Glück auf Zeit

Der gemeinsame Lebensweg in Familien mit einem geistig behinderten Kind am Beispiel eines an Mukopolysaccharidose (MPS) erkrankten Kindes


Examensarbeit, 2002

91 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung

1 Das ’System Familie’ und seine Wechselbeziehungen mit der Umwelt
1.1 Der ökologische Ansatz von BRONFENBRENNER
1.2 Das Circumplex Model of Marital and Family Systems von OLSEN, SPRENKLE und RUSSELL
1.3 Die eigene Familiensituation
1.4 Zusammenfassung

2 Die Diagnose der Behinderung des Kindes – Eine neue Situation
2.1 Definitionen und Begrifflichkeit von „Geistiger Behinderung“
2.2 Medizinische Aspekte und Krankheitsverläufe von MPS
2.3 Reaktionen und Veränderungen der Lebenssituation nach der
Diagnose
2.3.1 Das Verlusterleben der Eltern
2.3.2 Die Verarbeitung der Behinderung nach JONAS – Trauer und Autonomie
2.3.3 Das Spiralphasenmodell der Krisenverarbeitung nach SCHUCHARDT
2.3.4 Die sozio-ökonomische Situation und Reaktionen des Umfeldes
2.4 Die eigene Familiensituation
2.5 Zusammenfassung

3 Symptomatische Therapieformen, Knochenmarktransplantation und Gentherapie bei MPS
3.1 Symptomatische Therapieformen
3.2 Knochenmarkstransplantation und Gentherapie
3.3 Die eigene Familiensituation
3.4 Zusammenfassung

4 Die Situation der Familie mit einem behinderten Kind im fortgeschrittenen Alter unter Berücksichtigung der MPS- Erkrankung
4.1 Die Situation der Eltern
4.2 Die Verarbeitung der Situation von den gesunden Geschwistern
4.3 Pathologische Rollenzuschreibungen in Familien mit einem behinderten Kind nach GUSKI
4.4 Die eigene Familiensituation
4.5 Zusammenfassung

5 Der Tod eines behinderten Kindes unter Berücksichtigung der MPS- Erkrankung
5.1 Aspekte der Trauer bei den Eltern
5.2 Aspekte der Trauer bei den Geschwistern
5.3 Die eigene Familiensituation
5.4 Zusammenfassung

6 Schlussbetrachtungen

7 Literaturverzeichnis

8 Abbildungsverzeichnis

Anhang

Adressen

0 Einleitung

Der gemeinsame Lebensweg von Familien mit einem geistig behinderten Kind unterscheidet sich in vielen Dingen vom Lebensweg einer sogenannten „normalen“ Familie. Im Rahmen dieser Arbeit soll versucht werden herauszustellen, welche Herausforderungen angenommen werden müssen und welche Hindernisse die Mitglieder der Familie bewältigen müssen, um dieses Schicksal durch die Jahre hindurch zu meistern. Ich selbst bin die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens Bruder einer behinderten Schwester gewesen, die dann verstorben ist. Sie litt an einer genetisch bedingten Krankheit mit Namen Mukopolysaccharidose. Diese Erfahrung hat mich grundlegend geprägt und sicherlich auch meinen Berufswunsch, Lehrer an einer Schule für geistig behinderte Menschen zu werden, mitbestimmt. Darüber hinaus stellte sie für mich die Motivation dar, die Examensarbeit über den gemeinsamen Lebensweg von Familien mit einem geistig behinderten Kind zu schreiben. So hatte ich die interessante Möglichkeit, meine Erfahrungen mit den in der Literatur beschriebenen Theorien und Fallbeispielen zu vergleichen.

Diese Examensarbeit versucht, sich allgemein auf Familien mit einem geistig behinderten Kind zu beziehen. Immer wieder wird jedoch besonders auf das Beispiel eines Kindes mit Mukopolysaccharidose eingegangen.

Das erste Kapitel befasst sich mit dem ’System Familie’ allgemein. Hier sollen die Ausgangsbedingungen geklärt werden, die bestehen, noch bevor ein behindertes Kind in die Familie hineingeboren wird. Es wird aufgezeigt, dass eine Familie mit all seinen Mitgliedern vielfältigen Einflüssen unterliegt, und dass deren Funktionieren - auch ohne ein behindertes Kind - entscheidend dafür ist, wie ein späterer gemeinsamer Lebensweg mit einem behinderten Kind gemeistert werden kann.

Im zweiten Kapitel geht es dann um die Folgen der Diagnose Mukopolysaccharidose und der daraus resultierenden geistigen Behinderung des Kindes. Nach einem medizinischen Überblick über die Formen der Krankheit und die verschiedenen Krankheitsverläufe, wird das Verlusterleben der Eltern und der sich daran anschließende, langwierige Prozess der Bewältigung geschildert. Darüber hinaus wird auf die neue sozio-ökonomische Situation der Familie und auf die Reaktionen des Umfeldes eingegangen.

Im dritten Kapitel werden die derzeitigen Therapieformen für Kinder mit Mukopolysaccharidose vorgestellt. Früh einsetzende Behandlungsmethoden sind generell für behinderte Kinder von großer Bedeutung. Hier werden allerdings speziell jene genannt, die für MPS-Kinder in Frage kommen.

Das vierte Kapitel setzt sich dann mit der Situation der Familie auseinander, wenn das behinderte Kind ein fortgeschrittenes Alter erreicht hat. Neben den Herausforderungen und den Problemen der Eltern wird auch auf die Situation der Geschwister eingegangen. Es soll unter anderem verdeutlicht werden, wie groß das Bedürfnis der Eltern nach Akzeptanz von Seiten der Freunde, der Nachbarn oder allgemein der Gesellschaft ist, denn sie wollen sich zuallererst mit ihrem geistig behinderten Kind angenommen wissen. Dann soll aufgezeigt werden, wie wichtig es gerade für die Mütter ist, die eigene Lebensperspektive nicht aus den Augen zu verlieren, da meist sie mit der zeitaufwendigen Pflege des Kindes belastet sind. Im Hinblick auf die Geschwister wird unter anderem geschildert, von welcher Bedeutung es ist, dass diese auch mal mit ihren eigenen Interessen und Aktivitäten im Vordergrund stehen dürfen.

Im fünften Kapitel der Arbeit geht es dann um den Tod des geistig behinderten Kindes. Hier werden Aspekte der Trauer von Eltern und Geschwistern aufgegriffen und erläutert. Es soll verdeutlicht werden, welch eine grundlegende Erschütterung der Tod des Kindes für alle Familienmitglieder bedeutet, und dass ein Prozess der Trauer und der Schmerzverarbeitung dazu nötig ist, um wieder Hoffnung und neuen Lebensmut empfinden zu können.

