Gewalt in der Schule: Symptome, Bedingungen, Möglichkeiten der Prävention


Examensarbeit, 2003

98 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsklärungen
2.1. Was ist Gewalt?
2.2. Was ist Aggression?
2.2.1. Arten von Aggression
2.2.2. Was ist Aggressivität?
2.3. Zum Verhältnis der Begriffe ‚Gewalt’ und ‚Aggression’

3. Symptome und empirische Befunde über das Ausmaß von Aggression in der Schule anhand einer Hamburger Studie

4. Theorien zur Erklärung von Aggression und Gewalt
4.1. Psychologische Theorien
4.1.1. Instinkt- und Triebtheorien
4.1.1.1. Psychoanalytische Triebtheorie
4.1.1.2. Ethologische Triebtheorie
4.1.2. Frustrations – Aggressions - Hypothese
4.1.3. Lernpsychologische Theorien
4.1.3.1. Klassisches Konditionieren
4.1.3.2. Operantes Konditionieren
4.1.3.3. Lernen am Modell
4.1.4. Entwicklungspsychologische Theorie
4.1.4.1. Entwicklungspsychologisch bedingte Aggression
4.1.5. Identitätstheorien
4.1.5.1. AMMONs Identitätstheorie zur Entstehung von Aggression
4.1.5.2. Aggression als Folge verweigerter schulischer Anerkennung
4.1.6. Motivationstheorie
4.1.6.1. Aggression als ‚Zwangsgewalt’
4.2. Soziologische Theorien
4.2.1. Anomietheorie
4.2.2. Subkulturtheorie
4.2.3. Theorie des Labeling Approach
4.2.4. Aggression als Folge von Modernisierung und Individualisierung
4.2.5. Aggression als Folge der anomischen Struktur von Schule

5. Schlussfolgerungen aus den Theorien zur Erklärung von Aggression und Gewalt

6. Begriffsklärungen
6.1. Was ist Aggressionsintervention?
6.2. Was ist Aggressionsprävention?

7. Zum Umgang mit schulischer Aggression: Ansätze und Modelle zur Prävention
7.1. Maßnahmen für Schüler und/oder Lehrer
7.1.1. Peer Mediation in der Schule nach WALKER
7.1.2. Programm ‚Soziales Lernen in der Schule’ nach Lerchenmüller
7.2. Schulumfassende Maßnahmen
7.2.1. Interventionsprogramm nach OLWEUS
7.2.2. Konzept ‚Lebenswelt Schule’
7.2.3. Konzept ‚Gestaltung – Öffnung – Reflexion’
7.2.4. Community Education
7.2.5. Schulinterne Lehrerfortbildung zur Aggressionsprävention (SchiLF)

8. Resümee

9. Ausblick/Perspektiven

10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Phänomen der Gewalt[1] und der Aggression[2] in der Schule ist in den letzten Jahren immer stärker ins Blickfeld des gesellschaftlichen, politischen und medialen Interesses geraten.

Als bisheriger trauriger ‚Höhepunkt’ in Deutschland ist sicherlich der Amoklauf des Schülers Robert Steinhäuser am Erfurter Gutenberg – Gymnasium im April dieses Jahres zu nennen. Robert war der Schule verwiesen worden, da er Krankmeldungen gefälscht hatte, um anstehende Prüfungen zu vermeiden. Als dieser Betrug auffiel, musste er die Schule, nach damaligem thüringischen Recht, ohne Abschluss verlassen. Seinen Eltern täuschte er über ein halbes Jahr vor, weiterhin die Schule zu besuchen. An dem Tag, an dem er eigentlich seine Abiturprüfung hätte schreiben sollen, drang Robert, bewaffnet mit einer Pumpgun und einer Pistole, die er aufgrund seiner Mitgliedschaft in einem Schützenverein besaß, in seine ehemalige Schule ein und tötete 14 Lehrer, 2 Schüler und einen Polizisten, bevor er sich selbst das Leben nahm.

