraus (vgl. u. a. Tharoor 2005: 284, 407; Chanda 2007: 13).

[3] In einigen Quellen wird das Geburtsjahr auch mit 1949 angegeben, was jedoch unzutreffend ist (Pin- now-Locnikar 2007b).

[4] Quelle: www.imdb.com (Datum des letzten Besuchs: 28.02.2007)

[5] Das Drehbuch zu Sam & Me, der in Kanada spielt, verfasste Ranjit Chowdhry, der in Fire den Hausan- gestellten Mundu darstellt. In Sam & Me spielte er auch die Hauptrolle, den jungen indischen Immigran- ten Nikhil.

[6] Spater reiste er auch nach London, um Materialien zu kaufen und sich bei anderen Filmemachern weite­re Kenntnisse zu verschaffen (vgl. Dwyer/Patel 2002: 13)

[7] „rasa“ ist ein schwer zu ubersetzender Begriff, der etwa als Wohlgeschmack, emotionale Bewusstheit oder als sensitive Resonanz des Betrachters begriffen werden kann. Die „rasas“ haben ihren Ursprung im traditionehen indischen Theater (vgl. Schulze 2003: 11; Gargi 1960: 27f.)

[8] Das Familien- oder Gesellschaftsmelodram war schon seit den 40er Jahren das dominierende Genre in Indien und verdrangte mehr und mehr die religiosen oder mythologischen Filme (vgl. Dwyer 2006: 138).

[9] Die Dalits („Unberuhrbare“) kommen fur gewohnlich gar nicht im Film vor, es sei denn, der Film be- fasst sich exemplarisch mit einer Aufwertung der Kastenlosen, wie etwa Lagaan aus dem Jahr 2001 (vgl. Dwyer 2006: 140)

[10] Es gibt aber durchaus die Genres der Action- und auch Gangsterfilme, die sich mit dem Thema Krimi- nalitat befassen (vgl. Ganti 2004: 41).

[11] Kruger verweist darauf, dass es in der Tat schwierig ist, uberhaupt einen Bollywood-Film zu finden, der auf das Erzahlen einer Liebesgeschichte verzichtet (Kruger 2004: 4).

[12] In einer indischen , joint family“ leben wenigstens zwei erwachsene Generationen zusammen in einem Haushalt. Im Bollywood-Film werden fur gewohnlich Familien mit drei Generationen dargestellt: z.B. ein verheiratetes Paar mit seinen noch unverheirateten Tochtern, den Sohnen und Schwiegertochtern, und den Enkelkindern, die alle gemeinsam unter einem dach leben (vgl. Ganti 2004: 232).

[13] Sehr schon zu sehen ist das beispielsweise in dem weithin bekannten Referenzfilm In guten wie in schweren Tagen (Kabhi Kushi Kabhie Gham/Somtimes happy, somtimes sad, 2001), in dem sich in der im Zentrum der Handlung stehenden GroBfamilie westliche Lebensweise und unverhaltnismaBiger Reichtum mit Traditionsbewusstsein und emotional aufgeladener Religiositat verbinden (vgl. Pinnow-Locnikar 2005: 17)

[14] Uhl/Kumar 2004: 16. Zur Schematisierung dramaturgischer Stilmittel vgl. Pinnow-Locnikar 2005: 10f.

[15] Desai 2004: 160. Verschiedentlich tauchen aber auch andere Zuordnungen auf, bis hin zu einer fal- schlichen Klassifizierung von Fire als Bollywood-Drama (Jha 2005: 82).

[16] Englischer Titel: Bend it like Beckham (Quelle: www.imdb.com, Datum des letzten Besuchs: 25.10.2007)

[17] Erste erfolgreiche Diaspora-Filme waren Mein wunderbarer Waschsalon (1985) und Sammy und Rosie tun es (1987) von Hanif Kureishi, auBerdem Salaam Bombay (1988) von Mira Nair, der in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde (Uhl/Kumar 2004: 159).

[18] Zitat aus einem Interview vom 2. April 1996 (Ganti 2004: 193)

[19] Die geltende Fassung des Cinematography Act stammt von 1962 (vgl. Gangoli 2005: 145f.)