An jedes dieser Kapitel schließt sich ein Unterkapitel an, dass ich „Die eigene Familiensituation“ genannt habe. Darin schildere ich die Erfahrungen, die meine Familie auf dem gemeinsamen Lebensweg mit meiner geistig behinderten Schwester Ursula gemacht hat. Für diesen Zweck habe ich informelle Gespräche mit meinen Eltern und meiner älteren Schwester Eva geführt. Die wichtigsten Erinnerungen von uns allen sind in diesen Unterkapiteln festgehalten.

1 Das ’System Familie’ und seine Wechselbeziehungen mit der Umwelt

Im ersten Kapitel der Arbeit soll anhand zweier Modelle dargestellt werden, welchen Einflüssen und welcher Dynamik das ’System Familie’ unterworfen ist. Die Beziehungsgeflechte innerhalb einer Familie und die Wechselwirkungen mit der Umwelt sollen herausgestellt werden. Die beiden Modelle, die dafür näher erläutert werden, sind der ökologische Ansatz von BRONFENBRENNER und das Circumplex Model of Marital and Family Systems von OLSEN, SPRENKLE und RUSSELL. Dieses Kapitel soll vor allem dazu dienen, die Voraussetzungen zu klären, die bestehen bevor ein behindertes Kind in die Familie hineingeboren wird, die aber Einfluss auf dessen Entwicklung haben werden und auch darauf, wie die Familie mit der Behinderung des Kindes umgehen wird. Gegen Ende des Kapitels schildere ich dann wie angekündigt die Situation meiner eigenen Familie.

1.1 Der ökologische Ansatz von BRONFENBRENNER

Um die Komplexität der Situation einer Familie und der sie beeinflussenden Umwelt darzustellen, bedient sich BRONFENBRENNER eines theoretischen Modells, mit dessen Hilfe er die Beziehungsgeflechte innerhalb einer Familie und die dynamischen Wechselbeziehungen zu dem sich verändernden Umfeld erfasst. Er entwirft ein Schema von vier verschachtelten und in wechselseitigem Einfluss stehenden Systemen, dem Mikrosystem, dem Mesosystem, dem Exosystem und dem Makrosystem, denen er die verschiedenen Lebensbereiche, an denen ein Mensch beteiligt ist, und deren Wechselwirkung untereinander zuordnet (vgl. BRONFENBRENNER 1981, 23f.). Dabei unterscheidet er zwischen dem Lebensbereich, der einen Menschen unmittelbar umgibt, denen, an welchen ein Mensch aktiv beteiligt ist und denen, an welchen man nicht aktiv beteiligt ist, die aber dennoch Einfluss auf die eigene Lebenssituation ausüben. Schließlich berücksichtigt BRONFENBRENNER auch den gesellschaftlichen Kontext, in den alle verschiedene Lebensbereiche eingebettet sind.

Die einzelnen Systeme sollen nun näher vorgestellt werden:

„Ein Mikrosystem ist ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“ (BRONFENBRENNER 1981, 38). Entscheidend sind dabei nicht nur die auf die Person einwirkende Situation mit ihren Objekten und die Beziehung zu den anderen im Lebensbereich anwesenden Personen, sondern auch deren Beziehungen untereinander, die einen indirekten Einfluss auf das Individuum ausüben. Es handelt sich hierbei also um die Gesamtheit der Wechselbeziehungen im unmittelbaren Erfahrungsraum eines Menschen, wie zum Beispiel der Familie, in der auch die Eltern immer wieder Entwicklungen durchmachen, nämlich dann, wenn sich die Situation ändert. Innerhalb der Familie ist die Beziehung der Ehepartner, die Beziehung der Geschwister und die Eltern-Kind-Beziehung von Bedeutung für die Entwicklung und für das Verhalten aller Familienmitglieder. BRONFENBRENNER spricht hier von Zweipersonensystemen (Dyaden), die sich gegenseitig beeinflussen (vgl. BRONFENBRENNER 1981, 21). Leben die Eltern in einer harmonischen Beziehung, so hat dies Einfluss auf das Verhalten der Kinder. Umgekehrt wirkt sich der Umgang der Geschwister untereinander auch auf das Verhalten der Eltern aus. Das Geflecht der Beziehungen in einer Familie prägt das Individuum und trägt zur Ausbildung sozialer Kompetenzen und Einstellungen bei. So überträgt sich die Einstellung der Eltern gegenüber der Behinderung eines Kindes sicher auch auf die gesunden Geschwister. Deren Umgang mit der Behinderung wird für sie zum Vorbild. Auswirkungen auf das System Familie, wie es hier verstanden wird, haben aber auch die finanziellen Strukturen, die interne Kommunikation, die Biographie der Eltern und die Zeit, welche man miteinander verbringen kann. Solche Faktoren spielen eine Rolle für das Funktionieren des ’Systems Familie’ und damit für dessen Zusammenhalt und Belastbarkeit.

Entscheidend ist im Mikrosystem, wie bei allen anderen Systemen auch, das subjektive Erleben des Lebensbereiches von allen Beteiligten, denn die eigene Theorie von der Umwelt bzw. der Familie steuert wesentlich das eigene Verhalten. Wichtig sind schließlich noch die ökologischen Übergänge, dass heißt Veränderungen der eigenen Rolle, zum Beispiel bei „Ankunft eines kleinen Bruders oder einer kleinen Schwester, der Eintritt in Kindergarten oder Schule, (...), Heirat, Kinderkriegen, Stellenwechsel“ und Ähnliches, denn nach BRONFENBRENNER „haben Rollen ganz unglaublichen Einfluss darauf, wie eine Person behandelt wird, wie sie selbst handelt, was sie tut und damit auch, was sie denkt und fühlt“ (BRONFENBRENNER 1981, 22). Während des gemeinsamen Lebensweges in einer Familie, sind daher alle Mitglieder immer wieder zu neuer Anpassung aufgerufen, wenn eine Veränderung der Situation eintritt. Jeder muss ein gewisses Maß an Flexibilität aufbringen, damit er sich mit den sich ändernden Gegebenheiten arrangieren kann.