Vorbilder für diesen schulischen Amoklauf gab es diverse:

- 1998 lösen ein 11- und ein 13jähriger Schüler an einer Schule in Jonesboro/USA falschen Feueralarm aus und richten unter Schülern und Lehrern ein Blutbad an.
- 1999 töten zwei jugendliche Schüler in Littleton/USA mit Schusswaffen und Sprengwaffen 12 Mitschüler und einen Lehrer, bevor sie sich selbst richten. 28 Personen überleben den Amoklauf verletzt.
- In Meißen/Deutschland ersticht 1999 ein 15-jähriger Gymnasiast seine Lehrerin. Als Tatmotiv gibt er Hass auf seine Lehrerin an.
- Im selben Jahr nimmt die bayrische Polizei in Metten drei Jugendliche fest, die Mordpläne gegen ihre Schulleiterin und eine Lehrerin geschmiedet hatten.
- 2000 schießt ein Schüler, der am Vortag von seinem Internat im bayrischen Brannenburg verwiesen wurde, dem Schulleiter in den Hals und fügt sich selbst Verletzungen zu. Der Pädagoge erliegt seinen Verletzungen, der Täter fällt ins Koma.
- 2002 tötet ein 22 –jähriger Berufsschüler an einer Berufsschule in Freising den Schulleiter und verletzt einen Lehrer schwer, bevor er sich selbst das Leben nimmt. Zuvor hatte er in seinem Ausbildungsbetrieb bereits zwei ehemalige Kollegen erschossen.[3]

Dieses sind sicherlich sehr extreme Formen der Aggression in Schulen, daneben existieren aber auch alltägliche Symptome von Gewalt und Aggression im schulischen Alltag wie:

Ängstigen, Bedrohen, Anrempeln, Demütigen, Provozieren, Kleidung beschädigen, Unterricht sabotieren, Pöbeln, verbale und handgreifliche Belästigungen, Quälen, Erpressen, Schlagen, Berauben, Verletzen, Auflauern, Vandalismus, Rufmord etc..[4] Dabei zeigen sich diese Symptome nicht nur zwischen Schülern und Schülern, sondern ebenso zwischen Lehrern und Schülern.

Wenn Schule sich diesen Problemen stellen will, weil Probleme aus dem außerschulischen Bereich in die Schule hineingetragen, die Konflikte im Schulalltag zur Belastung werden oder aber die institutionellen Gegebenheiten von Schule Verursacher von Aggression und Gewalt sind, dann sollte Schule Theorien zur Erklärung von Aggression bzw. Gewalt und Modelle und Maßnahmen zur Prävention bzw. Intervention kennen.

In der vorliegenden Literaturarbeit werde ich mich daher mit den Möglichkeiten einer Reduzierung von schulischen Aggressions- und Gewaltphänomenen beschäftigen.

Hierzu wird folgendermaßen vorgegangen:

Zunächst findet eine Begriffsklärung der Termini ‚Gewalt’‚ ‚Aggression’ und ‚Aggressivität’ statt. Zudem werde ich eine Übersicht über die verschiedenen Arten von Aggression liefern und zeigen, wo es zu Überschneidungen der Begriffe ‚Gewalt’ und ‚Aggression’ kommt.

Symptome und Ausmaß der Gewalt und Aggression an Schulen werden exemplarisch anhand einer empirischen Studie der ehemaligen Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung an Hamburger Schulen verdeutlicht.

Im Anschluss werde ich versuchen einen Überblick über die vorhandenen Theorien zur Erklärung von Aggression und Gewalt zu liefern. Ich werde mich dabei auf ausgewählte psychologische und soziologische Theorien beschränken. Für die jeweiligen Theorien wird eine Bewertung vorgenommen und Folgerungen bzw. Forderungen für den Bereich der Schule, die sich aus den meisten Theorien ergeben, dargelegt.

Zum Abschluss dieses Abschnittes werde ich Schlussfolgerungen aus den Theorien zur Erklärung von Aggression und Gewalt ziehen und Ziele für die schulische Aggressionsprävention und –intervention nennen.

Hiernach folgt eine Definition der Begriffe Aggressionsprävention und –intervention.

Im nachfolgenden werde ich dann schulische Präventions- und Interventionsmaßnahmen vorstellen, die ich nach Maßnahmen für Schüler und/oder Lehrer und nach schulumfassenden Maßnahmen geordnet habe.

Am Ende der Arbeit steht ein Resümee und ein Ausblick.

Wenn ich in dieser Arbeit von Schülern/Lehrern/etc. spreche, dann sind selbstverständlich auch Schülerinnen/Lehrerinnen/etc. gemeint.

