Bildungsungleichheiten in Deutschland

Welche Rolle spielen soziale Schichten und Migrationshintergrund?


Diplomarbeit, 2010

93 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffserklärung
2.1 Bildung
2.2 Bildungsnotstand
2.3 Bildungssoziologie
2.4 Bildungsungleichheiten
2.5 Soziale Ungleichheit
2.6 Reproduktion
2.7 Soziale Reproduktion
2.8 Soziale Reproduktion nach Pierre Bourdieu
2.9 Chancengleichheiten
2.10 Bildungschancen
2.11 Migranten
2.12 Migration

3. Die Bildungsexpansion
3.1 Historische Eingrenzungen der Bildungsexpansion
3.2 Ursachen der Bildungsexpansion
3.3 Folgen der Bildungsexpansion
3.3.1 Strukturelle Folgen der Bildungsexpansion
3.3.2 Kulturelle Folgen der Bildungsexpansion

4. Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten

5. Bildungssysteme in Deutschland
5.1 Anteile von deutschen und ausländischen Schülerinnen und Schüler im deutschen Schulsystem

6. Bildungschancen und Bildungsmisserfolge von ausländischen Schülerinnen und Schülern im deutschen Bildungssystem
6.1 Art und Ausmaß der Nachteile von Schülern mit Migrationshintergrund gegenüber einheimischen Schülern
6.2 Erklärungen und Gründe für Bildungsnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund

7. Pisa
7.1 Was ist PISA
7.2 Ziele von PISA
7.3 Der PISA- Schock
7.4 Teilnehmerstaaten PISA 2000, 2003 und
7.5 Die Ergebnisse von PISA
7.5.1 PISA Ergebnisse
7.5.2 PISA Ergebnisse
7.5.3 PISA Ergebnisse
7.6 Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb am Beispiel
7.6.1 Die Familien der 15-Jährigen
7.6.2 Soziale Herkunft und Bildungsbeteiligung
7.6.3 Jugendliche aus Migrationsfamilien
7.6.4 Soziale Herkunft und Kompetenzerwerb im nationalen und internationalen Vergleich

8. Bildung und soziale Ungleichheit nach Bourdieu und Boudon
8.1 Das meritokratische Prinzip sozialer Ungleichheit
8.2 Soziale Ungleichheit nach Bourdieu
8.2.1 Struktur, Habitus und Praxis nach Pierre Bourdieu
8.2.2 Die Struktur nach Pierre Bourdieu
8.2.3 Habitus und Praxis nach Pierre Bourdieu
8.2.4 Bildung und Klassen nach Pierre Bourdieu
8.2.4.1 Das kulturelle und ökonomische Kapital nach Pierre Bourdieu
8.2.4.2 Das soziale Kapital nach Pierre Bourdieu
8.2.4.3 Übertragbarkeit des Bourdieuschen Ansatzes auf Deutschland
8.5 Soziale Ungleichheit nach Boudon
8.5.1 Die Schulische Laufbahn nach Boudon
8.5.2 Von der Grundschule zum Übergang in die Sekundarstufe
8.5.3 Chancenunterschiede auf Hauptschulen und Gymnasien
8.6 Ein Vergleich zwischen Bourdieu und Boudon

9. Ungleichheitserzeugende Strukturen im deutschen Bildungssystem
9.1 Differenzen zwischen lebensweltlichen und institutionalisierten Bildungsprozessen
9.2 Schule als Institution der Mittelschicht nach Pierre Bourdieu

10. Gleiche Bildungschancen für alle
10.1 Lösungsvorschläge zur Verringerung von Bildungsungleichheiten
10.2 Lösungsansätze im Bezug auf das europäische Ausland

11. Schlussbetrachtung und Fazit

Literaturverzeichnis

Monographien

Internetquellen.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Das Schulsystem in Deutschland

Abb. 2: Schüleranzahl in Deutschland in allen Schulformen

Abb. 3: Verteilung der ausländischen Schüler nach Schularten (2008/2009)

Abb. 4: Die PISA-Studie (Jahr 2000)

Abb. 5: Die PISA-Studie (Jahr 2003)

Abb. 6: Die PISA-Studie (Jahr 2006)

Abb. 7: Bildungsabschlüsse

Abb. 8: 15-jährige nach Schichtzugehörigkeit und Bildungsgang (in %)

Abb. 9: 15-jährige nach Migrationshintergrund und Bildungsgang ohne Sonderschüler (in %)

1. Einleitung

„Unterschiede der, Bildung‘ sind heute, gegenüber dem klassenbildenden Element der Besitz- und ökonomischen Funktionsgliederung, zweifellos der wichtigste eigentlich ständebildende Unterschied. Wesentlich kraft des sozialen Prestiges der Bildung behauptet sich der moderne Offizier vor der Front, der moderne Beamte innerhalb der sozialen Gemeinschaft. Unterschiede der „Bildung“ sind - man mag das noch so sehr bedauern – eine der allerstärksten rein innerlich wirkenden sozialen Schranken. Vor allem in Deutschland, wo fast die sämtlichen privilegierten Stellungen innerhalb und außerhalb des Staatsdienstes nicht nur an eine Qualifikation von Fachwissen, sondern außerdem von ‚allgemeiner Bildung‘ geknüpft (sind) und das ganze Schul- und Hochschulsystem in deren Dienst gestellt ist.“[1]

Das Thema Bildung steht bereits seit mehreren Jahrzehnten im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Die große Bedeutung von Bildung in der heutigen Gesellschaft ist unumstritten. Seit der Bildungsexpansion in den 50er und der Bildungsdebatte in den 60er Jahren sind im Bereich Bildung sowohl positive wie auch negative Entwicklungen zu verzeichnen. So wurde durch die Bildungsexpansion eine allgemeine Anhebung des Bildungsniveaus erreicht, das heißt, dass sich die Bildungschancen für alle Schichten verbessert haben. Dennoch konnten gravierende schichttypische Ungleichheiten bis heute nicht beseitigt werden. Im Gegenteil, die Ungleichheiten wachsen weiter an.