„Ein Mesosystem umfaßt die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist (für ein Kind etwa die Beziehungen zwischen Elternhaus, Schule und Kameradengruppe in der Nachbarschaft; für einen Erwachsenen die zwischen Familie, Arbeit und Bekanntenkreis)“ (BRONFENBRENNER 1981, 41). Es handelt sich hier also um ein System von Mikrosystemen bzw. Lebensbereichen, die miteinander in wechselseitiger Verbindung stehen und an denen das Individuum selbst Anteil hat. Die Einstellung dieser Lebensbereiche und deren Anforderungen an die Eltern haben ebenfalls großen Einfluss auf das Funktionieren des ’Systems Familie’. „Ob die Eltern ihre Aufgabe, Kinder aufzuziehen, zufriedenstellend ausüben können, hängt (...) auch von Rollenanforderungen, Belastungen und Hilfen ab, die von anderen Lebensbereichen ausgehen“ (BRONFENBRENNER 1981, 23). Die Bedingungen, welche Eltern zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in Kindereinrichtungen vorfinden, beeinflussen ihre Leistungsfähigkeit als Erzieher. Die Hilfe, die ihnen von Freunden und Ämtern zuteil wird, fördert ihre Rolle als Erzieher im positiven Sinn. Bleibt diese Hilfe jedoch aus, oder stoßen die Eltern von behinderten Kindern auf Unverständnis am Arbeitplatz oder im Freundeskreis, so kann sich dies negativ auf ihr elterliches Selbstverständnis auswirken und erheblichen Stress verursachen.

„Unter Exosystem verstehen wir einen Lebensbereich oder mehrere Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person nicht selbst beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht, oder die davon beeinflußt werden“ (BRONFENBRENNER 1981, 42). Beispiele hierfür sind vom Kind aus gesehen: der Arbeitsplatz der Eltern, die Schule der Geschwister, die Einstellung von Freunden und Bekannten, Beratungsstellen, Ärzte und Behörden. Alle genannten Lebensbereiche können die Akzeptanz eines behinderten Kindes innerhalb der Familie beeinflussen.

„Der Begriff des Makrosystems bezieht sich auf die grundsätzliche formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung (Mikro-, Meso- und Exo-), die in der Subkultur oder der ganzen Kultur bestehen oder bestehen könnten, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien“ (BRONFENBRENNER 1981, 42). Es handelt sich hierbei also um den größeren Kontext, um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die sich auch auf die drei anderen Systeme und damit auf die Situation der in ihr lebenden Familie auswirken. Zu nennen sind hier: Die rechtliche und die politische Lage, finanzielle Hilfen, Angebote von Institutionen, das Gesundheitswesen, die Infrastruktur und die Gesellschaft an sich mit ihrer Kultur, ihren Normen und Erwartungen.

Der Ansatz von BRONFENBRENNER „befaßt sich mit der fortschreitenden gegenseitigen Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche“ (BRONFENBRENNER 1981, 37). Für alle geschilderten Beziehungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen und den beteiligten Personen gilt das Prinzip der Reziprozität, dass heißt der wechselseitigen Einflussnahme in beide Richtungen. Die betrachtete Umwelt, die für die Entwicklung des Individuums entscheidend ist, umfasst mehrere Lebensbereiche, nicht nur den unmittelbaren Bereich, sondern auch Lebensbereiche, an denen die Person nicht aktiv beteiligt ist, sowie deren Verbindung untereinander. Aber auch das weite gesellschaftliche Umfeld hat erheblichen Einfluss auf die Entwicklung einer Person, und damit auf die Familie und deren Mitglieder.

1.2 Das Circumplex Model of Marital and Family Systems von OLSEN, SPRENKLE und RUSSELL

Dieses theoretische Modell beschreibt das ’System Familie’ mit Hilfe zweier voneinander unabhängiger Dimensionen, der Kohäsion, die den familiären Zusammenhalt darstellt, und der Adaptabilität, welche die Anpassungsfähigkeit der Familie widerspiegelt. Die Kohäsion wird dabei durch zwei Komponenten definiert, zum einen durch die emotionale Bindung, welche die Familienmitglieder miteinander haben, und zum anderen durch den Grad der individuellen Autonomie, die einem jeden Familienmitglied innerhalb der Familie zukommt:

„The definition of family cohesion used in this model has two components;

the emotional bonding members have with one another and the degree of

individual autonomy a person experiences in the family system” (OLSEN /

SPRENKLE & RUSSELL 1979, 5).

Die zweite Dimension des Models, die Anpassungsfähigkeit des ’Systems Familie’, definieren OLSEN u.a. als die Fähigkeit einer Familie, ihre Machtstrukturen, die Rollenverhältnisse und die Beziehungsregeln als Antwort auf situations- und entwicklungsbedingten Stress zu ändern:

„The definition of adaptability used in this paper is: the ability of a marital/family system to change its power structure, role relationships, and relationship rules in response to situational and developmental stress” (OLSEN u.a. 1979, 12).

Beide Dimensionen werden in vier Bereiche untergliedert, die die verschiedenen Ausprägungsgrade darstellen. Beim familiären Zusammenhalt sind dies die Stufen „losgelöst“, „getrennt“, „verbunden“ und „verstrickt“ (vgl. SCHUBERT 1987, 36). „Losgelöstheit bedeutet ein extrem niedriges Maß an emotionaler Bindung und Nähe zwischen den Familienmitgliedern, dagegen hohe Unabhängigkeit und nahezu uneingeschränkte Einflußmöglichkeiten von außen. Verstrickung im anderen Extrem meint eine extrem starke Verbundenheit und Abhängigkeit der Familienmitglieder untereinander, eine Überidentifikation mit der Familie, die eine Individuation der Mitglieder stark einschränkt oder sogar verhindert“ (SCHUBERT 1987, 36).

Die zweite Dimension des Modells, die Adaptabilität einer Familie, zerfällt in die Stufen „rigid“, „strukturiert“, „flexibel“ und „chaotisch“ (vgl. SCHUBERT 1987, 36). Rigidität ist hierbei gleichbedeutend mit extrem wenig Anpassung an wechselnde Anforderungen von außen, während „chaotisch“ meint, dass sich die Rollenverhältnisse innerhalb der Familie ständig ändern und praktisch keine Stabilität besteht. Beide, extrem hohe und extrem niedrige Werte von Kohäsion und Adaptabilität sehen OLSEN u.a. als pathologisch an, während die mittleren Ausprägungsgrade nach ihrem Modell einer Balance zwischen Stabilität und Veränderung entsprechen und für die Funktionalität des Systems Familie am günstigsten sind:

„The most viable family systems are those that maintain a balance between both morphogenesis and morphostasis” (OLSEN u.a. 1979, 12).