2. Begriffsklärungen

Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch hat sich durchgesetzt, die Begriffe Gewalt und Aggression zu unterscheiden, so dass ich in vorliegender Arbeit auch so verfahren möchte.

2.1. Was ist Gewalt?

Für den Begriff der Gewalt existieren im deutschen Sprachraum viele verschiedene Bedeutungen. Im Alltagsverständnis erfährt der Gewaltbegriff eher eine negativ bewertete Nuancierung und es wird keine Abgrenzung zum Begriff der Aggression vorgenommen. Vor allem unter dem Einfluss der Medien wird Gewalt zunehmend als ein Verhalten verstanden, dass besonders brutal ist (z.B. Mord) oder von besonders abgelehnten Menschen (z.B. Geiselnehmern ) ausgeübt wird.

Wenn von Gewalt gesprochen wird, dann werden häufig schwere, körperliche Formen der Aggression als Gewalt bezeichnet.

Es finden sich aber auch positive Konnotationen im Zusammenhang mit dem Begriff der Gewalt. So geht der Begriff der Gewalt auf das Wort ‚walten’ zurück, was auf die Tätigkeit einer Macht hinweist, der man eine gestaltende und ordnende Funktion zuschrieb. Reste dieses Sprachgebrauchs lassen sich finden in Begriffen wie ‚Verwaltung’, ‚Anwalt’, ‚Gewaltenteilung’ oder auch dem ‚Walten der Natur’.

Der wissenschaftliche Sprachgebrauch indessen unterscheidet sich stark von dem alltagssprachlichen Gebrauch:

Die unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission) hat 1990 in ihrem Gutachten folgenden Gewaltbegriff zugrunde gelegt, der Gewalt als „zielgerichtete, direkte psychische Schädigung von Menschen durch Menschen erfasst.[5] Zudem wird ergänzend auch „der körperliche Angriff auf Sachen[6] in den Gewaltbegriff einbezogen. Die Gewaltkommission geht bei ihrem Begriff von Gewalt also vornehmlich von Gewalt im Sinne von physischen Handlungen gegen einen anderen Menschen oder einen Gegenstand aus.

In der Regel wird in der gegenwärtigen Wissenschaftssprache unter dem Begriff der Gewalt strukturelle Gewalt verstanden. Die Definition der Gewaltkommission würde dann eher unter dem Begriff der Aggression zu subsumieren sein.

GALTUNG[7],als ein Vertreter des gewaltstrukturellen Ansatzes, versteht unter Gewalt einen Gegenbegriff zum Begriff des Friedens. Nach GALTUNG liegt dann Gewalt vor,

„wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“[8]

Gewalt wird nach dieser Definition als die Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, also zwischen dem, was sein könnte und dem, was ist, definiert. Gewalt ist folglich das, was den Abstand zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung des Abstandes erschwert.

Ergo würde im Sinne GALTUNGs Gewalt vorliegen, wenn Schüler durch die institutionellen Gegebenheiten von Schule (z.B. zu große Schulklassen) und damit einhergehender mangelnder individueller Förderung, sich nicht gemäß ihren potentiellen geistigen Fähigkeiten verwirklichen können.

Gewalt ist nach GALTUNG nicht zwingend ein interpersonales Einflussverhältnis wie bei personaler bzw. direkter Gewalt, sondern wird ebenfalls durch nicht – personale Subjekte (so z.B. gesellschaftliche Ordnungsgewalt) mit ihren Mitteln der Einflussnahme ausgeübt. Diese Gewalt ohne einen direkten Akteur bezeichnet GALTUNG als strukturelle oder indirekte Gewalt. Die Gewalt ist demnach

„im System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen.“[9]

Die gesellschaftlichen Ressourcen (so z.B. Einkommen, Arbeit, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnung, Nahrungsmittel, Mitbestimmung etc.) und die Entscheidungsgewalt über die Ressourcen sind nach GALTUNG ungleich verteilt. Die ungleiche Verteilung der Ressourcen wird u.a. aufrechterhalten durch eine lineare Rangordnung (hierarchische Ordnung der Akteure in Oben und Unten), durch Konkordanz der Ränge (steht ein Akteur in einem System auf hoher Ebene, so besteht die Tendenz, dass er auch in einem anderen System, in dem er partizipiert, auf hoher Ebene steht), durch Korrelation zwischen Rang und Stellung (je höher der Rang eines Akteurs im System, desto zentraler ist auch seine Position im Interaktionsnetz) etc. .