[20] Alexowitz (2003: 90) behauptet sogar, in Indien werde der Kuss mit dem Geschlechtsakt gleichgesetzt. Er sei „etwas rein Sexuelles und nicht, wie bei uns, ein Zeichen der Zuneigung, das nicht sehr viel mehr bedeutet als ein Handeschutteln. Aus diesem Grunde bedeutet, sich in der Offentlichkeit zu kussen, of- fentlich Sex zu haben.“ Dabei scheint sie jedoch irrefuhrend den begruBenden Kuss auf die Wange mit dem intimen Kuss auf den Mund zu vergleichen.

[21] Emmer (1997: 11f.) weist darauf hin, dass die Landbevolkerung so etwas wie „Freizeit“ nicht kennt.

[22] Etwa 25 bis 60 Rupien (umgerechnet ca. 0,50 bis 1,05 Euro) in normalen Kinos, etwa 100 bis 150 Ru- pien in modernen Multiplex-Kinos (Uhl/Kumar 2004: 12).

[23] Die Rezeption indischer Filme ist ein noch relativ neues Forschungsfeld. Aktuelle Ansatze gehen davon aus, dass die Rezipienten - unabhangig von ihrer Staatsangehorigkeit - eine andere „reading competence“ (Rezeptionskompetenz) entwickelt haben, basierend auf der Geschichte des indischen Films und seiner tradierten dramaturgischen Besonderheiten. Die dramaturgischen Elemente der Filme sind wiederum auf diese besondere Rezeptionskompetenz zugeschnitten (Rajadhyaksha 2005: 268ff.).

[24] Uber die Zahl der taglichen Kinobesucher gibt es verschiedene Schatzungen, die zwischen 1% / 10 Mio. (Uhl/Kumar 2004: 15f.) und 2% / 23 Mio. (Rajadhyaksha 2005: 267) schwanken. Alexowitz ging 2003 von nur drei Millionen aus (Alexowitz 2003: 16).

[25] Uhl/Kumar gehen von insgesamt 13.000 Kinos aus, von denen zwei Drittel feste Spielstatten sind (Uhl/Kumar 2004: 15), wahrend Alexowitz die festen Spielstatten mit 8.400 und die Gesamtzahl mit 11.962 angibt (Alexowitz 2003: 17).

[26] Im November 2004 zeigte RTL2 den Film In guten wie in schweren Tagen in einer synchronisierten Fassung zur besten Sendezeit. Die errechnete Einschaltquote betrug 6,9% bzw. 1,82 Mio. Zuschauer. Unter den 14 -49-Jahrigen betrug der Marktanteil sogar 11,9%. Ein Ruckschluss auf die ungefahre An- zahl der Bollywood-Fans auf Basis dieser Zahl ist zwar nicht zulassig, aber es lasst sich immerhin ein allgemeiner Eindruck vom Interesse an Bollywood-Filmen gewinnen (Pinnow-Locnikar 2005: 4).

[27] Beliebte Foren sind z.B. „Bollywoodforum.de“ (www.bollywood-forum.de), das „Bollywood-Forum“ (www.bollywoodforum.ch/forum/) oder „Bolly-Wood.net“ (www.forum.bolly-wood.de) Datum des letz- ten Besuchs: 30.10.2007).

[28] Eine jungst von der osterreichischen Kulturwissenschaftlerin Birgit Pestal veroffentliche empirische Studie untersucht zwar grundlich den Markttrend im deutschsprachigen Raum und ermittelt durch eine Umfrage unter Fans in einem Bollywood-Internetforum die Auspragung der Leidenschaft, gibt jedoch leider keinen Aufschluss uber das Rezeptionsverhalten, sofern es uber eine generelle Hinwendung zu oder Ablehnung von Bollywood-Filmen hinaus geht [Pestal, Birgit (2007). Faszination Bollywood. Zahlen, Fakten und Hintergrunde zum „Trend“ im deutschsprachigen Raum. Marburg: Tectum Verlag].