Die Familien, die über ein ausgeglichenes Maß an emotionaler Bindung und Individualität auf der einen Seite und moderate Anpassungsfähigkeit an neue Situationen auf der anderen Seite verfügen, werden also am ehesten mit ernsten Problemen klarkommen. Die Geburt eines geistig behinderten Kindes und die folgenden Herausforderungen des gemeinsamen Lebensweges sollten daher gerade solche Familien am besten verarbeiten und verkraften können.

Kombiniert man die jeweils vier verschiedenen Ausprägungsgrade beider Dimensionen, so ergeben sich 16 (4 x 4) unterschiedliche Familientypen (siehe Abbildung 1.).

Die vier Typen nahe dem Zentrum des Modells sind die mit moderaten Werten und werden als hochfunktional eingestuft. Die acht Typen im mittleren Kreis sind durch einen moderaten und einen extremen Wert gekennzeichnet und werden daher als mittelfunktional eingestuft. Die vier äußeren Familientypen weisen dagegen aufgrund ihrer extremen Werte Dysfunktionalitäten auf. Im Circumplex Model of Marital and Family Systems sinkt die Funktionalität einer Familie mit zunehmendem Abstand vom Zentrum des Modells (vgl. OLSEN u.a. 1979, 17f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Circumplex Model of Marital and Family Systems

(vgl. OLSEN u.a. 1979, 17)

Vergleicht man die beiden Schemata zur Beschreibung des ’Systems Familie’, so fällt auf, dass der ökologische Ansatz von BRONFENBRENNER (1981) vielseitiger gestaltet ist als das Modell von OLSEN u.a. (1979), das eigentlich nur zwei Parameter der Eigenschaften einer Familie herausgreift, den Zusammenhalt einer Familie und ihre Anpassungsfähigkeit. BRONFENBRENNER berücksichtigt neben dem unmittelbaren Umfeld, das auf eine Familie einwirkt, auch die weiteren Kreise, die eine Familie indirekt beeinflussen, bis hin zur Struktur der Gesellschaft an sich. Außerdem wird die Dynamik der Wechselbeziehungen, die zwischen den Mitgliedern innerhalb einer Familie und zwischen den verschiedenen Lebensbereichen existieren, deutlicher herausgestellt. Schließlich bezieht BRONFENBRENNER auch die zeitliche Perspektive klarer mit ein, wenn er sagt, dass sich im Laufe des Lebens die Lebensbereiche, an denen man beteiligt ist und damit auch die Rollen, die man selbst inne hat, häufig verändern (vgl. BRONFENBRENNER 1981, 22). Zwar berücksichtigen auch OLSEN u.a. situative und zeitliche Veränderungen, wenn von Adaptabilität die Rede ist, doch BRONFENBRENNER differenziert hier tiefgehender. Sein Modell scheint im Vergleich zum zweidimensionalen Circumplex Modell von OLSEN u.a. (1979) regelrecht vieldimensional zu sein. Daher soll im Folgenden, wenn von „Familie“ die Rede ist, der systematische Begriff BRONFENBRENNERs Anwendung finden.

1.3 Die eigene Familiensituation

Ich entstamme einer ursprünglich sechsköpfigen Familie. Mein Vater, Jahrgang 1939, von Beruf Kinderarzt, war bis zu seiner Pensionierung im November 2001 Leiter der Kinderklinik meiner Heimatstadt Bocholt. Meine Mutter, Jahrgang 1937, hat ebenfalls Medizin studiert und übte ihren Beruf bis zum Abschluss der Ausbildung als Fachärztin für Kinderheilkunde im Jahre 1971 aus. Von da an war sie Hausfrau und Mutter für uns Kinder, eine Aufgabe, in der sie voll aufging. Kennen- und liebengelernt haben sich meine Eltern 1963 während des Medizinstudiums an der Universität Münster. Sie heirateten im Februar 1965. Noch im selben Jahr kam ihr erstes Kind zur Welt – mein älterer Bruder Stephan, der schon mit 3 ¾ Jahren an MPS starb, und den ich daher nicht gekannt habe. Als Stephan acht Monate alt war, fiel meinem Vater die zunehmende Vergrößerung von Leber und Milz auf; die weiteren Untersuchungen ergaben, dass er den genetischen Defekt der Mukopolysaccharidose (Typ I, Morbus Hurler; siehe dazu Kapitel 2.2) hatte, und damit auch, dass sie beide Genträger der Krankheit sind. Jetzt stand die Frage nach weiteren Kindern zur Diskussion, da MPS autosomal rezessiv vererbt wird und so bei allen Schwangerschaften eine 25%ige Wahrscheinlichkeit bestand, dass auch die weiteren Kinder an MPS erkrankt sein würden. Als meine Eltern 1968 in Hannover einen Ärztekongress besuchten, lernten sie dort Professor Doktor Hans-Rudolf Wiedemann, Chefarzt der Universitäts-Kinderklinik in Kiel und Spezialist für Mukopolysaccharidosen und andere klinische Syndrome kennen, der ihnen Mut zu weiteren Kindern machte. (Prof. Dr. Wiedemann veröffentlichte zusammen mit Prof. Dr. Kunze 1976 den „Atlas der Klinischen Syndrome“; siehe dazu auch Literaturverzeichnis.) Nach dem Tod Stephans im Jahre 1969 entschlossen sich meine Eltern dazu, ein weiteres Kind zu bekommen. Beide beteten damals viel dafür, dass das Kind gesund werde. Im Februar 1970 kam dann meine ältere Schwester Eva auf die Welt – das erste gesunde Kind meiner Eltern, die zu diesem Zeitpunkt beide an der Kinderklinik in Datteln tätig waren. Eigentlich wollte meine Mutter gut ein Jahr darauf wieder schwanger werden, damit das zweite Kind in etwa zwei Jahre jünger sei, als das erste, aber meine Ankunft ließ auf sich warten. Erst im Oktober 1973 war es dann soweit, und ich wurde als das dritte Kind unserer Familie in Bremen geboren; mein Vater war nach der gemeinsamen Facharztausbildung in Datteln noch weitere vier Jahre an der Bremer Kinderklinik tätig. Auch dieses Mal hatten meine Eltern im Vorfeld viel um ein gesundes Kind gebetet. Die Untersuchung auf MPS führte bei mir Professor Doktor Jürgen Spranger durch, damals Oberarzt an der Universitäts-Kinderklinik zu Kiel unter Professor Doktor Wiedemann.

