Neuere Entwicklungen bei der Niederlassungsfreiheit nach dem Urteil Marks & Spencer


Diplomarbeit, 2006

91 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einführung in die Problemstellung

2. Der gemeinschaftsrechtliche Rahmen
2.1 Die Entwicklung der Europäischen Union
2.2 Rechtsquellen und Rechtssetzung in der Europäischen Gemeinschaft
2.3 Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags
2.3.1 Der freie Warenverkehr
2.3.2 Die Freizügigkeit, der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr
2.3.3 Die Niederlassungsfreiheit
2.3.3.1. Inhalt der Niederlassungsfreiheit
2.3.3.2. Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
2.4 Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht
2.5 Der EuGH als Organ der Europäischen Gemeinschaft
2.6 Zuständigkeit des EuGH im Bereich der direkten Steuern
2.7 Die Umsetzung der EuGH-Urteile im deutschen Steuerrecht

3. EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit und den direkten Steuern
3.1 avoir fiscal (1986)
3.2 Daily Mail (1988)
3.3 Futura participations SA und Singer (1997)
3.4 Royal Bank of Scotland (1999)
3.5 Compagnie de Saint-Gobain (1999)
3.6 Lankhorst-Hohorst (2002)

4. Der EuGH-Fall Marks & Spencer
4.1 Das Unternehmen Marks & Spencer
4.2 Ausgangsverfahren und Rechtlicher Rahmen
4.3 Vorlagefragen
4.4 Die Entscheidung des EuGH
4.4.1 Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit
4.4.2 Behinderung der Niederlassung in einem andern Mitgliedstaat
4.4.3 Rechtfertigung der Beschränkung
4.4.3.1. Gewährleistung der Kohärenz des Steuersystems
4.4.3.2. Das Territorialitätsprinzip als Rechtfertigungsgrund
4.4.3.3. Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis
4.4.3.4. Gefahr doppelter Verlustberücksichtigung
4.4.3.5. Steuerfluchtgefahr
4.4.3.6. Grenzüberschreitende Verlustverrechnung als ultima ratio
4.5 Ergebnis der Untersuchung

5. Auswirkungen des Urteils auf das deutsche Steuerrecht
5.1 Bedeutung der Entscheidung für die deutsche Organschaft
5.1.1 Grundzüge der körperschaftssteuerlichen Organschaft
5.1.2 Die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Organschaft
5.2 Verlustberücksichtigung in Outbound-Fällen
5.2.1 Voraussetzungen zur grenzüberschreitenden Verlustnutzung
5.2.2 Höhe der grenzüberschreitenden Verlustnutzung
5.2.3 Zeitpunkt der grenzüberschreitenden Verlustnutzung
5.2.4 Gestaltungswirkung
5.3 Verlustberücksichtigung in Inbound-Fällen

6. Mögliche Lösung nach dem Vorbild Österreichs
6.1 Gruppenmitglieder
6.2 Finanzielle Eingliederung
6.3 Gruppenantrag
6.4 Ergebniszurechnung
6.5 Fazit

7. Ausblick

Anhang

Literaturverzeichnis

Internetverzeichnis

Rechtsprechungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Übersicht zur Entwicklung der europäischen Einigung

Abbildung 2: Bildliche Darstellung der Konzernstrukturen

Abbildung 3: Schaubild (vereinfacht): Marks and Spencer plc vs. Halsey

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einführung in die Problemstellung

„In varietate concordia”1 ist der Wahlspruch der Europäischen Union (EU). Ein Staatenverbund von 25 Staaten mit ca. 450 Millionen Einwohnern. Trotz dieser Vielfalt sind alle Mitgliedstaaten der EU denselben Grundwerten verpflichtet. Ziel dieser Gemeinschaft ist es unter anderem, durch ein gemeinsames Auftreten ihren Einfluss in der Welt zu stärken und geltend zu machen.2

Ein Großteil der Grundsätze des primären Gemeinschaftsrechts ist im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (nachfolgend: EG-Vertrag) vereinbart. Grundlegendes Ziel ist dabei, gemäß Art. 2 EG durch „die Errichtung eines gemeinsamen Marktes [...] in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschafts-lebens“ zu fördern. Um dieses Ziel zu verwirklichen, sieht Art. 3 Abs. 1 lit. c EG die Errichtung eines Binnenmarktes vor, „der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist“. Daraus folgen die vier Grundfreiheiten des EG-Vertrags: Warenverkehrsfreiheit, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit sowie Kapitalverkehrsfreiheit.

Die Verwirklichung eines gemeinsamen Binnenmarktes setzt nicht nur die Umsetzung der Grundfreiheiten voraus. Es bedarf darüber hinaus auch einer Harmonisierung der nationalen Regelungen in vielen anderen Gebieten. Einer dieser Bereiche ist das Steuerwesen, da sich die Unterschiede der Steuersysteme der einzelnen Mitgliedstaaten negativ auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken können. Der Steuerbereich selbst ist im EG-Vertrag jedoch nicht als ein selbstständiges Ziel oder als Aufgabe der Gemeinschaft genannt, denn die Steuergewalt zählt zu den wichtigsten Kernbereichen der mitgliedstaatlichen Souveränität. Trotzdem enthält der EG-Vertrag ein Kapitel mit dem Titel „Steuerliche Vorschriften“, welches die Art. 90 bis 93 EG umfasst. Diese Vorschriften beziehen sich allerdings nur auf die indirekten Steuern und sollen sicherstellen, dass es zu keiner Steuerdiskriminierung für Waren aus anderen Mitgliedstaaten kommt. Sie unterstützen somit die Warenverkehrsfreiheit. Sonstige steuerpolitische Maßnahmen fallen nur dann in den Aufgabenbereich der Gemeinschaft, wenn sie zur Beseitigung von Hindernissen für die vertraglichen Grundfreiheiten dienen.3

In Deutschland wurden die direkten Steuern bis vor ein paar Jahren fast ausschließlich nur durch die deutsche Gesetzgebung und die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) geprägt. Der Einfluss der Europäischen Gemeinschaft (EG) beschränkte sich auf spärliche Har-monisierungserfolge in Form von Richtlinien4. Doch das Blatt hat sich gewendet. Die Zahl der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu den Grundfreiheiten des EG- Vertrags ist sprunghaft angestiegen. Somit muss sich auch Deutschland mit den Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf die Unternehmensbesteuerung auseinandersetzen.

Ein neuer Meilenstein in der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes ist das mit Spannung erwartete Urteil vom 13.12.2005 in der Rechtssache Marks & Spencer5. Die Ent-scheidung des EuGH befasst sich dabei erstmals mit der Frage, ob die Nichtberücksichtigung von Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften innerhalb der Mitgliedstaaten einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 und 48 EG darstellt. Da sich das Urteil mit der Unternehmensbesteuerung innerhalb von Konzernen auseinandersetzt, wird damit ein zentraler Bereich der europäischen Steuerproblematik angesprochen.

Die Kernaussage des Urteils in der Rechtssache Marks & Spencer besteht darin, dass ein ge-nereller Ausschluss grenzüberschreitender Verlustverrechnung nur dann gegen die Niederlas-sungsfreiheit verstößt, wenn eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft keine Möglichkeit zur Berücksichtigung ihrer Verluste in diesem Staat hat und sie weder einen Verlustvor- noch ein Verlustrücktrag in Anspruch nehmen kann. Damit folgt der EuGH weitestgehend den Schlussanträgen des Generalanwalts (GA) Poiares Maduro vom 07.04.20056. Folglich brachte die Entscheidung an sich keine große Überraschung. Die Argumentation des EuGH hingegen deutet auf eine Trendwende in der europäischen Rechtsprechung hin. Entgegen den bisher getroffenen Entscheidungen erkennt der EuGH in der Rechtssache Marks & Spencer erstmals ausdrücklich das Territorialitätsprinzip als Rechtfertigungsgrund an. Anscheinend hat der Gerichtshof hier dem politischen Druck der Mitgliedstaaten nachgegeben und somit überwiegend deren fiskalische und haushaltspolitische Interessen berücksichtigt.