Die Ausdehnung des Bildungssystems, besonders im Bereich der Realschulen, des Gymnasiums und der Hochschulen hat dazu beigetragen, dass Kinder bessere Möglichkeiten haben, höhere Bildungsabschlüsse zu erwerben. Jedoch prägt weiterhin die soziale Herkunft die Bildungschancen im deutschen Bildungssystem. So ist es damals wie heute für ein privilegiertes[2] Kind leichter ein Gymnasium zu besuchen und somit einen höheren Bildungsabschluss zu erwerben als für ein nicht privilegiertes Kind. Auch ist es heute immer noch so, dass Kinder, die eine Hauptschule besuchen, eher aus sozial schwachen Schichten oder aus Familien mit Migrationshintergrund stammen.

Die Bildungschancen für Mädchen hingegen haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verbessert. So war es für ein Mädchen vor ein paar Jahrzehnten noch fast undenkbar, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen; dies ist heute jedoch nur noch eine schwache Erinnerung. Mädchen erreichen heutzutage in vielen Bereichen höhere Bildungsabschlüsse als ihre männlichen Mitstreiter und auch die beruflichen Möglichkeiten von Mädchen und Frauen haben sich sehr erweitert. Doch auch hier ist zu beobachten, dass es Mädchen aus sozial schwachen Schichten und Mädchen mit Migrationshintergrund weniger als ihren sozial besser gestellten Mitschülerinnen gelingt, diese Chancen zu nutzen.

Auch die PISA-Studie, die in der Öffentlichkeit zum „PISA-Schock“ geführt hat, hat erheblich dazu beigetragen, dass das Thema Bildung in Deutschland wieder in den Fokus der Gesellschaft getreten ist. Durch den internationalen Vergleich bei PISA wurde deutlich, dass Deutschland Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft massiv benachteiligt. Der Zusammenhang von Kompetenzerwerb und sozialer Herkunft ist in Deutschland immer noch entscheidend höher für den Erwerb eines höheren Bildungsabschlusses als in anderen vergleichbaren europäischen Industrieländern. In Bezug auf die Ungleichheiten zwischen den sozialen Schichten wurden zwar kleinere Fortschritte erzielt, jedoch noch nicht genug, um vom Gerechtigkeit und Gleichheit zwischen den einzelnen sozialen Schichten zu sprechen. Es lässt sich zwar in den letzten Jahrzehnten eine Besserung verzeichnen, jedoch ist eine wesentliche Steigerung der Bildungsmöglichkeiten für sozial schwache Schichten bis heute ausgeblieben. Auch der Zugang zu höherer Bildung ist für Kinder mit Migrationshintergrund immer noch sehr schwer und ungleich verteilt. So ist es für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund immer noch bedeutend schwieriger, an ein Gymnasium oder eine Realschule zu kommen als für ein einheimisches Kind.

Die folgende Arbeit befasst sich mit der Frage, wie Bildungsungleichheiten in Deutschland entstehen und (Re)- produziert werden und inwieweit Bildungsungleichheiten in Deutschland vorhanden sind. Dies wird anhand der PISA-Studie genau betrachtet. Der besondere Fokus liegt dabei auf der Frage, warum sozial schwache Schichten sowie Kinder mit Migrationshintergrund immer noch so stark von der Selektion des deutschen Schulsystems betroffen sind und was getan werden kann, um diesen Zustand langfristig zu ändern.

Um den Hintergrund der heutigen Probleme zu beleuchten, werden Ursachen und Folgen der Bildungsexpansion genauer betrachtet und ihre Wirkung erläutert. Auch werden in der folgenden Arbeit die Theorien von Bourdieu und Boudon dargestellt, erläutert und miteinander verglichen um aus soziologischer Sicht das Problem der sozialen Ungleichheit besser bearbeiten zu können.

Um Vorschläge erarbeiten zu können, wie dem starken Zusammenhags von sozialer Herkunft und Bildung im deutschen Schulsystem entgegengewirkt werden kann, wird in der vorliegenden Arbeit nicht nur das deutsche Bildungssystem dargestellt und erläutert, sondern mit den Bildungssystemen der europäischen Länder (im besonderen Schweden) verglichen, die bei der PISA-Studie erheblich besser abgeschnitten haben als Deutschland.

2. Begriffserklärung

Bevor die sozialen Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem erläutert werden können, ist es nötig, die für die Problematik zentralen Begriffe zu erläutern. Dazu zählen vor allem: Bildung, Bildungsnotstand, Bildungssoziologie, Bildungsbenachteiligung, soziale Ungleichheit, Reproduktion, soziale Reproduktion, soziale Reproduktion nach Pierre Bourdieu, Chancengleichheit, Bildungschancen, Migranten sowie der Begriff Migration.