Während Stephan, meine ältere Schwester und ich geplante Wunschkinder waren, kam für meine Mutter die erneute Schwangerschaft mit meiner kleinen Schwester Ursula im Jahre 1974 überraschend. Um wegen der möglichen Krankheit Gewissheit zu haben, ließ sie eine Fruchtwasseruntersuchung durchführen, die ein negatives Ergebnis brachte. Am 09.06.1975 wurde Ursula geboren und meine Eltern dachten, sie hätten ein drittes gesundes Kind bekommen, nachdem auch der nachgeburtliche Test fälschlicher Weise negativ war. Erst im Alter von acht Monaten untersuchte mein Vater meine Schwester wegen eines Harnwegsinfektes. Dabei fielen ihm erneut die vergrößerte Leber und Milz auf. Die weiteren Untersuchungen ergaben wieder das Krankheitsbild der Mukopolysaccharidose, wie bei Stephan (Typ I-Hurler, siehe Ausführungen in Kapitel 2.2). 1976 zog unsere Familie von Bremen nach Bocholt um, wo mein Vater eine Oberarztstelle an der Kinderklinik annahm; nach der Fertigstellung des neuen Krankenhauses übernahm er dort die Chefarztstelle. 1980 zogen wir in ein eigenes Haus um. Ursula besuchte ab 1979 den örtlichen Sonderschulkindergarten. 1983 wechselte sie dort in die Sonderschule in eine Gruppe für schwerstbehinderte Kinder. Meine Schwester starb am 09.12.1988 im Alter von 13 ½ Jahren.

1.4 Zusammenfassung

Das ’System Familie’ unterliegt einer Dynamik von reziproken Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern und der Umwelt. Viele Faktoren wirken sich auf die Familie aus und sind mitbestimmend für deren Funktionieren. Dazu zählen die finanzielle Lage, die Situation am Arbeitsplatz der Eltern, die Schulsituation der Kinder, die Wohnsituation, die Nachbarschaft und deren Einstellung, institutionelle Gegebenheiten und ärztliche Unterstützung. Jede Familie nimmt an verschiedenen Lebensbereichen teil, die den Familienmitgliedern gewisse Rollen abverlangen; dabei bestimmen das subjektive Erleben dieser Lebensbereiche und das Verständnis der eigenen Rolle das eigene Verhalten. Ändern sich im Laufe der Zeit die Anforderungen der Lebensbereiche und Rollen, dann ist eine moderate Anpassungsfähigkeit gefragt, also eine Balance zwischen Stabilität und Veränderung.

Innerhalb der Familie gibt es Zweipersonensysteme mit reziproken Beziehungen, sogenannten Dyaden, die die familiäre Dynamik ausmachen. Für die Entwicklung der einzelnen Mitglieder ist ein ausgewogenes Maß an Individualität und emotionaler Bindung am günstigsten.

Die dargestellten Zusammenhänge bilden die Ausgangsbedingungen für die Verkraftung und Kompensierung der Behinderung eines Kindes. Sie sind entscheidend dafür, wie ein gemeinsamer Lebensweg mit einem behinderten Kind in der Familie gemeistert werden kann, der mit der Feststellung der Behinderung beginnt.

Der folgende Teil der Arbeit befasst sich mit dieser neuen Situation nach der Diagnose der Behinderung.

2 Die Diagnose der Behinderung des Kindes –
Eine neue Situation

Die Feststellung der Behinderung des eigenen Kindes bedeutet häufig die Änderung des gesamten Lebensentwurfes einer Familie. Sorgen und Ungewissheit mischen sich der ungetrübten Freude über das Kind bei. Oft ist die Krankheit weitestgehend unbekannt. „Ist sie, wie die Mukopolysaccharidose, selten, weiß häufig auch der Hausarzt nicht so gut Bescheid, als daß er erschöpfend Auskunft geben könnte. Fragen nach Ursache, Art, Verlauf, Komplikationen bleiben unbeantwortet. Man kennt keine anderen Patienten, die aus ihrer Erfahrung raten könnten. Zur Ungewißheit gesellt sich Einsamkeit“ (BECK / FANG-KIRCHER 1993, Vorwort von Prof. Dr. Jürgen SPRANGER). Hier wird deutlich, dass es in einer solchen Situation für die Eltern regelrecht zu einem Schock über die Behinderung des Kindes kommt, der erst einmal verkraftet werden muss. Dieser Prozess soll dem Leser im zweiten Kapitel der Arbeit näher gebracht werden. Zuvor jedoch sollen die verschiedenen Definitionen und Sichtweisen von geistiger Behinderung vorgestellt und im Anschluss daran die Krankheit der Mukopolysaccharidose medizinisch erläutert werden.

2.1 Definitionen und Begrifflichkeit von „Geistiger Behinderung“

„Geistige Behinderung“ – was genau ist das? Zur Beantwortung dieser Frage kommt es wohl vor allem auf die Perspektive an, von der aus man dieses Phänomen betrachtet. „Es kann kein Zweifel bestehen, daß Eltern ihr eigenes geistig behindertes Kind anders sehen als Fachleute, daß die Einschätzung einer geistigen Behinderung von den Einstellungen der einschätzenden Person abhängig ist, und daß diese wiederum mit gängigen Einstellungen in der Gesellschaft korrespondieren“ (SPECK 1999, 38). Darüber hinaus gibt es unterschiedliche fachspezifische Sichtweisen von geistiger Behinderung, die verschiedene Aspekte hervorheben, welche im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen:

Die medizinische Sichtweise

In der Medizin steht die körperliche Basis der Behinderung, die Schädigung des Gehirns im Vordergrund, welche die verschiedensten Körperfunktionen in Mitleidenschaft ziehen kann. Es entstehen klinische Syndrome und spezielle psychopathologische Störungen, die nach den Entstehungsphasen (pränatal, perinatal und postnatal) eingeteilt werden. Eine weitere Kategorie bilden zusätzlich auftretende oft psychiatrische Störungen, wie zum Beispiel Epilepsien, Autismen und Stereotypien (vgl. SPECK 1999, 45f.).

Die psychologische Sichtweise

In der Psychologie wurde geistige Behinderung lange als Minderung der angeborenen Intelligenz beschrieben. Daher wurden verschiedene Tests zur Ermittlung eines Intelligenzquotienten entwickelt. Im Laufe der Zeit wurde dann nachgewiesen, dass an der Entwicklung von Intelligenz auch soziale und kulturelle Faktoren beteiligt sind. Im jetzigen Verständnis von geistiger Behinderung sind neben den Intelligenzdefiziten auch Ausfälle des Anpassungsverhaltens und das Andauern der Intelligenzminderung bis zum 18. Lebensjahr mit eingeschlossen. Die heutige Definition der American Association on Mental Deficiency (AAMD) lautet daher: “Geistige Retardierung bezieht sich auf signifikant unterdurchschnittliche Allgemeinintelligenz, die fortlaufend mit Defiziten im adaptiven Verhalten vorkommt und während der Entwicklungsperiode bestehen bleibt“ (vgl. SPECK 1999, 48).