Nach GALTUNG sind personale und strukturelle Gewalt aufeinander bezogen, so dass diese beiden Erscheinungen nicht getrennt voneinander betrachtet werden können.

SANER[10] ist der Auffassung, dass die verbreitetste Form der strukturellen Gewalt, die ethologische ist. Der Begriff ‚ethologisch’ meint nach SANER das durchschnittliche, gewohnheitsmäßige Handeln. Ethologisches Handeln ist demnach

„das zur Gewohnheit, im Grenzfall zu Brauch und Sitte fixierte Handeln im Rahmen einer Gesellschaft.“[11]

Von ethologischer Gewalt spricht SANER dann, wenn das gewohnheitsmäßige Handeln zu messbaren Schädigungen führt. Gewohnheit, Sitte und Brauch entlasten unser Handeln von fortwährender Unsicherheit, aber sie können auch schädigen:

Die Subjekte der Handlung werden anonymisiert. Es sind nicht mehr konkrete Menschen, die miteinander in Interaktion treten, sondern Neutra, reduziert auf das unbestimmte Objekt ‚man’. Objekte werden klassifiziert: „Man handelt Ausländern, Frauen, Kindern, Schülern etc. gegenüber so“. Handlungen werden ritualisiert und vom Zweck abstrahiert, so dass dem Geschehen schließlich jegliche Kritik entzogen wird. Folgen der ethologischen Gewalt sind Konformismus, Konventionalismus, gesellschaftliche Regelkontrolle und Legitimierung des Unrechts durch bloße Üblichkeit.

SANER führt, inspiriert durch BOURDIEU/PASSERON[12], als weitere Kategorie der strukturellen Gewalt den Terminus der symbolischen Gewalt an. Symbole sind Zeichen (so z.B. Sprach – Zeichen, Seh – Zeichen, Hör –Zeichen u.a.m.). Alles, was gelesen werden kann und eine Bedeutung hat, kann als Zeichen angesehen werden. Zeichen können zu Systemen verbunden sein (Sprachsysteme, Menschenbilder, Weltanschauungen, Religionen, Ideologien, Theorien u.a.m.). Zeichensysteme und Zeichen können durch ihre Kraft, die sie auf das Denken, Fühlen und Handeln ausüben, eine schädigende, symbolische Gewalt ausüben. Von symbolischer Gewalt im engeren Sinne sollte nach SANER aber erst dann gesprochen werden, wenn „der Betrug, die Diskriminierung, die Verachtung schon im Zeichensystem selber liegen – etwa in der Ideologie -, so dass jeder der dieser Symbolwelt verfällt, unweigerlich betrügt, diskriminiert, die Wahrheit verbirgt, selbst wenn es in subjektiv redlicher Absicht geschieht.“[13]

Demzufolge würde ein Lehrer, der in subjektiv redlicher, nicht persuasiver Absicht seinen Unterricht durchführt, schon in diesem Sinne symbolisch gewaltvoll handeln, wenn seine Weltanschauung bzw. die des jeweiligen weltanschaulich geprägten Schulsystems, die Schüler in kulturell willkürlicher Form infiltrieren würde.

Außerdem weist SANER auf die Existenz von ökonomischer Gewalt im System der organisierten Arbeit hin. Da der Mensch sich durch seine Arbeit, neben seiner biologischen Existenz, die er schon hat, noch hervorbringen muss, hat er ein Recht auf eine befriedigende Arbeit. Deshalb erweist sich das Arbeitssystem – wenn es die Arbeit ökonomisiert anstelle von humanisiert – als gewalttätig. Mittel der ökonomischen Gewalt sind: Trennung von Arbeit und Macht, Trennung von Arbeit und Freizeit und Zerstückelung der Produktion (Arbeitsteilung). Folgen dieser ökonomischen Gewalt werden wie folgt angeführt: Die Arbeit wird nur noch als Notwendigkeit zur Lebenssicherung angesehen, Arbeit wird als fremdbestimmt erlebt, es treten Arbeitskrankheiten und Arbeitsunfälle auf, zudem Unwohl-, Unglücklich- und Beengtsein in der Arbeit u.a.m. .