2.1 Bildung

Im weitesten Sinne versteht man Bildung als individuelle Aneignung von Kultur − eine Aneignung, die den Einzelnen die kognitiven, expressiven und ästhetischen Traditionen der Menschheit und seiner Kultur verfügbar macht. Hierdurch erweitert Bildung die Ausdrucksmöglichkeiten, Interpretationsmuster und Sichtweisen des Individuums auf die Welt und auf sich selbst und transzendiert damit die individuelle Erfahrung des Hier und Jetzt. Das entscheidende Kriterium dafür, ob von Bildung gesprochen werden kann, ist das der Nachhaltigkeit, während die Art und Weise der Aneignung zunächst unerheblich ist: Ob im Rahmen formeller Institutionen oder auf informellem Wege, durch explizite Lehre, Erziehung oder aber durch mimetische Aneignung erworben, kommt es darauf an, dass das Erlernte langfristig verfügbar ist.[3]

Bildung schließt also die bewusste Kenntnis von Wissenselementen wie auch ein weniger bewusstes Verstehen und Erkennen von Sinnhaftigkeit ein. Durch diese Aneignung von Kultur werden Kompetenzen und Fähigkeiten erlangt, die einen selbständigen Umgang mit ihr ermöglichen. Sowohl für die Rekonstruktion von Erkenntnissen und Wissensgehalten als auch für die genuine Neuschöpfung und Produktion von Wissen durch sinnvollen Einsatz der erworbenen Kenntnisse ist Bildung grundlegend. Gleichzeitig birgt sie den Keim zu künstlerisch-kreativer Betätigung, da diese eine (explizite oder weniger bewusste) Kenntnis der Sinnhaftigkeit von Formelementen voraussetzt. Die Aspekte des Umgangs mit ihr und der Kenntnis ihrer Sinnhaftigkeit kennzeichnen Bildung als Bestandteil des Habitus[4], der sowohl bewusste Praxis als auch “implicitˮ oder “tacit knowledgeˮ[5] einschließt.

In diesem Verständnis ist Bildung nicht beschränkt auf Schulwissen und spezielle Kenntnisse der Berufsbildung oder akademischen Lehre. Sie umfasst ebenfalls kollektives Wissen, wie es in Form von volkstümlicher Kultur vorhanden ist und durch Erziehung und Tradition weitergegeben wird sowie durch Praxis angeeignetes implizites Wissen. Bildung, im Sinne Bourdieus als »inkorporiertes kulturelles Kapital« verstanden (Bourdieu 1983), schließt durch ihre Einverleibung gleichermaßen kognitive und habituelle Aspekte ein. Als Bestandteil des Habitus ist Bildung daher aufs Engste mit der biologischen, leiblichen Existenz des Individuums verbunden. Durch das Gemeinschaft konstituierende Moment des Habitus umfasst der so verwendete Bildungsbegriff neben einer Mikro-Perspektive, die einzelne Akteure als Individuen im selbständigen Umgang mit inkorporiertem Wissen beschreibt, auch eine Makro-Perspektive, die die gesellschaftlichen Aspekte von Bildung in den Blick nimmt. Damit ist Bildung in diesem weit gefassten Sinne die Basis für Mehreres: Als durch Inkorporation angeeignete, einverleibte Kultur prägt sie die Individuen in ihrer kulturellen Praxis und schafft zugleich durch die Gemeinsamkeit mit all jenen, die die gleiche Praxis pflegen, kulturelle Identität. Die enge Verbindung von Praxis und Identität verweist außerdem auf den sozialen Kontext, in dem beides zu platzieren ist: Gemeinsame kulturelle Praxis ist immer auch soziale Praxis; daher impliziert kulturelle Identität ebenfalls eine soziale Verortung in der Gesellschaft und damit soziale Identität.[6]

2.2 Bildungsnotstand

Die Schlagworte der 1960er Jahre, unter dem besonders durch G. Picht (Artikelserie „Die deutsche Bildungskatastrophe“) auf die grundsätzlichen Planungsmängel im deutschen Bildungswesen hingewiesen wurde, waren: zunehmender Mangel an Lehrern für alle Schulzweige, geringere Bildungschancen für die Kinder von Arbeitern und der Landbevölkerung u.a. Diese Hinweise haben zur Entwicklung der Bildungsplanung beigetragen.[7]

2.3 Bildungssoziologie

Die Bildungssoziologie untersucht die gesellschaftlichen - ökonomischen, sozialen und kulturellen - Bedingungen des Bildungsprozesses und der Institutionen im Bildungswesen. Sie ist Schnittpunkt soziologischer und erziehungswissenschaftlicher Bildungstheorie. Bei der Bildungsforschung handelt es sich um eine Teildisziplin der Soziologie und Erziehungswissenschaft.[8]

Die Bildungssoziologie befasst sich mit den Grundlagen und Rahmenbedingungen, aber auch den Funktionen von Bildung und hinterfragt kritisch, inwieweit das Bildungssystem soziale Ungleichheit reproduziert und im Sinne größerer Chancengleichheit reformiert werden kann. Somit liefert die Bildungssoziologie Erkenntnisse und Daten, die in die Bildungspolitik und Bildungsplanung Eingang finden. Zur Bildungssoziologie gehört ebenso die Beschreibung und Analyse der Bildungsbeteiligung verschiedener Bevölkerungsgruppen über Generationen hinweg, der Bildungskonzepte und ihrer Funktionen und Veränderungen (z.B. Arbeiterbildung, humanistische Bildung, Lebenslanges Lernen usw.) sowie der Zusammenhänge von Bildung und sozialdemographischen Phänomenen.