Die soziologische Sichtweise

Geistige Behinderung ist immer auch eine Ausprägungsform der Sozialisation; das wird deutlich an der oben beschriebenen Sozialabhängigkeit der Intelligenzentwicklung. Aber darüber hinaus gibt es eine primäre soziale Kausalität für die Entstehung einer Behinderung, nämlich bei schweren sozial bedingten sensomotorischen Deprivationen. In diesem Fall kann die neurale Entwicklung weit hinter dem normalen Maß zurückbleiben. Die Folge ist das Entstehen einer geistigen Behinderung (vgl. SPECK 1999, 51f.).

Die pädagogische Sichtweise

„Für die Pädagogik ist eine geistige Behinderung sowohl ein Phänomen vorgefundener und zu erfassender Wirklichkeit, wie sie sich im organischen (pathologischen) Zustand, in der individuellen Befindlichkeit und in den gesellschaftlichen Bedingungen darstellt, als auch eine Wirklichkeit, die unter dem Anspruch von Menschlichkeit erzieherische Hilfe zur Entfaltung braucht und von Werten und Normen bestimmt wird“ (SPECK 1999, 57). Die Geistigbehindertenpädagogik versucht zwei Dinge in sich zu vereinen, die besondere Erziehungsbedürftigkeit des Kindes auf der einen und gesellschaftlich adäquate Bildungsaufträge auf der anderen Seite. BÄRSCH spricht auch von einem Interdependenzverhältnis zwischen dem Behinderten und seiner Gesellschaft (BÄRSCH 1975, 8). Dabei üben die Merkmale des Behinderten und die Merkmale der Gesellschaft eine vielfältige Wirkung aufeinander aus und bestimmen so die Stellung des Behinderten in der Gesellschaft. Während der Behinderte seine Situation als Herausforderung annehmen oder vor ihr kapitulieren kann, so hat auch die Gesellschaft zwei Möglichkeiten, auf die Tatsache der Behinderung zu reagieren. Einerseits kann sie - beeinflusst durch Leistungsdenken und die Überbewertung von kognitiven Fähigkeiten sowie das Streben nach Konformität – den Behinderten ausgrenzen, oder sie wendet sich ihm zu und bietet ihm verschiedene Hilfen an (vgl. BÄRSCH 1975, 13). Die Aufgabe der Pädagogik dabei ist es, die bestmögliche Erziehung zu finden, damit die gemeinsame Lebenssituation in der Gesellschaft verbessert wird, denn an erster Stelle steht das menschlich Gemeinsame, dann erst kommt das Anderssein zum Tragen. Die geistige Behinderung wird als eine normale Variante menschlicher Daseinsformen angesehen und die Erziehung von Menschen mit einer geistigen Behinderung „orientiert sich an den allgemeinen edukativen Erfordernissen, Werten und Normen“ (SPECK 1999, 61). Somit soll die Sonderpädagogik eine Hilfe zum Leben darstellen und eine soziale Isolation des zu Erziehenden abwenden.

Der Begriff „Geistige Behinderung“ selbst hat sich durchgesetzt, weil er von Mitbetroffenen, also Eltern geprägt wurde; und dennoch gibt es häufig Kritik an dieser Formulierung. Grund dafür ist das unterschwellig immer mitklingende Etikett des „Schwachsinns“, das eine Belastung „für den so Eingeordneten in der Schule, im Elternhaus und in der Gesellschaft durch Vorurteile, schematische Einordnung, erzieherischen Pessimismus usw. bedeutet“ (SPREEN 1978, 5). Ob man diesen Effekt allerdings durch die Änderung der Bezeichnung beseitigen kann, bleibt die Frage. SPECK schlägt zwar in Anlehnung an eine korrekte Übersetzung der internationalen Begrifflichkeit die Phrase mentale Behinderung vor, sagt aber gleichzeitig, dass die Akzeptanz des Andersseins nicht vom Namen abhängig sein kann. Es gehe vielmehr darum, die gesellschaftlichen Stigmatisierungstendenzen zu überwinden (vgl. SPECK 1999, 41). Besonders kritisch scheint dennoch die im Terminus vollzogene Verbindung von Geist und Behinderung. Eine Frage, die sich unweigerlich aufdrängt, ist die, ob der Geist wirklich behindert sein kann. Gerade vom christlichen Standpunkt und vom Glauben an eine geistige Seele aus könnte man argumentieren, dass der Geist selbst nicht behindert ist, dass der Betroffene genauso fühlt und empfindet wie andere auch, und dass es sich lediglich um eine organische Schädigung des Gehirns handelt, wodurch sich der Geist für uns Nichtgeschädigte auf ungewöhnliche Art und Weise äußert. Die Behinderung läge dann nicht im geistigen Bereich, sondern allein in der Mitteilung und Äußerung des Innenlebens des Betroffenen auf eine für Außenstehende normative Art und Weise.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht im Bezug auf „Behinderung“ folgende Kausalzusammenhänge, die es zu beachten gilt: Zu Beginn steht die Schädigung des Gehirns beziehungsweise des zentralen Nervensystems; daraus ergibt sich eine Beeinträchtigung von Lebensvollzügen, die wiederum eine Benachteiligung vor allem im sozialen Bereich nach sich zieht (vgl. SPECK 1999, 41f.). In Deutschland wird entweder allein die organische Schädigung des Zentralen Nervensystems oder diese in Verbindung mit individuellen Persönlichkeitsfaktoren und sozialen Bedingungen und Einwirkungen „Behinderung“ genannt (vgl. SPECK 1999, 39). Es gibt aber auch die Ansicht, dass eine Behinderung in erster Linie durch den gesellschaftlichen Leistungsdruck zustande kommt, der dem sogenannten geistig behinderten Menschen ein Normalsein abspricht. So schreibt FEUSER (1981): „Geistige Behinderung wird einer Gruppe von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zugeschrieben, deren Behinderung insbesonders dadurch gekennzeichnet ist, daß sie gesellschaftliche Minimalvorstellungen über eine allgemeine Leistungsfähigkeit nicht nur in Teilbereichen ihrer Gesamtaktivität bzw. Handlungsfähigkeit, sondern in Relation zu ihrem spezifischen Bedarf an Erziehung und Bildung, an allgemeiner und spezieller Therapie wie an körperlicher und sozialer Versorgung in allen Bereichen erheblich bis extrem und oft für die Dauer ihres gesamten Lebens unterschreiten“ (FEUSER 1981, 127). Die geistige Behinderung entsteht hier also durch die Messlatte der Gesellschaft. Für FEUSER ist der Begriff der geistigen Behinderung daher unbrauchbar und dient nur der Diskriminierung und Verletzung der Menschenwürde. Seiner Meinung nach existiert das Phänomen der geistigen Behinderung nur „als das Ergebnis vorenthaltener Erziehung, Bildung und Therapie“ und ist demnach durch adäquate Betreuung jederzeit überwindbar (FEUSER 1981, 131). Später drückt er es noch deutlicher aus und sagt ganz konkret „Geistigbehinderte gibt es nicht“ (FEUSER 1996, 18), eine Aussage, die er damit begründet, dass es sich bei dem Etikett der geistigen Behinderung nur um unsere eigene unvollkommene und begrenzte Wahrnehmung handelt, durch die wir Schwierigkeiten haben, den Betroffenen als normal zu empfinden. Was wir an dem Anderen nicht verstehen, projizieren wir auf ihn zurück als seine Unverstehbarkeit und Begrenztheit, und damit als sein Behindert-Sein (vgl. FEUSER 1996, 18f.).