[29] „Bollywood & Beyond“, 3. - 7. Juli 2006

[30] Online-Quelle: http://www.bollywoodsbest.de/wbb2/thread.php?postid=56468#post56468 (Datum des letzten Besuchs: 31.10.2007)

[31] Levitin 2002: 277; Deepa Mehta sprach in Interviews haufiger daruber, wie schwer es ihr gefallen sei, sich das Scheitern ihrer Ehe einzugestehen. Das habe ihr auch deutlich gemacht, wie sehr sie auch nach Jahren im Ausland noch dem indischen Denken verhaftet sei (Voykowitsch 2005: 110).

[32] Spuren dieser thematischen Ausrichtung finden sich auch in den anderen Filmen Mehtas, in denen sie ausreichende gestalterische Moglichkeiten hatte, ihre eigenen Kernthemen umzusetzen, etwa in Sam & Me (1991), der Intoleranz und Vorurteile in der multikulturellen Gesellschaft Kanadas behandelt, oder in Bollywood/Hollywood (2002), der - im Gewand einer romantischen Komodie - die Situation von Indo- Kanadiern darstellt, die zwischen Tradition und Familie auf der einen und der westlichen Moderne auf der anderen Seite gefangen sind.

[33] Dennoch wurde der Film auf dem Toronto-Filmfestival als Eroffnungsfilm im „Perspektive Kanada“- Programm gezeigt und erhielt sogar einen Festivalpreis (Desai 2004: 174).

[34] Eine regionale Separation erfolgt daruber hinaus durch die Sprachenvielfalt des Landes. 35 Sprachen werden von wenigstens einer Million Menschen gesprochen. Etwa 50% der Bevolkerung versteht die Sprache Hindi, was vor allem auf die Popularitat des Kinos zuruckzufuhren ist. In der Mittelschicht ge- winnt die englische Sprache an Bedeutung (Tharoor 2005: 162f.). Die Gesamtzahl aller bekannten Spra­chen und Dialekte belauft sich auf 1652 (Alltagskulturen in Indien 1996: 10)

[35] Schatzungen und Zahlenangaben sind mitunter stark schwankend. Sie reichen von 100 oder 150 Mio. bis zu 200 bis 300 Mio. Menschen (Voykowitsch 2005: 83). Eine marktwirtschaftliche Untersuchung zwischen 1986 und 1994 bezifferte die sehr reiche Oberschicht mit ca. 6 Mio. und die „konsumierende Klasse“ - die durchschnittliche Mittelschicht - mit etwa 150 Mio. Menschen. Darunter ist eine „untere Mittelschicht“ (ca. 275 Mio.) angesiedelt, dann eine Schicht der „Anwarter“ (275 Mio.), die in Europa als „arm“ gelten wurde, darunter schlieBlich die Mittellosen mit 210 Mio. Menschen (Tharoor 2005: 258f.).

[36] Dabei ist eine „Beteiligung am Leben des Ehemannes“ immer noch weit entfernt von einer annahern- den Gleichberechtigung - sie indiziert allenfalls eine Verringerung des sozialen Gefalles zwischen den Geschlechtern in einer patriarchal organisierten Gesellschaft.

[37] Im Film Fire verkorpert Jatin diesen Widerspruch zwischen familiarer Gebundenheit und dem Wunsch nach Individualisierung (vgl. 3.2.3.2, Jatin).

Ende der Leseprobe aus 127 Seiten

Details

Titel
Im Schatten von 1001 Nacht - Deepa Mehtas "Fire"
Untertitel
Indische Lebensrealität abseits der Hochglanz-Fantasie Bollywoods
Hochschule
Universität Bremen
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
127
Katalognummer
V155420
ISBN (eBook)
9783640680399
ISBN (Buch)
9783640681808
Dateigröße
1194 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine kulturwissenschaftliche Filmanalyse
Schlagworte
Bollywood, Kino, Indien, Gesellschaft, Frauen, Emanzipation, Lesbianismus, Fire, Film, Deepa Mehta, Filmanalyse
Arbeit zitieren
Holger Pinnow-Locnikar (Autor:in), 2008, Im Schatten von 1001 Nacht - Deepa Mehtas "Fire", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/155420

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