Des Weiteren nennt SANER den Begriff der bürokratisch - strukturellen Gewalt. Bürokratische Gewalt ist anonyme Gewalt, die den einzelnen nicht auf ein anonymes ‚Man’, sondern auf eine persönliche Nummer reduziert. Es erfolgen anonyme Befehle, als ob keiner mehr herrschen würde und keiner für Herrschaft verantwortlich wäre. Es besteht Unsicherheit darüber, was aus Beschlüssen auf dem Verwaltungswege wird, worunter die ganze politische Gemeinschaft leidet.

Abschließend komme ich zu folgender Aussage: Wenn man von Gewalt spricht, so beschreibt man keine objektiven Tatbestände, sondern es werden Bewertungen vorgenommen, die als Hintergrund unsere eigenen Normen und Werte haben. Ob obige ‚Gewaltphänomene’ folglich als gewaltsam erlebt wird, hängt immer von dem Bezugssystem und der Interpretation der Beteiligten ab.

In vorliegender Arbeit werde ich den Terminus ‚Gewalt’ im Sinne des Begriffsverständnisses nach GALTUNG und SANER gebrauchen.

2.2. Was ist Aggression?

Der Begriff der Aggression ist in der Alltagssprache weit weniger geläufig als der Begriff der Gewalt.

‚Aggression’ leitet sich vom lateinischen ‚ad-gredi’ ab und bedeutet im ursprünglichen Sinne ‚herangehen’ oder auch ‚Zuwendung’. Ursprünglich beschreibt der Begriff der Aggression also ein prosoziales Verhalten. So nennt AMMON[14] die Umweltbezogenheit des Menschen ‚konstruktive Aggression’. Im weiteren wissenschaftlichen Sprachgebrauch hat sich durchgesetzt unter dem Begriff der Aggression destruktive bzw. schädigende Handlungen und Verhaltensweisen zu verstehen, die von Einzelpersonen ausgehen.

Es existieren dabei eine Vielzahl von Begriffsdefinitionen nebeneinander, die aber in ihrer Gesamtheit folgende Merkmale von Aggression enthalten:

1) Beabsichtigte Schädigung ( Handlung und Unterlassung )
2) Handlung mit Schädigungsfolge ( ohne Absicht )
3) Unterlassung mit Schädigungsfolge
4) Negieren/Ignorieren von Verantwortung und
5) Normabweichung[15]

Aufgrund der Definitionsfülle an dieser Stelle nur einige ausgewählte Beispiele:

DOLLARD et al definieren Aggression als

„eine Handlung, deren Zielreaktion die Verletzung eines Organismus (oder Organismus – Ersatzes) ist.“[16]

Diese Definition ist deutlich an behaviouristischen Kritierien orientiert: Aggression wird nicht nur als ein spezifisches Verhalten beschrieben, sondern durch den Begriff der ‚Zielreaktion’ soll vielmehr auch deutlich werden, dass eine aggressive Handlung immer eine Intention hat.

BANDURA[17] charakterisiert

„Aggression als schädigendes und destruktives Verhalten (...), das im sozialen Bereich auf der Grundlage einer Reihe von Faktoren als aggressiv definiert wird, von denen einige eher beim Beurteiler als beim Handelnden liegen.“[18]

BANDURAs Definition von Aggression ist weiter gefasst: Ob die Bezeichnung Aggression für ein Handeln verwendet wird, hängt nach dieser Definition wesentlich von der normativen Angemessenheit, also vom jeweiligen Bezugssystem der Beurteilenden ab.

Nach SELG[19] besteht

„eine Aggression (...) in einem gegen einen Organismus oder ein Organismussurrogat gerichteten Austeilen schädigender Reize.“[20]

Eine Aggression kann dabei offen (körperlich, verbal) oder verdeckt (phantasiert), sie kann positiv (von der Kultur gebilligt) oder negativ (von der Kultur missbilligt) sein.

VERRES/SOBEZ[21] vertreten folgenden Definitionsansatz:

„Aggressionen sind jene Verhaltensweisen, die 1. gegen einen Gegenstand oder einen anderen Menschen gerichtet sind, und die 2. für den, der sich gerade aggressiv verhält, eine subjektive Wahrscheinlichkeit aufweisen, diesen Gegenstand oder Menschen auch zu erreichen und damit entweder jene aus seinem Weg zu räumen oder ihnen unangenehme oder schädliche Reize zuzufügen.“[22]

Auch in dieser Definition wird wieder die beabsichtigte Schädigung eines Menschen oder eines Gegenstandes als Definition für Aggression gebraucht.