Wie auch immer man zu dem Begriff der geistigen Behinderung steht, sollte man daher stets im Hinterkopf behalten, dass es sich bei allen Schilderungen um Beobachtungen von Außenstehenden handelt und damit nur mit Vorbehalt um wirklich adäquate Aussagen. „Ich kann mich zwar ohne Augenlicht, taub, stumm, gelähmt denken, nicht aber geistig behindert, da ich hierzu die imaginative Ich –Instanz selbst reduzieren müßte“ (KOBI 1983, 155). Durch die eigene Vorstellungskraft allein kann man eine geistige Behinderung nicht wahrheitsgemäß erschließen. Eine respektvolle und vorurteilsfreie Haltung dem Behinderten gegenüber ist daher angebracht.

2.2 Medizinische Aspekte und Krankheitsverläufe von MPS

Bei der Mukopolysaccharidose handelt es sich um eine seltene aber doch immer wieder auftretende, erblich bedingte Stoffwechselerkrankung, die in vielen Fällen zu einer schweren geistigen Behinderung führt. Patienten, die mit dieser Krankheit zur Welt kommen, können durch einen Gendefekt bestimmte Enzyme nicht produzieren, die am Abbau der Mukopolysaccharide im Körper beteiligt sind. Mukopolysaccharide sind Verbindungen aus Aminozuckern, die besonders im Bindegewebe vorkommen (vgl. PSCHYREMBEL 1986, 1090). Der Abbauprozess wird an der Stelle unterbrochen, an der das Enzym fehlt. Die entsprechenden Bruchstücke lagern sich mit der Zeit immer mehr in den verschiedenen Organen an, besonders in Gehirn, Herz, Leber und Milz, aber auch im Skelettsystem. Abhängig davon, welches am Abbau beteiligte Enzym defekt ist, werden bis heute nach klinischen und biochemischen Merkmalen sechs Varianten der Mukopolysaccharidose unterschieden. Dies sind die Typen I bis VII, wobei Typ V entfällt. Als Typ V wurde früher der Morbus Scheie bezeichnet. Später fand man jedoch heraus, das dieser Typ auf dem gleichen Enzymdefekt beruht, wie der Typ I (Morbus Hurler), nämlich auf einem Iduronidase-Defekt (vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1993, 6). Heute wird die Variante des Morbus Scheie daher ebenfalls dem Typ I zugeordnet.

Bevor die sechs verschiedenen Formen der Mukopolysaccharidose näher beschrieben werden, soll kurz auf die Art der Vererbung dieser Krankheit eingegangen werden.

MPS entsteht, wie oben beschrieben, durch einen Enzymdefekt, der durch eine Genmutation hervorgerufen wird. Jeder Mensch hat 22 homologe, dass heißt identische Chromosomenpaare und zwei Geschlechtschromosomen (eine Frau hat zwei X-Chromosome, ein Mann ein X- und ein Y-Chromosom). Entsteht nun auf einem der 22 Chromosome ein Gendefekt, so wird dieser von dem identischen und intakten zweiten Chromosom ausgeglichen. Der Träger eines solchen krankhaften Gens ist also gesund. Erst wenn dieser auf einen Partner trifft, der ebenfalls Träger der gleichen Mutation ist, können aus der Verbindung kranke Kinder hervorgehen, nämlich dann, wenn Samen und Eizelle das nicht intakte Gen tragen (vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1993, 93f.). Die Wahrscheinlichkeit hierfür liegt bei 25 %. Die Hälfte der Nachkommen ist Erbträger, aber gesund, und 25 % der Kinder sind weder krank noch Überträger der Krankheit. Vorausgesetzt es liegt keine Verwandtenehe vor, ist das Risiko, dass beide Eltern die gleiche Genmutation tragen aber verhältnismäßig gering. Abbildung 2 zeigt ein Schema dieser sogenannten autosomal-rezessiven Vererbung, um die es sich bei allen Formen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Schema der autosomal-rezessiven Vererbung
(vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1994, 94)

der Mukopolysaccharidose handelt – mit Ausname der MPS Typ II (Morbus Hunter). Dieser Typ wird X-chromosomal vererbt. Daher kommt die Krankheit nur bei männlichen Personen (mit nur einem X-Chromosom!) zum Ausbruch, während die Mutter Überträgerin ist (vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1993, 94).