Die Entscheidung in der Rechtssache Marks & Spencer hat keine unmittelbare Auswirkung auf das deutsche Steuerrecht. Jedoch besteht auch in Deutschland, im Rahmen der Organschaft, die Möglichkeit der Verlustverrechnung innerhalb eines Konzerns. Ähnlich wie das britische Group Relief,7 ist auch die deutsche Organschaft nur bei im Inland ansässigen Tochtergesellschaften anwendbar. Damit sind die Regelungen des britischen und des deutschen Körperschaftssteuersystems im Kern vergleichbar. Infolgedessen stellt sich für den deutschen Gesetzgeber die Frage, welche Auswirkungen die Entscheidung des Gerichtshofs auf das deutsche Steuerrecht und damit auf die Organschaft haben kann.

Ziel der Arbeit ist eine detaillierte Darstellung der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Marks & Spencer und der damit einhergehenden Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Daneben stehen die Auswirkungen des Urteils speziell im Hinblick auf das deutsche Steuerrecht im Mittelpunkt. Hierzu wird sich die Arbeit zunächst, ausgehend von einem kurzen Einblick in die Entwicklung der Europäischen Union, mit dem rechtlichen Rahmen der Entscheidungen des EuGH beschäftigen. Dabei stehen vor allem die Niederlassungsfreiheit und das direkte Steuerrecht im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsrechts im Vordergrund. Anschließend soll ein Überblick der Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit vermittelt werden. Da sich das Urteil Marks & Spencer um die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch eine Vorschrift des direkten Steuerrechts dreht, wurden für diesen Abschnitt ausschließlich Verfahren ausgewählt, die eine mögliche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit in Verbindung mit Unternehmenssteuern zum Inhalt haben. Der Hauptteil widmet sich dann dem Verfahren in der Rechtssache Marks & Spencer selbst und der Frage, ob ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 und 48 EG vorliegt. Ausgehend von den daraus gewonnenen Erkenntnissen, wird die Entscheidung auf die Regelungen der deutschen Organschaft übertragen und entsprechende Auswirkungen auf Mutter- und Tochtergesellschaften mit Sitz in Deutschland werden erläutert. Ferner wird eine mögliche Lösung für die deutsche Organschaft am Beispiel des österreichischen Gruppenbesteuerungsmodells aufgezeigt. Abschließend soll mit der Rechtssache Oy Esab8 ein Ausblick auf das nächste zu erwartende Urteil des Gerichtshofs im Hinblick auf die grenzüberschreitende Verlustverrechnung gegeben werden.

2. Der gemeinschaftsrechtliche Rahmen

2.1 Die Entwicklung der Europäischen Union

Mit der Unterzeichnung des Pariser Vertrags am 18. April 1951 gründeten Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Beneluxstaaten nicht nur die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)9, sondern legten auch den Grundstein für die heutige Europäische Union. Damit wurde eine Idee verwirklicht, deren Ursprung bis ins Mittelalter zurückreicht. Jedoch erst nach der Erschütterung der europäischen Staaten durch den Zweiten Weltkrieg besann man sich darauf, dass gemeinsame wirtschaftliche Interessen auch den Frieden unter-einander garantieren.10

Die wichtigsten Stationen auf dem Weg von der EGKS hin zur Europäischen Union stellt das folgende Schaubild dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Übersicht zur Entwicklung der europäischen Einigung11

Am 01. November 1993 trat der Vertrag von Maastricht über die Europäische Union (EUV) in Kraft, „entschlossen, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“12. Zunächst wurden nur formale und institutionelle Veränderungen eingeleitet. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurde umbenannt in die Europäische Gemeinschaft und der EWG-Vertrag wurde zum EG-Vertrag. Nach Art. 1 Abs. 3 EUV wird die EU von drei Säulen getragen. Diese sind die Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG und EAG), die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit.13

Die erste Säule enthält das europäische Gemeinschaftsrecht im eigentlichen Sinne, welches die Werte, Ziele und Organisation der Europäischen Union beinhaltet. Das europäische Ge-meinschaftsrecht ist als eine selbstständige Rechtsordnung zu verstehen. Durch die Grün-dungsverträge wird den Institutionen der Europäischen Gemeinschaften weit reichende Kom-petenz zur Schaffung von Rechtsakten verliehen, welche in den Mitgliedstaaten unmittelbar Geltung erlangen und nationales Recht verdrängen können. Somit ist das Gemeinschaftsrecht als eine selbstständige Rechtsordnung zu verstehen, „die sich von ihren Grundlagen der völ-kerrechtlichen Verträge weitgehend gelöst und gegenüber den Rechtsordnungen der Mit-gliedstaaten autonom entwickelt hat“14. Trotzdem besteht auch weiterhin eine enge Verbun-denheit des Gemeinschaftsrechts mit dem nationalen Recht. 15

2.2 Rechtsquellen und Rechtssetzung in der Europäischen Gemeinschaft

Zwischen den verschieden Rechtsquellen der Europäischen Gemeinschaft besteht eine Nor-menhierarchie. Die oberste Rangstufe nimmt das primäre Gemeinschaftsrecht ein, welches sich aus den Gründungsverträgen der EG einschließlich ihrer Anhänge16 und späteren Änderungen17, den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und dem Gewohnheitsrecht der Gemeinschaft zusammensetzt. Eine Änderung des Primärrechts obliegt nach Art. 48 EUV allein den Mit-gliedstaaten. Dazu treffen vorab die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten eine etwaige Vereinbarung, welche dann von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss.18

Das sekundäre Gemeinschaftsrecht ist das von den Gemeinschaftsorganen erlassene Recht zur Durchführung des EG-Vertrags. Es basiert auf dem übergeordneten Primärrecht und konkretisiert dieses lediglich. Daher wird es als abgeleitetes Gemeinschaftsrecht bezeichnet. Die wichtigsten Rechtsakte des sekundären Gemeinschaftsrechts sind in Art. 249 EGV19 aufgeführt. Dabei handelt es sich vor allem um Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen. Die Rechtssetzung des Sekundärrechts fällt in die Zuständigkeit der EG selbst (bzw. ihrer Organe). Erlassen die Gemeinschaftsorgane Normen des sekundären Gemeinschaftsrechts, so haben sie die im EG-Vertrag vorgeschriebenen Voraussetzungen einzuhalten. Ein Verstoß dagegen führt grundsätzlich zur Nichtigerklärung der Normen durch den EuGH.20

Daneben sind auch die Völkerrechtlichen Abkommen der Gemeinschaften und die Regeln des allgemeinen Völkerrechts Bestandteile des Gemeinschaftsrechts. Sie stehen im Rangverhältnis zwischen primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht, finden jedoch nur insoweit Geltung, als dass keine speziellere Regelung in den Gemeinschaftsverträgen vorliegt.21

Bei der EG/EU handelt es sich nicht um einen souveränen Staat, sondern um einen Zusam-menschluss von Staaten zur Förderung eines gemeinsamen Marktes. Aus diesem Grund verfügt die Gemeinschaft auch nicht über eine unbegrenzte Rechtsetzungsgewalt, sondern ist an eine Vielzahl von allgemeinen Regeln und Prinzipien gebunden, welche die Modalitäten der Zuständigkeitsausübung regeln. Dabei sind vor allem die Grundsätze der Einzelzuständigkeit (Art. 5 Abs. 1 EG), der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 2 EG) und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 3 EG), aber auch die Wahrung der Verfassungsprinzipien (Art. 6 Abs. 1 EUV), die Beachtung der Grundrechte (Art. 6 Abs. 2 EUV) und die Beachtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV) zu nennen.22

Insbesondere das sog. Subsidiaritätsprinzip beschränkt die Zuständigkeit der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten. Der Grundsatz der Subsidiarität wurde mit dem Vertrag über die Europäische Union vom 07. Februar 1992 eingeführt und gilt fortan entsprechend Art. 2 Abs. 2 EUV als allgemeines Handlungsprinzip von EU und EG.23