Bildungssoziologie umfasst die Bereiche „Bildung und gesellschaftliche Entwicklung“, „Schulische Sozialisation“, „Soziologie der Schule“, „Bildung und soziale Ungleichheit“, „Mädchen und Frauen im Bildungswesen“ und „Soziologie der Hochschule“.

Starke fachliche Überschneidungen bestehen mit der Erziehungssoziologie und der pädagogischen Soziologie.[9]

2.4 Bildungsungleichheiten

Ungleichheit der Bildung besteht, wenn Kinder bestimmter Gesellschaftsschichten (z.B. Arbeiterkinder oder Migrantenkinder) durch soziale Barrieren und durch schichtspezifische Sprachentwicklung in der Entfaltung ihrer Bildungsmöglichkeiten behindert sind.[10]

2.5 Soziale Ungleichheit

Soziale Ungleichheit wird in der nach ihr benannten Fachrichtung der Soziologie, der Ungleichheitsforschung, untersucht. Dabei geht es um Ausprägungen, Ursachen und Folgen dieses Phänomens.

Unter sozialer Ungleichheit versteht man Unterschiede in den Lebensbedingungen und Lebenschancen von Menschen. Vor- und Nachteile können bei ungleichem Zugang zu allgemein verfügbaren und sozial erstrebenswerten Gütern und/oder sozialen Positionen entstehen. Durch ungleiche Machtverteilungen und Interaktionsmöglichkeiten sind Individuen, Gruppen oder Gesellschaften dauerhaft eingeschränkt oder bevorzugt.[11]

2.6 Reproduktion

Unter Reproduktion versteht man in der Soziologie im Zusammenhang mit sozialen Systemen (soziale Reproduktion) neben der Neuerstellung auch die Aufrechterhaltung eines Zustandes (Reproduktion des Status quo in im Prinzip dynamischen Systemen).[12]

2.7 Soziale Reproduktion

Soziale Reproduktion bezeichnet die Reproduktion sozialer Strukturen und Systeme, in der Regel auf der Grundlage bestimmter Voraussetzungen in Demographie, Bildung und der Vererbung materiellen Besitzes oder von Rechtstiteln (wie früher beim Adel). Reproduktion wird dabei als Aufrechterhaltung und Weiterführung bestehender Verhältnisse verstanden. Dabei wird der soziale Strukturwandel außer Acht gelassen. Voraussetzung jeder sozialen Reproduktion ist, dass in der sich möglicherweise reproduzierenden sozialen Klasse, sozialen Schicht oder auch nur Berufsgruppe (man denke z.B. an Artistenfamilien) eigene Kinder geboren werden. Ist die Kinderzahl kleiner als die Zahl der Eltern, entsteht allein dadurch schon soziale Mobilität.

Im Zusammenhang mit Bildung beschreibt Reproduktion, dass das Bildungssystem dazu beiträgt, bestehende Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten. In der Bildungsforschung lassen sich grob zwei Richtungen differenzieren, die die Funktion von Bildung für zur für gesellschaftliche Veränderungen erklären. Während die Wandelthese besagt, dass durch das Bildungssystem in entscheidender Weise gesellschaftliche Ressourcen verteilt werden, sieht die Reproduktionsthese in der Bildung keine unabhängige Variable. Das Bildungssystem sei vollständig abhängig von der Gesellschaftsstruktur und seine Aufgabe bestehe lediglich darin, die bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten zu legitimieren und zu reproduzieren. Heute kommen diese beiden Thesen in ihrer Reinform kaum noch vor.[13]

2.8 Soziale Reproduktion nach Pierre Bourdieu

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu betont die unbewusste und bewusste Weitergabe des individuellen und des Klassenhabitus als Grundlage der sozialen Reproduktion. Er bezeichnet die unterschiedliche Verfügung über soziales und kulturelles bzw. Bildungskapital als Voraussetzung für die Übertragung der feinen Unterschiede zwischen den Menschen bezüglich Geschmack, Lebensstil und sozialem Status. Die soziale Reproduktion sieht er durch die individuelle und gesellschaftliche Sozialisation als eng determiniert an. Die Person inkorporiert die Ausdrucksweisen ihrer gesellschaftlichen Klasse und integriert sie individuell. Sozialer Wandel stellt für ihn eher die Ausnahme dar. Chancengleichheit ist eine Illusion.[14]

2.9 Chancengleichheiten

Die Chancengleichheit ist ein politischer Begriff, „der das Recht auf gleiche Ausgangsbedingungen für die einzelnen Glieder von Staat und Gesellschaft bei der Entfaltung ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen bezeichnet.“[15]

Chancengleichheit bezeichnet in modernen Gesellschaften das Recht auf eine gerechte Verteilung von Zugangs- und Lebenschancen. Dazu gehört insbesondere das Verbot von Diskriminierung beispielsweise aufgrund des Geschlechtes, des Alters, der Religion oder der sozialen Herkunft. Dies ist in den Menschenrechten festgeschrieben.[16]

Während in der Natur Chancen nach statistisch beschreibbaren Regeln, per Zufall oder über die Macht des Stärkeren/Ersten/Angepasstesten (engl. fittest) verteilt werden, werden Chancen in menschlichen Gesellschaften durch Menschen reguliert. In den Bemühungen um Chancengleichheit drückt sich das Verständnis von Gerechtigkeit als Demokratie aus. Mangelnde Chancengleichheit wird als ungerecht empfunden und kann den sozialen Frieden gefährden.[17]

2.10 Bildungschancen

Bildungschancen beziehen sich auf die Möglichkeit, die persönlichen Anlagen und Fähigkeiten ausbilden zu lassen.