Woran erkennt man nun, ob das Kind eventuell an einer Mukopolysaccharidose erkrankt ist? Während die Entwicklung in den ersten Lebensmonaten oder je nach Typ auch in den ersten Lebensjahren weitgehend unauffällig verläuft, treten danach bestimmte klinische Symptome auf, die den Verdacht auf MPS erhärten. Dies können sein: Früh auftretende Leisten- und Nabelbrüche, chronische Bronchitis, immer wiederkehrender hartnäckiger Schnupfen, unerklärliche Durchfälle oder häufige Mittelohrentzündungen (vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1993, 23). Mit der Zeit werden dann die typischen Merkmale der Mukopolysaccharidose immer deutlicher. Die Merk- und Lernfähigkeit des Kindes nimmt ab, und das Kind macht sichtbare Rückschritte in der Entwicklung. Die typischen äußerlichen Merkmale von MPS stellen sich ein. Dies sind Veränderungen des Skelett-Systems, Wachstumsstörungen, Hornhauttrübung, Hörstörungen, Herzfehler, ein großer Bauch durch eine vergrößerte Leber oder Milz, plumpe Hände, ein zu groß erscheinender Kopf, ein kurzer Hals, Versteifung der großen Gelenke, grobe Gesichtszüge mit einer großen Zunge, buschige, manchmal zusammengewachsene Augenbrauen, dichtes struppiges Haar und eine flache Nase (vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1993, 23). Es sei noch erwähnt, dass es einige leichte Verlaufsformen von MPS gibt, die nur wenige dieser Merkmale aufweisen. Die verschiedenen Formen der Mukopolysaccharidose und ihre klinische Unterteilung sollen nun kurz dargestellt werden.

MPS Typ I (Morbus Hurler und Morbus Scheie)

Dieser Typ weist eine große klinische Variabilität auf. Während der Morbus Hurler (MPS I-H) die schwerste Verlaufsform mit allen klassischen Symptomen und einer schweren geistigen Behinderung darstellt, beinhaltet der Morbus Scheie (MPS I-S) keine geistige Behinderung. Die Patienten sind oft normal groß und werden erst im zweiten Lebensjahrzehnt durch Gelenkkontrakturen und Hornhauttrübung auffällig. Zwischen diesen beiden Formen gibt es alle Übergänge mit unterschiedlicher Ausprägung der Symptome. Der Morbus Hurler verläuft rasch progredient und betrifft fast alle Organsysteme. Die Kinder sterben meist im zweiten Lebensjahrzehnt an Lungenentzündung oder Herzversagen, manchmal aber auch früher. Die Häufigkeit dieser Variante (Morbus Hurler) beträgt in etwa 1 : 100.000. Der Morbus Scheie kommt bei ca. einem von 600.000 Kindern vor (vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1993, 27 und WIEDEMANN / KUNZE 1995, 130).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: 1 ½ Jahre altes Kind mit Morbus Hurler. Leber- und Milzvergrößerung sind
deutlich zu sehen (vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1993, 29)

MPS Typ II (Morbus Hunter)

Dieser Typ unterscheidet sich in einigen Dingen von allen anderen Formen der Mukopolysaccharidose. Zum einen wird er, wie oben schon beschrieben, X-chromosomal vererbt. Daher sind nur männliche Personen betroffen. Zum anderen weisen die Patienten charakteristische Hautveränderungen auf, die bei keiner anderen Variante beobachtet werden. Schließlich ist der Typ II der einzige Mukopolysaccharidosetyp, bei dem die Erkrankten keine Trübung der Hornhaut erleiden. Alle anderen typischen Symptome treten aber auf. Vom vierten oder fünften Lebensjahr an werden eine schnelle und eine langsamere Verlaufsform unterschieden. Erstere weist eine schwere geistige Behinderung auf und führt vor dem 15. Lebensjahr zum Tod, meist durch eine erhebliche Herzinsuffizienz. Letztere bedingt häufig nur eine geringe oder gar keine geistige Behinderung. Die Patienten sterben im Erwachsenenalter. Die Häufigkeit des Morbus Hunter beträgt in etwa 1 : 50.000 (vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1993, 39f. und WIEDEMANN / KUNZE 1995, 132).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Junge mit schneller Verlaufsform von Morbus Hunter im Alter von vier Jahren (vgl. WIEDEMANN / KUNZE 1995, 133)

MPS Typ III (Morbus Sanfilippo)

Dieser Typ stellt mit einer Häufigkeit von ca. 1 : 30.000 die am weitesten verbreitete Form der Mukopolysaccharidose dar, bei der in erster Linie das Nervensystem betroffen ist. Äußerliche Anzeichen gibt es nur in sehr geringen Maßen oder auch gar nicht. Aufgrund von vier verschiedenen Enzymdefekten, die aber eigentlich alle zum gleichen Krankheitsbild führen, wird eine Unterscheidung in vier Subtypen vorgenommen (A, B, C und D). Erste Symptome sind spätes Laufen oder Sprechen und häufiges Hinfallen durch motorische Koordinationsprobleme. Kinder, die bereits sauber sind, beginnen mit Einnässen und Einkoten. Sie sind sehr aktiv, unruhig und können sich nicht gut konzentrieren. Häufig wird zunächst von einer Entwicklungs- oder Sprachstörung ausgegangen. Die Kinder gelten als schwer erziehbar und überfordern oft die Familie. Meist wird die Möglichkeit einer Stoffwechselerkrankung erst in Betracht gezogen, wenn sich Entwicklungsrückschritte einstellen. Im weiteren Verlauf gesellen sich zu gravierenden Schlafstörungen manchmal epileptische Anfälle. Erst in der letzen Phase der Erkrankung werden die Kinder ruhiger. Dann treten die motorischen Defizite in den Vordergrund. Durch Kau- und Schluckprobleme wird eine künstliche Ernährung nötig. Neben dem Verlust der motorischen Fähigkeiten stellt sich eine geistige Behinderung ein. Die Kommunikation mit den Kindern reduziert sich auf ein Minimum. Meist verursacht durch eine Lungenentzündung sterben sie in der zweiten Lebensdekade (vgl. BECK / FANG-KIRCHER 1993, 46f. und WIEDEMANN / KUNZE 1995, 134).

[...]

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Glück auf Zeit
Untertitel
Der gemeinsame Lebensweg in Familien mit einem geistig behinderten Kind am Beispiel eines an Mukopolysaccharidose (MPS) erkrankten Kindes
Hochschule
Universität zu Köln
Note
2.0
Autor
Jahr
2002
Seiten
91
Katalognummer
V154131
ISBN (eBook)
9783640728534
ISBN (Buch)
9783640728954
Dateigröße
7991 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Abbildungen inklusive, medizinisch approbiert durch Dr. med. Gottfried Wübken (Chefarzt Kinderabteilung Krankenhaus Bocholt, hilfreiche Adressen für betroffene Eltern im Anhang (aktualisiert)
Schlagworte
geistig, behindert, Familie, MPS, Mukopolysaccharidose, Lebensweg, Kind, Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, System Familie, Diagnose Behinderung, Therapieformen, Erkrankung, Tod, Verarbeitung
Arbeit zitieren
Thomas Wübken (Autor:in), 2002, Glück auf Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/154131

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