Subsidiarität bedeutet, dass ein Staat oder ein Staatenbund nur dann über die Zuständigkeit verfügt, wenn ihm untergeordnete Einheiten, wie beispielsweise Personen, Familien, Unter-nehmen und lokale oder regionale Gebietskörperschaften, diese nicht allein ausüben können, ohne dem allgemeinen Interesse zu schaden. Übertragen auf die Europäische Gemeinschaft bedeutet dies, dass sie nur dann die Zuständigkeit in einem Bereich erlangt, sofern gemäß Art. 5 Abs. 2 EG „die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können“ und diese Ziele auf Grund ihres Umfangs oder ihrer Wirkung besser durch die Gemeinschaft verwirklicht werden können. Dies gilt nicht für die sog. ausschließlichen Zuständigkeiten, zu dem beispielsweise die Festlegung des Gemeinsamen Zolltarifs (Art. 26 EG), die Währungspolitik (Art. 105 ff. EG) oder die gemeinsame Handelspolitik (Art. 133 EG) zählen. In diesen Bereichen obliegt die Zuständigkeit allein der Gemeinschaft.

Vor allem die Bundesrepublik Deutschland drängte auf die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den Vertrag über die Europäische Union, da sie durch die Erweiterung der Gemein-schaftskompetenzen einen zu starken Eingriff in ihren eigenen Hoheitsbereich befürchtete.24 Entsprechend Art. 5 Abs. 2 EG hat die Gemeinschaft somit „in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen“ das Subsidiaritätsprinzip besonders zu beachten.

2.3 Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags

Primäres Ziel der Europäischen Gemeinschaft ist die Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes. Dieser umfasst gemäß Art. 14 Abs. 2 EG „einen Raum ohne Binnengrenzen in, dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital [...] gewährleistet ist“. Die vier Grundfreiheiten des EG-Vertrages sind: der Freie Warenverkehr (Art. 23 bis 31 EG), die Freizügigkeit von Personen (Art. 39 bis 48 EG)25, der freie Dienstleistungsverkehr (Art. 49 bis 55 EG) und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art. 56 bis 60 EG). Sie bilden die Grundlage für das Funktionieren des gemeinschaftlichen Binnenmarktes. Nachfolgend werden alle Grundfreiheiten kurz dargestellt und ihre Rolle innerhalb der Gemeinschaft erläutert. Da sich diese Arbeit mit der Entwicklung der Niederlassungsfreiheit beschäftigt, nimmt diese einen besonderen Stellenwert dabei ein.

2.3.1 Der freie Warenverkehr

Das Kernstück des gemeinsamen Binnenmarktes bildet der freie Warenverkehr und somit die Beseitigung aller Behinderungen des innergemeinschaftlichen Warenaustauschs. Darunter fallen alle aus den Mitgliedstaaten stammenden Waren und auch solche Waren, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Die Verwirklichung des freien Warenverkehrs umfasst nach dem EG-Vertrag erstens die Errichtung einer Zollunion (Art. 25 bis 27 EG), zweitens das Verbot der mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie der Maßnahmen gleicher Wirkung (Art. 28 bis 30 EG) und drittens die Beseitigung der diskrimi-nierenden Praktiken staatlicher Handelsmonopole (Art. 31 EG).

Nach Art. 23 EG sind die Vorschriften zum freien Warenverkehr ausschließlich auf Waren anzuwenden. Somit erhält der Begriff der Ware eine zentrale Bedeutung. Da der EG-Vertrag den Begriff der Waren nicht weiter erläutert, hat der EuGH in seiner Rechtsprechung die Waren als körperliche Erzeugnisse definiert, die einen Geldwert haben und im Hinblick auf ein Handelsgeschäft über eine Grenze verbracht werden können.26 Zur Abgrenzung zwischen Waren- und Dienstleistungsverkehr kommt es also darauf an, ob die Lieferung eines fertigen Erzeugnisses oder eine auf einen bestimmten Erfolg abzielende Tätigkeit geschuldet wird.27

2.3.2 Die Freizügigkeit, der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr

Unter dem Titel „Die Freizügigkeit, der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr“ sind im EG-Vertrag die Freiheit des Personenverkehrs, die Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs geregelt.

Die Freizügigkeit der Personen stellt neben der Warenverkehrsfreiheit einen weiteren Schwerpunkt des Gemeinschaftsrechts dar. Sie wird in die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit unterteilt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit soll es den Angehörigen der Mitgliedstaaten erleichtern bzw. ermöglichen, im gesamten Gebiet der Gemeinschaft eine unselbstständige Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer aufzunehmen. Folglich soll sie den Unionsbürgern eine freie, von ihrer Nationalität unabhängige Standortwahl für die Ausübung ihrer Tätigkeit gestatten. Neben dem ungehinderten Austausch von Waren stellt die Arbeitnehmerfreizügigkeit somit eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren eines einheitlichen Binnenmarktes dar.28 Die Niederlassungsfreiheit bezieht sich auf die Aufnahme und Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit. Auf Grund ihrer Bedeutung innerhalb der Grundfreiheiten, soll darauf nachfolgend gesondert eingegangen werden.29

Gegenstand der Dienstleistungsfreiheit sind Leistungen, die gegen Entgelt erbracht werden und gemäß Art. 50 Abs. 1 EG nicht zum freien Warenverkehr oder der Freizügigkeit der Personen zählen. Insbesondere nennt Art. 50 Abs. 2 EG hier die gewerblichen, kaufmännischen, handwerklichen und freiberuflichen Tätigkeiten. Diese Aufzählung gilt jedoch keinesfalls abschließend, so dass die entsprechende Leistung in keine bestimmte Kategorie eingeordnet werden muss. Neben der Erbringung eines Entgelts und dem Charakter der Leistung sind die selbstständige und die grenzüberschreitende Erbringung weitere Voraussetzungen der Dienst-leistungsfreiheit. Da Art. 50 Abs. 1 EG ausdrücklich erwähnt, dass die Dienstleistungsfreiheit nur betroffen ist, soweit keine Vorschrift über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen berührt werden, erfüllt sie die Funktion eines Auffangtatbestandes. Dies stellt sicher, dass jede von einem Mitglied der Gemeinschaft gegen Entgelt geleistete grenzüberschreitende Tätigkeit durch die Grundfreiheiten geschützt ist.30

Der freie Kapital- und Zahlungsverkehr soll die ungehinderte Bewegung von Kapital und Zahlungsmitteln innerhalb der Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und Dritt-ländern gewährleisten. Unter dem in Art. 56 Abs. 1 EG genannten Kapitalverkehr sind sämtliche einseitigen Übertragungen von Werten zu verstehen. Dies umfasst nicht nur Sachkapital, wie beispielsweise Immobilien oder Beteiligungen an Unternehmen, sondern auch die Übertragung von Geldkapital wie Wertpapiere oder Kredite. Daneben sieht Art. 56 Abs. 2 EG ein Verbot aller Beschränkungen des Zahlungsverkehrs vor. Der Begriff der Zahlung kann nach allgemeiner Auffassung als rechtsgeschäftliche Erfüllung einer Schuld durch Geldmittel ausgelegt werden. Somit kommt jeder grenzüberschreitende Transfer von Zahlungsmitteln zum Begleichen einer Schuld als Zahlung i.S. des freien Zahlungsverkehrs in Betracht. Ohne die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs wären die Umsetzung und das Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion nicht möglich.31

2.3.3 Die Niederlassungsfreiheit

Die Niederlassungsfreiheit nimmt im Rahmen der Freiheiten des Personenverkehrs eine be-sondere Stellung ein. Geregelt ist sie in den Art. 43 bis 48 EG. Auf Grund der großen Bedeutung, welche die Niederlassungsfreiheit für das unternehmerische Interesse darstellt, ist sie zu einem der zentralen Elemente der Grundfreiheiten geworden.