2.11 Migranten

Als Migranten werden jene Menschen bezeichnet, die von einem Wohnsitz/Land zu anderen Wohnsitzen/Ländern wandern bzw. durchziehen. Aus Sicht ihres Herkunftslandes sind Migranten Emigranten, aus Sicht des Aufnahmelandes Immigranten. Die Umschreibung „Menschen mit Migrationshintergrund“ fasst Migranten und ihre Nachkommen unabhängig von der tatsächlichen Staatsbürgerschaft zusammen.[18]

Eine Gruppe von Migranten sind Flüchtlinge, deren Status durch die Genfer Flüchtlingskonvention geregelt ist. Diese haben gewisse Rechte, insbesondere das auf Asyl, die andere Migranten im Allgemeinen nicht genießen. Der Begriff des Flüchtlings umfasst nach dem Genfer Abkommen ausschließlich Personen, die aufgrund von Hautfarbe, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Ethnie) oder politischen Überzeugung ihr Land verlassen. Er schließt also insbesondere Elends- und Umweltflüchtlinge, Klimaflüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge nicht ein.

Die wichtigste Gruppe von Migranten sind die Arbeitsmigranten. Innerhalb der Europäischen Union wird dies durch die Freizügigkeitsregelung erleichtert.

2.12 Migration

Bei Migration handelt es sich um einen soziologischen Begriff, „der für alle Formen räumlicher Mobilität von Individuen, (religiöser, ethnischer usw.) Gruppen, Minderheiten und Volksteilen verwendet wird. Migrationsprozesse können durch erhöhte individuelle Mobilität (z.B. aufgrund von Arbeitssuche) ausgelöst werden. Sie können sich in Form von Binnenmigration (Land- oder Stadtflucht) oder in Form von Ein- beziehungsweise Auswanderung (Immigration, Emigration), also z.B. als politisch-geographische Wanderungsbewegungen, vollziehen.“[19] Als Migration wird auch „jede langfristige, räumliche Verlagerung des Lebensschwerpunktes über eine große Distanz, die ein Verlassen des sozialen“ gewohnten „Aktionsraumes zur Folge hat“ definiert und ist demnach als Synonym für Wanderungen zu gebrauchen.[20]

3. Die Bildungsexpansion

Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes gibt inhaltlich vor, niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen.[21]

Dieser Artikel im Grundgesetz bildet die Grundlage dafür, dass allen Kindern in Deutschland der volle Zugang zu Bildung ermöglicht werden sollte.

Wenn es um den Begriff der „Bildungsexpansion“ geht, stehen vor allem eine höhere Bildungsbeteiligung, der Ausbau von Bildungssystemen, die Ausweitung von Bildungsgelegenheiten für alle Kinder und die erhöhte Nachfrage nach Bildung im Mittelpunkt der Betrachtung. So bestand das Ziel der Bildungsexpansion der 60er Jahren darin, die Rahmenbedingungen für den Bildungszugang so zu gestalten, dass sich die Verweildauer im Bildungssystem verlängert sowie die Zahl höherer Bildungsabschlüsse zunimmt. Auch sollten weder das strukturelle Angebot an Bildungsgelegenheiten noch sozialstrukturelle Eigenschaften von Schulkindern und ihren Eltern systematische Einflüsse auf den Bildungsverlauf und den Erwerb von Bildungszertifikaten haben.[22] Mit dem Ausbau des Schul- und Hochschulwesens und den institutionellen Reformen ist größtenteils erreicht worden, dass institutionelle, ökonomische und geographische Barrieren beim Bildungszugang weitgehend an Bedeutung verloren haben. Insbesondere konnten Mädchen ihre Bildungsdefizite gegenüber den Jungen mehr als ausgleichen, so dass nunmehr von einer Bildungsungleichheit zu Ungunsten von Jungen auszugehen ist.[23]

Sind diese Ziele der Reformbemühungen in den 1960er und 1970er Jahren tatsächlich erreicht worden, als es neben der Abwendung eines drohenden „Bildungsnotstandes“ und der „ Ausschöpfung von Begabtenreserven“, die in den bildungsfernen Sozialschichten vermutet wurden, vor allem um „Chancengleichheit durch Bildung“ ging?[24]

Gemessen an den bildungsreformerischen Zielsetzungen fallen die soziologischen Evaluationen ernüchternd aus. Im Zuge der Bildungsexpansion gab es zwar deutliche Verbesserungen, sprich die quantitative Zunahmen der Bildungsbeteiligung und eine höhere Bildungsqualität in der Bevölkerung, jedoch gab es gemessen am Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Schulbesuch nur mäßige bis geringe Struktureffekte beim Übergang in das Gymnasium.[25] So hängen Chancen für den Übergang in das Gymnasium wie darauf aufbauende Bildungs- und Arbeitsmarktchancen immer noch von der sozialen Herkunft, von der Schichtzugehörigkeit und Klassenlage des Elternhauses ab.[26] Beim Besuch der Realschule hingegen fand eine deutliche Angleichung der Schichten statt.