JÜTTEMANN macht folgenden, weitgefassten Definitionsvorschlag:

„Der Begriff << menschliche Aggression >> oder << Aggression >> bezeichnet eine Denkweise und darüber hinaus jede Handlungsweise, welche auf einer Denkweise beruht, die unter dem Gesichtspunkt allgemeiner oder besonderer menschlicher Verantwortung als erwartungswidrig beurteilt wird; für eine derartige Denkweise ist ein bewußtes Negieren oder Ignorieren menschlicher Verantwortung charakteristisch.“[23]

JÜTTEMANN erfasst mit dieser Definition alle schutz- und förderungsbedürftigen Lebensinteressen, für die ein Mensch für einen Menschen verantwortlich sein kann. Die Begriffsbestimmung umfasst dabei u.a. die Bereiche Leib und Leben, Freiheit und Entfaltung und Würde und Zuwendung.

Diese sehr weitgefasste Definition ist nach Ansicht SCHOTTMAYERs[24] eine gute Grundlage für pädagogische Denk- und Handlungsansätze. JÜTTEMANNs Definition umfasst alle vorher erwähnten Merkmale von Aggression und lässt keine Tatbestände außer Betracht. Mit ihr gelangt man zu positiven pädagogischen Zielvorstellungen wie z.B. der Förderung der sozialen Kompetenz.

Es lässt sich zusammenfassend folgern, dass es nahezu unmöglich ist, eine Aggressionsdefinition zu finden, die alle offenen und verdeckten Formen menschlicher Aggression zu umfassen vermag, deshalb möchte ich mich in der vorliegenden Arbeit JÜTTEMANNs Definition von Aggression anschließen, da diese aufgrund ihrer Weite, am brauchbarsten erscheint.

2.2.1. Arten von Aggression

Aggression erscheint in ungemein vielfältigen körperlichen und sprachlichen Erscheinungsformen.

Eine systematische Übersicht über die Aggressionsarten werde ich im folgenden darlegen. Dabei werde ich der Systematik nach NOLTING[25] folgen, da mir diese äußerst umfassend erscheint.

NOLTING unterscheidet vier Aggressionsarten nach ihren Motiven (Vergeltung, Abwehr, Erlangung und Spontaneität) und zwei Aggressionsarten nach ihren Handlungskontexten (Individualität und Kollektivität).

Der Übersichtlichkeit zuliebe bediene ich mich eines von NOLTING erstellten Schemas.

Übersicht: Arten der Aggression – unterschieden nach Art der Motivation[26]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vernachlässigt habe ich den Terminus der Ärger - Aggression in Form einer ungerichteten Unmutsäußerung, da diese keine Aggression im engeren Sinne ist, sondern vielmehr einen impulsiven, aber wenig gerichteten Affektausdruck (z.B. Unmut, Missbehagen, leichter Ärger) darstellt.

Des Weiteren unterscheidet NOLTING individuelle und kollektive Aggression. Mit individueller Aggression wird das aggressive Verhalten eines Menschen bezeichnet. Von kollektiver Aggression wird dann gesprochen, wenn mehrere Menschen miteinander gegen einen anderen oder mehrere andere Menschen aggressiv sind, so z.B. wenn mehrere Schüler einen anderen Schüler verprügeln. Kollektive Aggression kann einen organisierten Charakter haben (Krieg, politische Gewalt etc.).

NOLTING bietet ebenfalls ein geeignetes Schema über typische Unterschiede zwischen individueller und kollektiver (u.a. organisierter) Aggression an, das ich an dieser Stelle übernehmen möchte.