2.3.3.1. Inhalt der Niederlassungsfreiheit

Primär gewährt die Niederlassungsfreiheit entsprechend Art. 43 Abs. 2 EG „die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Un-ternehmen“. Dies gilt sowohl für natürliche Personen, soweit sie Staatsangehörige eines Mit-gliedstaates sind, als auch für Gesellschaften i.S. des Art. 48 Abs. 2 EG. Die sog. sekundäre Niederlassungsfreiheit beinhaltet daneben gemäß Art. 43 Abs. 1 S. 2 EG die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften.

Zum Begriff der Niederlassung hat sich der EuGH in der Rechtssache Gebhard geäußert. Demnach handelt es sich um einen sehr weiten Begriff, „der die Möglichkeit für einen Ge-meinschaftsangehörigen impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Gemeinschaft im Bereich der selbständigen Tätigkeiten gefördert wird“32. Als Niederlassung ist also jede selbstständige Erwerbstätigkeit zu verstehen, die dauerhaft angelegt ist und auf der Grundlage einer festen Einrichtung ausgeübt wird. Des Weiteren muss es sich dabei um eine wirtschaftliche Tätigkeit zu Erwerbszwecken handeln. Die Selbständigkeit der Tätigkeit unterscheidet die Niederlassungsfreiheit von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Die Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit liegt darin, dass die Erwerbstätigkeit dauerhaft ausgeübt werden muss, wohingegen eine Dienstleistung nur als vorübergehende Tätigkeit angesehen wird. Die Betei-ligung an einem Unternehmen fällt nur dann in die Zuständigkeit der Niederlassungsfreiheit, wenn dadurch auch die Kontrolle in dem Unternehmen ausgeübt werden kann. Anderenfalls handelt es sich um Kapitalverkehr.33

Die Niederlassungsfreiheit erstreckt sich gemäß Art. 43 Abs. 2 EG nicht nur auf die natürlichen Personen, sondern ist auch auf Gesellschaften anwendbar. Die Gleichstellung der Ge- sellschaften mit den natürlichen Personen setzt voraus, dass die Gesellschaft nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet ist und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft hat. Entsprechend Art. 48 Abs. 2 EG findet die Niederlassungsfreiheit Anwendung auf Gesellschaften welche als Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts gelten einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen. Gesellschaften i.S. dieser Vorschrift müssen keine eigene Rechtspersönlichkeit besitzen. Es reicht aus, wenn sie teilrechtsfähig sind. Demzufolge können sich auch nach deutschem Recht gegründete offene Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften und Gesellschaften bürgerlichen Rechts auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Auch wenn keine eigene Rechtspersönlichkeit vonnöten ist, so erfordert es zumindest, dass die Gesellschaft einen Erwerbszweck verfolgt, so dass Vereinigungen mit ausschließlich nicht-wirtschaftlichen Zielen vom Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen sind.34

Für Gesellschaften ist vor allem die sekundäre Niederlassungsfreiheit von entscheidender Bedeutung. Das nationale Recht der meisten Mitgliedstaaten lässt eine Sitzverlagerung der Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat nicht zu. Das Gemeinschaftsrecht genießt jedoch einen Vorrang vor dem nationalen Recht.35 Infolgedessen wird den Gesellschaften, trotz der nationalen Vorschriften, die Möglichkeit eingeräumt, ihren Sitz innerhalb der Gemeinschaft zu verlegen. Der EuGH hat sich dazu vor allem in den Rechtssachen Daily Mail36, Centros37, Überseering38 und Ispire Art39 geäußert. Grundgedanke der Niederlassungsfreiheit ist demzufolge insbesondere die freie Standortwahl innerhalb der Gemeinschaft.40

2.3.3.2. Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit

Nach Art. 43 Abs. 1 S. 1 EG ist jede Beschränkung der freien Niederlassung untersagt. Nach S. 2 gilt dieses Verbot auch für die Beschränkung hinsichtlich der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften. Der Begriff der Beschränkung bestimmt sich inhaltlich nach Art. 43 Abs. 2 EG. Demnach umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen. Hierin kommt das Gebot der Inländergleichbehandlung zum Ausdruck. Das Beschrän-kungsverbot geht über das Gebot der Gleichbehandlung hinaus. Der EuGH zählt über den Wortlaut der Vorschrift hinaus alle Maßnahmen, welche „die Ausübung dieser Freiheiten unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen“41 als verbotene Beschränkung. Dazu zählen also auch Maßnahmen, die unterschiedslos auf Inländer und Ausländer anwendbar sind und eine Hindernis für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit darstellen. Die weite Definition des Beschränkungsbegriffs umfasst nicht nur die offene und versteckte Diskriminierung, sondern auch jede sonstige Behinderung, soweit sie zur Beeinträchtigung der Freiheit beiträgt. Endgültig hat der Gerichtshof die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch sonstige Behinderungen in der Rechtssache Gebhard42 anerkannt. Damit entspricht die rechtliche Enticklung der Niederlassungsfreiheit denen der anderen Grundfreiheiten.43

2.4 Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht

Um das Gemeinschaftsrecht in der Gemeinschaft wirksam umsetzen zu können, bedarf es der unmittelbaren Geltung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Der EG-Vertrag geht nur in vereinzelten Vorschriften auf diese Problematik ein, wie zum Beispiel in Art. 249 Abs. 2 EG. Da keine einheitliche Regelung durch das Gemeinschaftsrecht getroffen wurde, beanspruchen die Mitgliedstaaten die Geltung ihrer nationalen Rechtsordnungen. Somit ist es fraglich, in welchem Verhältnis das Gemeinschaftsrecht zum jeweiligen nationalen Recht der Mitgliedstaaten steht. Dies ist von Bedeutung, um die Öffnung der nationalen Rechtsordnungen gegenüber dem Gemeinschaftsrecht den Rang des Gemeinschaftsrechts in der nationalen Rechtsordnung und die Behandlung von Kollisionsfällen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht zu klären. Die allgemeine Meinung ist, dass das Gemeinschaftsrecht im Grundsatz Vorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten genießt. Allerdings haben der EuGH und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in ihrer Rechtsprechung eine unterschiedliche Auffassung über die Herleitung dieses Vorrangprinzips.44

Der EuGH folgert den Vorrang aus dem Wesen des Gemeinschaftsrechts und folgt somit einem autonomen europarechtlichen Ansatz. Er begründet dies vor allem mit der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Gemeinschaftsrechts. Danach erlangen die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts unmittelbar eine innerstaatliche Wirkung, für die es keine etwaigen Transformations- oder Umsetzungsakte der Mitgliedstaaten braucht. Folglich ist eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an und für die Dauer ihrer Gültigkeit direkt in allen Mitgliedstaaten gültig.

Grundlegend dazu ist das Urteil des EuGH vom 15.07.1964 in der Rechtssache Cos- ta/ENEL45. Seit dieser Entscheidung ist der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht innerhalb der Mitgliedstaaten anerkannt. Der EuGH begründet in seiner Entscheidung diesen Vorrang damit, dass durch die Gründungsverträge eine eigenständige Ge-meinschaftsrechtsordnung geschaffen wurde. Die Mitgliedstaaten haben diese Rechtsordnung mit Hoheitsbefugnissen ausgestattet. Daneben haben sich die Mitgliedstaaten durch die Verträge gegenseitig verpflichtet, alle Maßnahmen zu unterlassen, die der Verwirklichung der Gemeinschaftsziele entgegenstehen. Und letztlich ist die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften, denn eine unterschiedliche Geltung kann eine gegen Art. 12 Abs. 1 EG verstoßende Diskriminierung zur Folge haben.46