Dass seinerzeit der Zugang zu höherer Bildung von Chancengleichheit geprägt war und dass vor allem Arbeiterkinder und Kinder von Landwirten, einfachen Angestellten und einfachen Beamten dabei benachteiligt waren, war für Dahrendorf (1965) der Ausgangspunkt, vehement die Einlösung von „Bildung als Bürgerrecht“ zu fordern.[27] Vor dem Hintergrund des von Picht heraufbeschworenen Katastrophenszenarios warnte Dahrendorf davor, Bildung nur unter ökonomischen Aspekten zu betrachten. Vielmehr betonte er, dass Bildung eine entscheidende Grundvoraussetzung für die Entstehung und Garantie einer demokratischen Gesellschaft mündiger Bürger sei: Geringe Bildungsbeteiligung und hohe Bildungsungleichheit indizieren die Distanz der Eltern zu den Bildungseinrichtungen und damit die traditionelle Unmündigkeit der Bürger sowie einen gesellschaftlichen Modernitätsrückstand. Bildung hingegen bedeute Aufklärung und Erziehung zu liberalen mündigen Bürgern.

Dahrendorf teilte die Erwartung, dass mit der Mobilisierung von Bildungsreserven (vor allem in den „bildungsfernen“ Sozialschichten) und mit Reformmaßnahmen im Bildungswesen die soziale Ungleichheit der Bildungsbeteiligung umfassend abgebaut und die gesellschaftliche Durchlässigkeit erhöht werden könne. Zweifelsohne war und ist das Prinzip der Chancengleichheit eine Maxime für die Bildungspolitik und die Gestaltung von Bildungssystemen.[28]

3.1 Historische Eingrenzungen der Bildungsexpansion

Die erste Bildungsexpansion erlebten die Menschen im 18. Jahrhundert. Zu Beginn der Industrialisierung gewann das Thema Bildung an enormer Bedeutung, jedoch war in der damaligen Zeit dieser Zugewinn ein exklusives Recht der Reichen und somit nur den privilegierten Schichten vorbehalten.[29]

Im 19. und 20. Jahrhundert sind nach Müller u.a. drei Bildungsexpansionsschübe in Europa zu verzeichnen:[30]

1. Die erste Etappe der Bildungsexpansion findet zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg statt, es etablierten sich immer mehr kirchenunabhängige, nationale Bildungssysteme, die von der staatlichen Administration kontrolliert wurden.
2. In die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fällt die zweite Etappe der Bildungsexpansion. Durch den einsetzenden Demokratisierungsschub in Europa vollzog sich ein Prozess der Öffnung der weiterführenden Schulbildung für breite Bevölkerungsschichten. Grundlage dafür war die Einführung der Volksschule, die für alle gleichermaßen zur besuchten Schulform wurde.
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt die dritte und entscheidende Etappe der Bildungsexpansion. Diese Bildungsexpansion führte zum Ausbau des tertiären Sektors sowie dem Zugang zu höherer Bildung für alle Schichten.

3.2 Ursachen der Bildungsexpansion

Zu Beginn der Bildungsexpansion standen politische Debatten und Katastrophenszenarien. Den Anstoß zur Bildungsreform gab die Debatte des „Bildungsnotstandes“.[31]

Die großen Qualitätsdefizite im Hinblick auf Bildung machten eine Veränderung unumgänglich. Auch der große Rückstand zum Ausland im Bezug auf die Abiturientenquoten und das Abiturientenniveau ließen Reformen als notwendig erscheinen. Weitere Defizite waren der Lehrernotstand, der schlechte Zustand von Schulräumen und Materialen sowie zu hohe Klassenzahlen.[32]

Eine wichtige Ursache für die Bildungsexpansion war der technische Fortschritt sowie das Wirtschaftwachstum. Durch diesen Fortschritt gewann der Besitz von Bildungszertifikaten bei Arbeitern und besonders bei Arbeitsgebern an Bedeutung und somit stieg die Nachfrage nach Bildung stark an. Durch die Bildungszertifikate ergaben sich für die Arbeitnehmer bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch begann ein Wettlauf um den Statuserwerb durch Bildung. Je höher das Individuum qualifiziert ist desto höher sein Prestige in der Gesellschaft. Eine weitere Ursache für die Bildungsexpansion sind die hohen Investitionen der Regierung in ein besseres Bildungsangebot. Durch dieses höhere Angebot an Bildung stieg auch die Nachfrage der Bevölkerung nach mehr Bildung. Für die Gesellschaft und die in ihr lebenden Individuen war Bildung der einzige Eingang zu knappen Gütern wie z.B., Reichtum, Macht, und Prestige.[33]

3.3 Folgen der Bildungsexpansion

Die Bildungsexpansion hatte zweierlei Folgen, die strukturellen und die kulturellen Folgen.

3.3.1 Strukturelle Folgen der Bildungsexpansion

An erster Stelle müssen die Kernerwartungen, die an die Bildungsexpansion gestellt wurden, geklärt werden. Da war zum einen die erhoffte Erweiterung des Bildungsangebots allgemein, d.h. die Nachfrage nach Bildung sollte gesteigert werden, und zum anderen sollte der Abbau von Bildungsungleichheiten in der Gesellschaft stattfinden. Doch sind diese Kernerwartungen erfüllt worden?