Das BVerfG erkennt zwar ebenfalls die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts an, leitet diese jedoch aus dem innerstaatlichen Zustimmungsgesetz zu den jeweiligen Verträgen ab. Die verfassungsrechtliche Grundlage zur Öffnung der nationalen Rechtsordnung der Bundesrepublik für das Gemeinschaftsrecht ist in Art. 23 Abs. 1 GG verankert. Demnach kann der Bund mit Zustimmung des Bundesrates Gesetze erlassen, die die Hoheitsrechte übertragen. Diese innerstaatlichen Zustimmungsgesetze enthalten einen Rechtsanwendungsbefehl, der sich auf die Verträge und das EG-Sekundärrecht bezieht und somit einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht gewährt.47

2.5 Der EuGH als Organ der Europäischen Gemeinschaft

Nach Art. 7 Abs. 1 EG werden die Aufgaben der Gemeinschaft durch das Europäische Parla-ment, den Rat, die Kommission, den Gerichtshof und den Rechnungshof wahrgenommen. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit Sitz in Luxemburg nimmt dabei die Position des Recht sprechenden Organs der EG ein. Seine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass die rechtlichen Vorgaben der Gemeinschaft beachtet werden. Der Gerichtshof wird durch Art. 220 EG zur „ Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages“ ermächtigt. Dabei erfasst der Rechtsbegriff i.S. des Art. 220 EG nicht nur das primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht. Vielmehr enthält er die Gesamtheit des Rechts, welches der EuGH bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben benötigt. Dazu zählen insbesondere auch die ungeschriebenen Grundsätze.48

Der EuGH spielt in der Europäischen Gemeinschaft eine herausragende Rolle. Er allein ist berechtigt das Recht der EG verbindlich auszulegen und anzuwenden. Durch Art. 292 EG haben sich alle Mitgliedstaaten verpflichtet, „Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung des Vertrages“ nicht auf eine andere Weise, als im EG-Vertrag vorgesehen, zu regeln. Damit entfalten die Urteile des Gerichtshofes Bindungswirkung für jeden Mitgliedstaaten und seine Organe. Da die rechtlichen Grundlagen des Gemeinschafts- und Unionsrechts teilweise unvollständig sind, geht die Rechtsprechung des EuGH weit über die Streitentscheidung hinaus. Der Gerichtshof hat auf Grund seiner Entscheidungen nicht nur einige verfahrens- und materiellrechtliche Grundsätze gebildet, welche heute nicht mehr angezweifelt werden, sondern trägt durch seine Urteile auch bedeutend zur Weiterentwicklung des Integrationsprozesses in der Europäischen Union bei. Aus diesem Grunde wir der EuGH oft auch als „Motor der Integration“ bezeichnet.49

Grundsätzlich sind nach Art. 10 EG die staatlichen Behörden der Mitgliedstaaten für die An-wendung des Gemeinschaftsrechts verantwortlich. Kommt es zu einem Streitfall, in dem mehrere Mitgliedstaaten betroffen sind, müssen sich daher auch nationale Gerichte mit Fragen des Gemeinschaftsrechts befassen. Von praktischer Bedeutung sind dabei vor allem Vorabent-scheidungen des Gerichtshofes gemäß Art. 234 EG. Das Vorabentscheidungsverfahren er-möglicht es, den Mitgliedstaaten ihre Fallfrage dem EuGH vorzulegen und somit eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Es handelt sich dabei um ein objektives Zwischenverfahren. Während die Vorlage beim EuGH behandelt wird, ruht das nationale Verfahren. Hat der Gerichtshof über die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts entschieden, so fällt das nationale Gericht auf Grundlage dieser Entscheidung ein endgültiges Urteil.50

2.6 Zuständigkeit des EuGH im Bereich der direkten Steuern

Die Harmonisierung der steuerlichen Vorschriften gehört nicht zu den vordergründigen Zielen und Aufgaben, welche sich die Mitgliedstaaten in Art. 2 und 3 EG gestellt haben. Trotzdem ist eine gemeinschaftliche Steuerpolitik wesentlich für einen Raum ohne Binnengrenzen, da sich die unterschiedlichen Steuerordnungen der Mitgliedstaaten erheblich auf das Funktionieren eines gemeinsamen Marktes auswirken können. Zum einen können die verschiedenen Steuersysteme den innergemeinschaftlichen Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr behindern und zum anderen können die ungleichen Steuerbelastungen die Wettbewerbsbedingungen verfälschen. Der EG-Vertrag hat jedoch die Steuerfragen nur in wenigen Grundzü- gen51 und allein im Bezug auf die Harmonisierung der indirekten Steuern geregelt. Ein Erlass von Vorschriften im Bereich Steuern ist nach Art. 95 Abs. 2 EG ausgeschlossen. Demzufolge fallen die direkten Steuern grundsätzlich unter die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Gemeinschaft kann nur dann tätig werden, wenn die Voraussetzungen des Subsidiaritätsprin- zips52 erfüllt sind.53

Gleichwohl verletzt der EuGH weder die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten noch die Zuständigkeit des Rates54, wenn er über die Vorschriften der Mitgliedstaaten zu den direkten Steuern entscheidet, soweit die nationalen Steuerordnungen mit den Grundfreiheiten des EG-Vertrags in Widerspruch treten. Ein solcher Widerspruch liegt dann vor, wenn „die Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Besteuerung grenzüberschreitender Vorgänge wegen einer Diskri-minierung oder einer sonstigen Beeinträchtigung der Marktfreiheiten“55 unvereinbar sind. Auch hier greift somit der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, um die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit den Grundsätzen des EG-Vertrags zu lösen. Die Auffassung des Gerichtshofs, dass das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Steuerrecht vorgeht, ist inzwischen auch von den Mitgliedstaaten anerkannt worden,56 da anders die gemeinschaftsrechtlichen Regeln ins Leere laufen würden und ein einheitlicher Binnenmarkt nicht zu verwirklichen wäre.57

Der EuGH geht bei seinen Entscheidungen, im Bereich der direkten Steuern, nicht weiter, als es nach seiner Auffassung das Gemeinschaftsrecht fordert. Liegt ein Verstoß gegen das Ge-meinschaftsrecht vor, so erklärt er die geprüften Vorschriften nicht für unanwendbar oder hebt sie gar auf. Vielmehr erkennt er die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten an und beschränkt sich darauf, in seinem Tenor darauf einzugehen, was nach seinem Verständnis das Gemeinschafts-recht gebietet oder verbietet. Die Folgerung aus der Entscheidung des EuGH bleibt dem nationalen (vorlegenden) Gerichten überlassen.58

Anders als im deutschen Recht sieht der EG-Vertrag keine spezielle Kammer oder einen spe-ziellen Gerichtshof vor, welcher auf Steuerrecht spezialisiert ist. Aus deutscher Sicht mag es ungewöhnlich sein, dass ein Richter über Rechtsfragen fachgerecht entscheidet, ohne Vor-kenntnis über die schwierigen steuerrechtlichen Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten zu besitzen. Über eine gesonderte Steuergerichtsbarkeit, wie in Deutschland, verfügen jedoch nicht alle Mitgliedstaaten der EU. Die Urteile über Steuerprozesse treffen in diesen Ländern (wie beispielsweise Großbritannien und Frankreich) häufig die allgemeinen Gerichte oder sogar die Verwaltungsgerichte. Dabei leidet keineswegs das juristische Niveau der Entscheidungen. Da die Richter aus diesen nationalen Gerichten zum EuGH berufen werden, ist also davon auszugehen, dass sie auch in Steuerfragen ein sachgerechtes Urteil fällen können. Die Kritik an den Urteilen des EuGH ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Das zeigt, dass sich die Richter stärker mit den fremden Rechtsordnungen befassen. Zwar werden die Entscheidungen des EuGH noch immer (oft auch zu Recht) kritisiert, jedoch nicht häufiger, als es bei Entscheidungen der nationalen Gerichte der Fall ist. Somit ist davon auszugehen, dass es dem EuGH nicht an den nötigen steuerrechtlichen Sachkenntnissen fehlt, um über Rechtsfragen fachgerecht entscheiden zu können.59

2.7 Die Umsetzung der EuGH-Urteile im deutschen Steuerrecht

Grundsätzlich haben die Entscheidungen des EuGH nur für die Beteiligten des Verfahrens eine bindende Wirkung. Sofern jedoch ein anderer Steuerpflichtiger eine vergleichbare Regelung für unvereinbar hält, so kann er sich zukünftig auf das Urteil des Gerichtshofes berufen. Die nationalen Gerichte sind laut Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 10 EG an die Auslegung des EuGH gebunden und somit verpflichtet, der Urteilsbegründung bei gleichen Sachverhalten zu folgen oder dem EuGH bei Zweifeln die Fallfrage erneut vorzulegen. Es ist indes davon auszugehen, dass der EuGH seine Rechtsauffassung dabei bestätigt.60

Entscheidet der EuGH, dass eine Regelung des nationalen Steuerrechts nicht mit dem Ge-meinschaftsrecht vereinbar ist, so hat dies meist weit reichende finanzielle Folgen. Grund dafür ist, dass bei Feststellung eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht nicht nur Steu-ereinnahmen in den nächsten Jahren wegfallen, sondern dass auch bereits eingenommene Steuern teilweise erstattet werden müssen. Würde der EuGH die Wirkung des Urteils nur auf zukünftige Sachverhalte beschränken, wie es beispielsweise Praxis des BVerfG ist, so könnten die erheblichen Folgen für die nationalen Haushalte zumindest gemindert werden.61

Die Urteile des EuGH wirken grundsätzlich „ex tunc“. Stellt der Gerichtshof fest, dass eine Vorschrift eines Mitgliedstaates nicht konform mit dem Gemeinschaftsrecht ist, so betrifft die Entscheidung nicht nur gegenwärtige oder künftige Fallfragen, sondern auch bereits abge-schlossene Sachverhalte. Die gemeinschaftsrechtliche Regelung hätte somit seit ihrem In-krafttreten angewandt werden müssen, dies ist lediglich bis zum Urteil des Gerichtshofs nicht erkannt worden. Gleiches gilt auch für Vorabentscheidungsverfahren. Anders jedoch als bei Nichtigkeitsklagen oder Untätigkeitsklagen sieht der EG-Vertrag hier keine Vorschrift für die Beschränkung der zeitlichen Wirkung vor. Ungeachtet dessen hat der EuGH, um „das Interesse an der Wahrung des objektiven Rechts mit den Erfordernissen der Rechtssicherheit zu verbinden“62, die Urteilswirkung für die Vergangenheit in einigen Verfahren ausnahmsweise beschränkt.63 Diese Ausnahme basiert auf der analogen Anwendung der Art. 231 Abs. 2 und Art. 233 EG.64

In seiner bisherigen Rechtsprechung hat es der EuGH abgelehnt, die Wirkung eines Urteils allein auf Grund der finanziellen Folgen zeitlich zu beschränken. Für diese Haltung des Gerichtshofes spricht, dass bestandskräftige Verwaltungsakte und rechtskräftige Entscheidungen grundsätzlich nicht wieder aufgegriffen werden. Der Vollzug der Urteile in den Mitgliedstaaten erfolgt, mangels gemeinschaftsrechtlicher Verfahrensvorschriften, durch die nationalen Verfahrensregeln. Da im deutschen Steuerrecht keine besonderen Rechtsfolgen, Verfahren oder Fristen vorgesehen sind, um einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht geltend zu machen, kann die Rechsprechung des EuGH folglich nur im Rahmen der generellen Korrekturvorschriften der Abgabenordnung (AO) für vergangene Zeiträume berücksichtigt werden geschehen. Wenn man dabei bedenkt, dass manche Steuerveranlagung sich über zehn Jahre und länger hinziehen kann, scheinen die schwerwiegenden finanziellen Einbußen hausgemacht. Eine Änderung der Gesetzgebung hinsichtlich einer Beschleunigung des Steuerverfahrens würde auch die Rückwirkung der EuGH-Urteile begrenzen.65

3. EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit und den direkten Steuern

Die direkten Steuern fallen grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.66 Somit hat jeder Mitgliedstaat das Recht, entsprechend seiner Vorstellungen, über Steuergerechtigkeit, steuerliche Wirtschaftlenkung oder Steuerbelastung auf die in seinem Hoheitsgebiet ansässigen Steuersubjekte zu entscheiden. Diese Freiheit ist jedoch nicht unbegrenzt, sondern steht unter dem Vorbehalt des Gemeinschaftsrechts. Während der Bereich der indirekten Steuern schon seit Jahrzehnten vom EuGH überprüft wird, erging das erste Urteil zu den direkten Steuern erst 1985 in der Rechtssache Kommission/Frankreich67 und fand nur wenig Beachtung. Es betraf eine französische Vorschrift, wonach bestimmten Presseunternehmen eine Steuerbegünstigung verwehrt wurde, wenn sie ihre Veröffentlichungen in anderen Mitgliedstaaten drucken lassen. Dieses Urteil bezog sich zwar auf die Warenverkehrsfreiheit, jedoch öffnete es die Schleusen „für eine grundsätzliche Überprüfung des gesamten direkten Steuerrechts der Mitgliedstaaten am Maßstabe der Grundfreiheiten“68. Die Möglichkeiten, die der Gerichtshof mit dieser Entscheidung geschaffen hatte, wurden anfangs nur sehr zögerlich wahrgenommen. Doch gerade in den letzten Jahren mehren sich die Vorlagefragen der Mitgliedstaaten an den EuGH im Bereich der direkten Steuern. Für die Unternehmensbesteuerung sind dabei vor allem die Niederlassungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit einschlägig. Da sich das Urteil Marks & Spencer auf die Frage der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit bezieht, soll nachfolgend die Entwicklung der Rechtsprechung in diesem Bereich und im Hinblick auf die direkte Besteuerung von Unternehmen an ausgewählten Entscheidungen dargestellt werden.

3.1 avoir fiscal (1986)

Das erste Urteil, welches der EuGH im Kontext der direkten Besteuerung von Unternehmen und der Niederlassungsfreiheit fällen musste, erging 1986 in der Rechtssache avior fiscal69 Das Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Frankreich hatte die Vereinbarkeit einer Regelung des französischen Körperschaftsteuergesetzes mit der Niederlassungsfreiheit nach Art. 52 EWG-Vertrag (Art. 43 EG) zum Inhalt. Danach unterlagen alle Gesellschaften und sonstigen juristischen Personen mit ihren in Frankreich realisierten Gewinnen oder Gewinnen, die Frankreich auf Grund eines DBA zugewiesen wurden, der Körperschaftssteuer mit einem Tarif von 50 v.H. Erfolgte eine Ausschüttung dieser Gewinne, so wurden beim einzelnen Anteilseigner die tatsächlich auf ihn entfallende Bruttodividende und zusätzlich dazu ein fiktiver Betrag in Höhe von 50 v.H. des anteiligen Dividendenbetrags als Bemes-sungsgrundlage für die französische Einkommen- oder Körperschaftssteuer angesetzt. Die tarifliche Einkommens- bzw. Körperschaftssteuer wurde dann um ein Körperschaftssteuer-guthaben (avoir fiscal) in Höhe dieses fiktiven Betrages gemindert. Diese Minderung erfolgte jedoch nur, soweit der Anteilseigner seinen tatsächlichen Wohnsitz oder Geschäftssitz in Frankreich hatte oder im Rahmen eines Doppelbesteuerungsabkommens (DBA) Entsprechendes vereinbart war. Damit konnten zwar Konzerne, die Tochtergesellschaften in Frankreich hatten, von der Regel Gebrauch machen, sie blieb jedoch den Unternehmen verwehrt, die lediglich eine Betriebsstätte (Zweigniederlassung/Agentur) in Frankreich betrieben. Darin sah die Kommission einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 52 EWG-Vertrag (Art. 43 EG), da gebietsfremde Gesellschaften durch die Vorschrift ungleich behandelt würden und damit in ihrer Freiheit, Zweigniederlassungen zu gründen, mittelbar beschränkt seien. Der Streitgegenstand des Verfahrens bezog sich zwar lediglich auf Versicherungsgesellschaften, da diese unter der Benachteiligung erheblich zu leiden hatten, die Wirkung des Urteils erstreckt sich jedoch auf alle Unternehmen.70