Die Forderung nach höherer Bildungsbeteiligung ist definitiv erreicht worden.[34] Diese Forderung wurde in beiden Bereichen, sprich im höheren sowie im niedrigeren Schulwesen erreicht. Belege dafür finden sich in der Zunahme der Pflichtschulzeit seit dem ersten Bildungsexpansionsschub in den 60er Jahren sowie der im rapiden Anstieg der Abiturientenquote. Auch sprechen die moderate Zunahme von Studienanfängern und die Zunahme von Absolventen im tertiären Bereich wie Universitäten und Fachhochschulen für sich. Die Steigerung im tertiären Bereich ist ein europaweites zu verzeichnendes Phänomen.[35]

Der erhoffte Abbau von Bildungsungleichheiten ist nicht im erwarteten Maße eingetroffen. Wenn man von Bildungsungleichheiten spricht, muss zwischen zwei verschiedenen Ungleichheiten differenziert werden. Zum einen geht es um geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten und zum anderen um Bildungsungleichheiten im Bezug auf die soziale Herkunft und Migrationsstatus.

Ein Abbau im Bezug aus geschlechtsspezifischen Bildungsungleichheiten hat zum Vorteil der Frauen im hohen Maße stattgefunden. So haben Frauen es geschafft, dank der Bildungsexpansion Zugang zu höheren und besseren Bildungsgängen zu erlangen. Es muss auch hier zwischen privilegierten und einheimischen Frauen, Frauen aus sozial schwachen Schichten und Frauen mit Migrationshintergrund unterschieden werden. Im Allgemeinen jedoch hat für die Frauen eine Bildungsexplosion stattgefunden.

Der umfassende Abbau von Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft hingegen fand nicht, wie 1965 von Dahrendorf erhofft, statt. Akademikerkinder stellen noch immer den größten Teil der Schülerinnen und Schüler des Tertiärsektors. Arbeiterkinder sind weiterhin in den oberen Sektoren unterrepräsentiert, d.h. die Bildungschancen[36] sind noch immer von der sozialen Herkunft abhängig. Einige Gründe dafür sind, dass die neuen höheren Bildungsgelegenheiten nur von den oberen Schichten genutzt werden. Die unteren Schichten haben keinen Zugang zu den höheren Bildungsgelegenheiten gefunden. Der Grund dafür liegt in der Kosten-Nutzen-Kalkulation der Familien.[37] Die Kosten entsprechen für die meisten Familien nicht dem erhofften Nutzen, der daraus hervorgeht.

Auch ausländische Familien sind früher wie heute immer noch die am stärksten benachteiligte Gruppe im Bezug auf die Bildungschancen.[38] Der Anteil dieser Kinder auf Hauptschulen ist enorm hoch und die Hauptschule bekommt den Titel der „Resteschule“ für sozial schwache sowie Kinder mit ausländischer Abstammung.

So kann festgehalten werden, dass sich trotz der Bildungsexpansion und der verbesserten Übergangschancen für niedrige wie für höhere Sozialschichten weder die soziale Struktur der Zugangschancen zum Gymnasium noch die soziale Struktur der intergenerationalen Vererbung von Bildungsabschlüssen grundlegend geändert hat.[39]

3.3.2 Kulturelle Folgen der Bildungsexpansion

Zu den kulturellen Folgen zählen Veränderungen der Lebensstile, der Werthaltung, Veränderungen in der Politik sowie Veränderungen der Handlungsmuster der Individuen.[40]

Durch das höhere Angebot an Bildung wurde das Interesse in der Gesellschaft an der Politik größer. So stieg mit der Bildungsexpansion und dem höheren Interesse an der Politik die Wahlbeteiligung. Eine weitere kulturelle Folge ist, dass die fremdenfeindliche Einstellung der Menschen zurückging, da durch das höhere Bildungsangebot mehr Menschen Zugang zur Bildung hatten und durch höhere Bildung die Einstellung der Menschen verändert wurde. Auch gab es Veränderungen in der Geburtenrate sowie der Heiratsraten. Beide sind gefallen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden, da Frauen durch die Bildungsexpansion unabhängiger wurden und mehr arbeiteten. Des Weiteren hat sich die Lebensweise der Menschen verbessert, sie aßen gesünder, da sie durch mehr Einkommen und mehr Wissen eine bessere und gesündere Einstellung zum Leben fanden.[41]

4. Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten

„Einmal die Tatsache, dass die Begabung für höhere Bildungsziele von der Natur nun einmal nur einem zahlenmäßig begrenzten Personenkreis vorbehalten ist; und sodann die weitere Tatsache, dass diese Begabungen sich zwar auf alle Stände und Klassen der Bevölkerung verteilen, nicht aber so, dass sie prozentual völlig gleichmäßig unter den einzelnen sozialen Schichten verteilt sind. Diese biologisch gegebene Ungleichheit kann durch keine zivilisatorische Maßnahme beseitigt werden, auch nicht durch die Änderung unseres sogenannten zweispurigen Schulsystems zugunsten eines Einheitsschulsystems.“ [42]

Die Ergebnisse der PISA-Studie haben gezeigt, dass die soziale Selektion im deutschen Bildungssystem sehr stark ausgeprägt und wesentlich höher als in den meisten anderen untersuchten Ländern ist.[43] Im Wesentlichen lassen sich zwei bildungsbenachteiligte Gruppen ausmachen. Wie schon erwähnt sind dies zum einen jene Kinder, die aus bildungsfernen Familien stammen und zum anderen jene Kinder, die aus Familien mit Migrationshintergrund stammen. Die Benachteiligungen werden heute teilweise immer noch über Generationen hinweg weitervererbt. Trotz der in den letzten Jahrzehnten eröffneten Möglichkeiten und den Veränderungen in Deutschland, wie z.B. die Schulpflicht, die Bildungsreformen und die Bildungsexpansion, besteht noch immer kein gleichmäßiger Zugang für alle Sozialgruppen zu höherer Bildung und den Erwerb von hochwertigeren Bildungsabschlüssen. Es besteht immer noch eine soziale Ungleichheit von Bildungschancen zwischen den einzelnen Sozialschichten.