In der Rechtssache avoir fiscal hat der EuGH entschieden, dass die Günstigerstellung von Versicherungsgesellschaften mit Sitz in Frankreich gegenüber in Frankreich gelegenen Zweigniederlassungen und Agenturen von Versicherungsgesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nach Art. 52 EWG-Vertrag (Art. 43 EG) darstellt.71 Grundsätzlich erkennt der Gerichtshof somit an, dass „jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die sich aus den Rechtsvorschriften als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ergibt“72, untersagt ist. Damit bestätigt er die allgemein gewonnen Erkenntnisse zu den Marktfreiheiten, wonach auch die Diskriminierung zu den Beschränkungen zählt. Darüber hinaus hat der EuGH klargestellt, dass sich nicht nur natürliche Personen auf die Niederlassungsfreiheit berufen können. Sie dient ebenso dem Schutz von Gesellschaften, die ihren Sitz gemäß Art. 58 EWG-Vertrag (Art. 48 EG) in den Mitgliedstaaten haben.

Grundgedanke des Urteils ist, dass die unterschiedliche steuerliche Behandlung von Unter-nehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eine Diskriminierung der Niederlassungsfreiheit darstellt. Trotzdem hält es der EuGH nicht für ausgeschlossen, „dass eine Unterscheidung je nach dem Sitz einer Gesellschaft oder eine Unterscheidung je nach dem Wohnsitz einer natürlichen Person unter bestimmten Voraussetzungen auf einem Gebiet wie dem des Steuerrechts gerechtfertigt sein kann“73. Diese Anerkennung einer möglichen Rechtfertigung war maßgeblich für die weitere Entwicklung der Rechtsprechung. Sie bildete eine erste Grundlage für den Rechtfertigungsgrund der steuerlichen Kohärenz. Jedoch dauerte es noch bis zum Urteil vom 28.01.1992 in der Rechtssache Bachmann74, dass der Gerichtshof den Begriff der steuerlichen Kohärenz definierte.75

Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof jedoch darauf hin, dass die Ermittlung der Be-steuerungsgrundlage nach den französischen Steuervorschriften sowohl bei Gesellschaften mit Sitz im Inland als auch bei Zweigniederlassungen und Agenturen von Gesellschaften im Ausland identisch ist. Eine Ungleichbehandlung liegt somit lediglich bei der Gewährung einer damit zusammenhängenden Steuervergünstigung vor. Aus diesem Grunde ist die französische Vorschrift als Diskriminierung anzusehen.76

Trotz der großen Bedeutung der Entscheidung für die Niederlassungsfreiheit und dem damit verbundenen Einfluss auf das direkte Steuerrecht wurde das Urteil vor allem in Deutschland nur sehr zögerlich zur Kenntnis genommen. Europa schien damals noch weit weg und was sollte dieses Urteil schon für Auswirkungen auf die deutsche Besteuerungspraxis haben? Auch das in Deutschland damals angewandte Anrechnungsverfahren zur Körperschaftssteuer galt als nicht europatauglich, da eine grenzüberschreitende Anrechnung nicht vorgesehen war. Weder konnte ein deutscher Anteilseigner ausländische Körperschaftssteuer anrechnen, wenn er an einer ausländischen Kapitalgesellschaft Anteile gehalten hat, noch konnte ein ausländischer Anteilseigner in seinem Heimatland die deutsche Körperschaftssteuer anrechnen. Doch dauerte es noch fast 15 Jahre, bevor Deutschland endlich auf die europäische Rechtsprechung reagierte und das Anrechnungsverfahren durch das Halbeinkünfteverfahren ersetzte.

3.2 Daily Mail (1988)

Eine weitere bedeutende Entscheidung mit steuerlichem Hintergrund betraf die Rechtssache Daily Mail77. Das Unternehmen Daily Mail and General Trust PLC (nachfolgend: Daily Mail plc) war als Aktiengesellschaft im Vereinigten Königreich registriert und unterlag, da sich Sitz und Geschäftsleitung des Unternehmens in London befanden, dem britischen Körper-schaftssteuerrecht. Dieses sah nicht nur die Veranlagung der laufenden Einkünfte vor, sondern unter anderem auch die Besteuerung des realisierten Wertzuwachses bei der Abgabe von In-vestitionsgütern (capital gains tax). Während Unternehmen, die ihren Sitz und ihre Geschäfts-leitung im Vereinigten Königreich hatten, grundsätzlich mit ihrem Welteinkommen der Regelung unterlagen, waren im Ausland ansässige Gesellschaften lediglich mit ihren im Vereinigten Königreich erzielten Einkünften steuerpflichtig.78

Das Unternehmen Daily Mail plc plante eigene Aktien zurückzukaufen. Dafür sollte ein im Betriebsvermögen gehaltenes Portfolio von an der Londoner Börse notierten Wertpapieren verkauft werden. Um der Besteuerung des dabei entstehenden Veräußerungsgewinns zu entgehen - der Wert der Aktien hatte sich seit der Anschaffung versechsfacht - beabsichtigte das Unternehmen, seine Geschäftsleitung vor der Veräußerung der Aktien in die Niederlande zu verlegen. Dafür benötigte Daily Mail plc nach damaligem britischem Recht die Genehmigung des britischen Finanzministeriums. Die Erlaubnis wurde dem Unternehmen jedoch von der britischen Regierung verwehrt, bzw. von einem vorherigen Verkauf eines erheblichen Teils der Aktien abhängig gemacht. Daraufhin erhob Daily Mail plc Klage vor dem High Court of Justice mit der Begründung, dass die Niederlassungsfreiheit nach Art. 52 EWG-Vertrag (Art. 43 EG) beschränkt sei, wenn eine Verlegung des Sitzes ohne vorherige Zustimmung nicht möglich wäre.79

Streitgegenstand war somit die Frage, ob die Verweigerung der Zustimmung zur Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft vom Vereinigten Königreich in die Niederlande durch die britische Finanzverwaltung gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt. Der EuGH kam hier zu dem Ergebnis, dass die streitige Rechtsvorschrift, wonach die Sitzverlegung nur mit Zustimmung des britischen Finanzministeriums zulässig war, mit dem EG-Recht vereinbar ist.

[...]


1 In Vielfalt geeint.

2 Vgl. http://europa.eu/abc/panorama/index_de.htm, Abruf am 19.06.2006.

3 Vgl. Oppermann, T., 2005, S. 358 f.

4 So zum Beispiel die Mutter-Tochter-Richtlinie, die Fusionsrichtlinie oder die Zins- und Lizenzrichtlinie.

5 Vgl. EuGH v. 13.12.2005, Rs. C-446/03 (Marks &Spencer), BB 2005, S. 2788 ff.

6 Vgl. GA Marudo, Schlussanträge v. 07.04.2005, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), Der Konzern 2005, S. 322 ff. = http://www.gmbhr.de/volltext.htm, Abruf am 19.06.2006; Balmes F./Brück M./Ribbrock M., BB 2005, S. 966.

7 Die entsprechende Regelung des britischen Körperschaftssteuersystems, welche die Verrechnung der Verluste innerhalb eines Konzerns ermöglicht.

8 Ersuchen um Vorabentscheidung, vorgelegt durch Beschluss des Korkein Hallintooikeus vom 23.05.2005 in dem Rechtsstreit Oy Esab (Rs. C-231/05), abgedruckt im Amtblatt der Europäischen Union C193/17 vom 06.08.2005, S. 17.

9 Die EKGS trat am 23. Juli 1952 in Kraft.

10 Vgl. Arndt, H.-W., 2004, S. 9 ff.; Oppermann, T., 2005, S.1 ff.

11 Quelle: in Anlehnung an Holtmann, J., 2003, S. 8.

12 EUV, Präambel.

13 Vgl. Arndt, H.-W., 2004, S. 13 ff.

14 Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 182.

15 Vgl. Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 182.

16 Dazu gehören auch viele Protokolle, wie beispielsweise die Satzung des EuGH (Art. 245 EGV).

17 Zum Beispiel durch den Maastrichter Vertrag, den Amsterdamer Vertrag oder den Vertrag von Nizza.

18 Vgl. Arndt, H-W., 2004, S. 77 ff., S. 91 ff.

19 Die Aufzählung in Art. 249 EGV ist nicht abschließend. Rat und Kommission können auch andere als in Art. 249 EGV genannte Rechtsakte erlassen (z. B. Beschlüsse des Europäischen Parlaments).

20 Vgl. Arndt, H.-W., 2004, S. 77., S. 91 ff.

21 Vgl. Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 182 f.

22 Vgl. Oppermann, T., 2005, S. 157; Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 101 ff.

23 Vgl. Fischer, H. G., 2005, Rn. 171 ff.

24 Vgl. Fischer, H. G., 2005, Rn. 171 ff.

25 Die Freiheit des Personenverkehrs wird weiter unterteilt in die Arbeitnehmerfreizügigkeit und das Niederlassungsrecht.

26 Vgl. EuGH v. 10.12.1968, Rs. 7/68 (Kommission/Italien), Slg. 1968, 633, Rn. 7 und EuGH v. 09.07.1992, Rs. C-2/90 (Kommission/Belgien), Slg. 1992, I-4431, Rn. 26.

27 Vgl. Fischer, H. G., 2005, Rn. 380 ff.

28 Vgl. Oppermann, T., 2005, S. 517 f.

29 Ausführlich zur Niederlassungsfreiheit unter 2.2.3 und 3.

30 Vgl. Fischer, H. G., 2005, Rn. 514 ff.; Oppermann, T., 2005, S. 539.

31 Vgl. Fischer, H. G., 2005, Rn. 527 ff.; Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 401 ff.

32 EuGH v. 30.11.1995, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Rn. 25.

33 Vgl. Fischer, H. G., 2005, Rn. 485.

34 Vgl. Fischer, H. G., 2005, Rn. 499 f.

35 Näheres dazu unter 2.4.

36 EuGH v. 27.09.1988, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5483; Siehe dazu auch unter 3.2.

37 EuGH v. 09.03.1999, Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999, I-1459.

38 EuGH v. 05.11.2002, Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002, I-9919

39 EuGH v. 30.09.2003, Rs. C-167/01 (Inspire Art), Slg. 2003, I-10155

40 Vgl. Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 390 f.

41 EuGH v. 15.02.2002, Rs. C-439/99 (Kommission/Italien), Slg. 2002, I-305, Rn. 22; In diesem Sinn für die Niederlassungsfreiheit: EuGH v. 30.03.1993, Rs. C-168/91 (Konstandinidis), Slg. 1993, I-1191, Rn. 15.

42 Vgl. EuGH v. 30.11.1995, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Rn. 37 ff.

43 Vgl. Eidenmüller, H., 2004, S. 48.

44 Vgl. Arndt, H.-W., 2004, S. 104; Holtmann, J., 2003, S. 85.

45 Vgl. EuGH v. 15.07.1964, Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251.

46 Vgl. Oppermann, T., 2005, S. 181 ff., Holtmann, J., 2003, S. 86 f.

47 Vgl. Arndt, H.-W., 2004, S. 105; Holtmann, J., 2003, S. 87 ff.

48 Vgl. Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 245 ff.

49 Vgl. Ebenda, S. 245 ff.

50 Vgl. Ebenda, S. 146 f., S. 280 f.

51 Das Kapitel „Steuerliche Vorschriften“ umfasst die Art. 90 bis 93 EG.

52 Vgl. oben 2.2.

53 Vgl. Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 459 ff.; Vogel, K., StuW 2005, S. 1 f.

54 Nach Art. 94 EG ist eine Rechtsangleichung auf dem Gebiet der direkten Steuern nur durch einstimmigen Beschluss des Rates möglich.

55 Vogel, K., StuW 2005, S. 374.

56 Vgl. oben 2.4; EuGH v. 15.07.1964, Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251.

57 Vgl. Vogel, K., StuW 2005, S. 374.

58 Vgl. Vogel, K., StuW 2005, S. 374, GA Marudo, Schlussanträge v. 07.04.2005, Rs. C-446/03 (Marks & Spencer), Der Konzern 2005, S. 322 ff. = http://www.gmbhr.de/volltext.htm, Abruf am 19.06.2006, Rn. 21.

59 Vgl. Vogel, K., StuW 2005, S. 374 f.

60 Vgl. Eicker, K./Kettler, T., BB 2005, S. 131 ff.

61 Vgl. Kokott, J./Henze, T., NJW 2006, S. 177 ff.

62 Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 288.

63 Erstmals in der Rs. Defrenne (EuGH v. 08.04.1976, Rs. 43/75, Slg. 1976, S. 455 ff.), danach beispielsweise auch in der Rs. EKW (EuGH v. 09.03.2000, Rs. C-437/97, Slg. 2000, I-1157 ff.) und der Rs. Sürül (EuGH v. 03.10.2002, Rs. C-347/00, Slg. 1999, I-2685 ff.).

64 Vgl. Kokott, J./Henze, T., NJW 2006, S. 177 ff.; Bieber, R./Epiney, A./Haag, M., 2005, S. 288 f.

65 Vgl. Kokott, J./Henze, T., NJW 2006, S. 177 ff.; Eicker, K./Kettler, T., BB 2005, S. 131 ff.

66 Vgl. dazu 2.6.

67 Vgl. EuGH v. 07.05.1985, Rs. 18/84 (Kommission/Frankreich), Slg. 1985, 1339.

68 Cordewener, A., 2002, S. 388.

69 EuGH v. 28.01.1986, Rs. 270/83 (avoir fiscal), Slg. 1986, 273.

70 Vgl. EuGH v. 28.01.1986, Rs. 270/83 (avoir fiscal), Slg. 1986, 273, Rn. 1 ff.; Cordewener, A., 2002, S. 388 f.

71 Vgl. EuGH v. 28.01.1986, Rs. 270/83 (avoir fiscal), Slg. 1986, 273, Urteilstenor.

72 EuGH v. 28.01.1986, Rs. 270/83 (avoir fiscal), Slg. 1986, 273, Rn. 14.

73 EuGH v. 28.01.1986, Rs. 270/83 (avoir fiscal), Slg. 1986, 273, Rn. 19.

74 EuGH v. 28.01.1992, Rs. C-204/90 (Bachmann), Slg. 1992, I-249; Vgl dazu 4.4.2.1.

75 Vgl. Cordewener, A., 2002, S. 389 f.

76 Vgl. EuGH v. 28.01.1986, Rs. 270/83 (avoir fiscal), Slg. 1986, 273, Rn. 19 ff.

77 EuGH v. 27.09.1988, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5483.

78 Vgl. EuGH v. 27.09.1988, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5483, Rn. 1 ff.

79 Vgl. EuGH v. 27.09.1988, Rs. 81/87 (Daily Mail), Slg. 1988, 5483, Rn. 6 ff.; Cordewener, A., 2002, S. 405 f.

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Neuere Entwicklungen bei der Niederlassungsfreiheit nach dem Urteil Marks & Spencer
Hochschule
Fachhochschule Erfurt
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
91
Katalognummer
V153541
ISBN (eBook)
9783640657605
ISBN (Buch)
9783640658398
Dateigröße
1126 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Niederlassungsfreiheit, Steuerrecht, EuGH, Körperschaftsteuer, Organschaft, Marks & Spencer
Arbeit zitieren
Doreen Schampel (Autor:in), 2006, Neuere Entwicklungen bei der Niederlassungsfreiheit nach dem Urteil Marks & Spencer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/153541

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