Drei wichtige Merkmale spielen besonders in Deutschland immer noch eine entscheidende Rolle beim Erwerb von Bildungszugängen. Diese Merkmale sind die erworbene Bildung der Eltern oder der Familie und damit verbunden der ausgeübte Beruf der Eltern, die finanzielle Lage sowie das Prestige der Familie in der Gesellschaft:

[...]


[1] Max Weber, 1922: S. 247 f.

[2] Privilegiert im Sinne von gehobenem sozialem Hintergrund.

[3] Vgl. Suderland, 2004: S.19 f.

[4] In Punkt 8.2.1 dieser Arbeit werden die Begriffe Habitus und Praxis näher erläutert.

[5] Vgl. Polanyi, 1985 oder Gerholm, 1990: S. 263 f. Mit dem Begriff »tacit knowledge« soll implizites Wissen über fundamentale kulturelle Regeln gemeint sein, das zur Beherrschung von Routinen dient und kaum bewusste, „halbautomatische“ Interpretationen ermöglicht.

[6] Dazu Edward W. Said, 2001: S. 41 f. „Alle kulturellen Identitäten sind nicht einfach gegeben. Sie sind ein kollektives Konstrukt auf der Basis von Erfahrung, Gedächtnis, Tradition (die ihrerseits ebenfalls konstruiert und erfunden sein kann) und einer ungeheuren Vielfalt von kulturellen, politischen und sozialen Praktiken und Formen. [...] Keine Beschreibung der europäischen kulturellen Identität und der Künste kann meiner Meinung nach die Beziehung zwischen Macht und Herrschaft einfach übersehen. Mehr noch, so wie Kultur und Herrschaft in einer Weise verbunden sind, [...] so entsteht auch die Kunst selbst aus einem sozialen Kontext heraus, der zutiefst durch Macht, Eigentum, Klasse und die Beziehung zwischen den Geschlechtern bestimmt wird.“

[7] Vgl. Das aktuelle Wissen, Lexikon, 2004: S. 171.

[8] Vgl. Becker, 2009: S. 9 ff.

[9] Vgl. www.wikipedia.org/wiki/Bildungssoziologie.

[10] Vgl. Becker, 2009: S. 85 ff.

[11] Vgl. www.politik-info.de/themen-/-hintergründe/gesellschaft/definitionsoziale-ungleichheit.

[12] Vgl. www.wikipedia.org/wiki/Reproduktion.

[13] Vgl. www.wikipedia.org/wiki/Soziale_Reproduktion.

[14] Vgl. Bourdieu und Passeron, 1971: S. 19 ff.

[15] Vgl. Der Brockhaus, 2002.

[16] Vgl. www.wikipedia.org/wiki/Chancengleichheit.

[17] Vgl. ebd.

[18] Vgl. www.wikipedia.org/wiki/Migranten.

[19] Vgl. www.bpb.de/wissen.

[20] Vgl. ebd.

[21] Vgl. Deutsches Grundgesetzbuch, Artikel 3, Absatz 3.

[22] Vgl. Friedeburg, 1992: S. 190.

[23] Vgl. Diefenbach und Klein, 2002. In Zeitschrift für Pädagogik 48: S. 938 ff.

[24] Vgl. Friedeburg, 1989: S. 189.

[25] Vgl. Meulemann, 1992: S. 123 ff.

[26] Vgl. Mayer und Blossfeld, 1990: S. 297 ff.

[27] Vgl. Dahrendorf, 1965: S. 71 ff.

[28] Vgl. Baumert, 1991: S. 333.

[29] Vgl. Roth, 1975: S. 9.

[30] Vgl. Müller u.a. 1997: S. 178 ff.

[31] Vgl. Picht, 1964: S. 17.

[32] Vgl. Borowsky, 1998: S. 258 f.

[33] Vgl. Bourdieu und Passeron, 1971.

[34] Vgl. Becker, 2009: S.195 ff.

[35] Vgl. ebd.

[36] Vgl. Meulemann, 1983: S. 115 ff.

[37] Vgl. Becker 2009: S. 195 ff.

[38] Vgl. Solga und Wagner, 2001. In Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 4: S. 107 ff.

[39] Vgl. Rodax, 1995. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie: S. 3 ff.

[40] Vgl. Becker, 2009: S.195 ff.

[41] Vgl. ebd: S. 195 ff.

[42] Alois Hundhammer, Kultusminister in Bayern, 1947.

[43] Vgl. Deutsches PISA- Konsortium, 2001: S. 379 ff.

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
Bildungsungleichheiten in Deutschland
Untertitel
Welche Rolle spielen soziale Schichten und Migrationshintergrund?
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Gesellschaftswissenschaften)
Veranstaltung
Sozialwissenschaften
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
93
Katalognummer
V153407
ISBN (eBook)
9783640657346
ISBN (Buch)
9783640658275
Dateigröße
1468 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bildungsexpansion, PISA, Bildung und soziale Ungleichheit nach Bourdieu und Boudon, Bildungschancen und Bildungsmisserfolge von Schülern mit Migrationshintergrund, Entstehung und Reproduktion von dauerhaften Bildungsungleichheiten
Arbeit zitieren
Vanessa Theobald (Autor:in), 2010, Bildungsungleichheiten in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/153407

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Titel: Bildungsungleichheiten in Deutschland



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