Übersicht: Typische Unterschiede zwischen individueller und kollektiver, organisierter Aggression[27]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Besonders interessant für Pädagogen ist der noch hinzuzufügende Bereich der Selbst- bzw. Autoaggressionen, bei denen Menschen sich selber Schädigungen psychischer oder physischer Art zufügen. Ausprägungen dieser Selbst- bzw. Autoaggressionen können Essstörungen, Selbstverletzungen, Drogensucht, Alkoholsucht, Nikotinsucht etc. bis hin zum Suizid sein.[28]

2.2.2. Was ist Aggressivität?

Neben dem Begriff der Aggression findet auch der Begriff der Aggressivität Anwendung. Aggressivität meint psychologische Konstrukte wie innere Zuständlichkeiten, Bereitschaften und Potenzen, die das Aggressionsverhalten begleiten oder ihm zugrunde liegen, wie z.B. Bedürfnisse, Gefühle, Motive oder Einstellungen. Alltägliche Begriffe hierfür sind: Ärger, Wut, Zorn, Streitsucht, Unmut, Groll, Erbostheit, Hass, Falschheit, Neid, Schadenfreude, Feindseligkeit, Zerstörungslust, Vergeltungsdrang etc..[29]

2.3. Zum Verhältnis der Begriffe ‚Gewalt’ und ‚Aggression’

Wie bereits angedeutet gibt es zwischen den Begriffen der Gewalt und der Aggression Überschneidungen, die folgendes Schema[30] verdeutlichen soll:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In vielen Fällen lässt sich Aggression nicht von struktureller Gewalt trennen. Strukturelle Gewalt tritt vielfach in Einzelhandlungen, also als personale Gewalt auf, welche Ausdruck struktureller Gewalt ist (z.B. Lehrer überwacht aufgrund des Vorhandenseins einer staatlichen Schulpflicht das Erscheinen seiner Schüler zum Unterricht) bzw. strukturelle Gewalt durchsetzen soll (z.B. Lehrer ergreift beim Fernbleiben eines Schülers vom Unterricht die ihm von gesetzlicher Seite zur Verfügung stehenden Maßnahmen, um den Schüler zum Unterrichtsbesuch anzuhalten).

3. Symptome und empirische Befunde über das Ausmaß von Aggression in der Schule anhand einer Hamburger Studie

Die ehemalige Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung in Hamburg hat 1997 eine Studie mit dem Titel „Gewalterfahrung und Kriminalitätsfurcht von Jugendlichen“[31] zum Dunkelfeld von Jugenddelinquenz in Kooperation mit dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführt, auf die ich mich im folgenden beziehen werde.

Ziel dieser Studie war es, einen Anstieg der Tatverdächtigenzahlen von Jugendlichen, der aus der Polizeilichen Kriminalstatistik herauszulesen war, durch Befragungen der Jugendlichen zu überprüfen und die möglichen Ursachen und Auslöser für Aggressionserfahrungen festzustellen. Zu diesem Zweck wurden 3558 Hamburger Schüler und Schülerinnen der 9. Jahrgangsklassen zu ihren diesbezüglichen Erfahrungen befragt.

Die wichtigsten Untersuchungsergebnisse, die die Schule betreffen, werde ich im folgenden darlegen:

Der Ort Schule wird von den meisten Jugendlichen ihrem subjektivem Empfinden nach als relativ sicherer Ort erlebt. Schwerere Delikte wie Körperverletzung, Raub, Erpressung, sexuelle Aggression finden eher im Stadtteil oder bei Fahrten zur Diskothek bzw. anderen Veranstaltungsorten statt.[32]

Jedoch weist Hamburg folgende Opferraten für Schulaggression auf dem Schulgelände auf:

19,6 % aller befragten Schüler sind schon einmal geschlagen worden, 9,0% sind bedroht bzw. eingesperrt worden, 10,1% wurden massiv gehänselt, 5,2% wurden schon einmal mit einer Waffe bedroht und 15,5% erlebten die Zerstörung von Eigentum.[33]

Hinsichtlich der Opferraten gab es Unterschiede zwischen den Schulformen.

An Hamburger Hauptschulen wurden 13,8% der dort befragten Schüler mindestens einmal in der Woche Opfer von Schulaggression, an Realschulen 10,3% und an Gymnasien schließlich 9,7%.[34] Die Rate der Jugendlichen, die wöchentlich Täter von Schulaggression waren, betrug an Hamburger Hauptschulen 23,3%, an Realschulen 16,5% und an Gymnasien 13,5%.[35] Aus den vorliegenden Werten lässt sich erkennen, dass sich die Schulaggression zwischen den verschiedenen Bildungsstufen signifikant unterscheidet: Je niedriger die Bildungsstufe, desto höher das Aggressionsniveau.

Zudem wurde ein deutlicher Effekt bezüglich der Aufmerksamkeit von Lehrkräften gegenüber aggressivem Handeln festgestellt: An Schulen, wo Jugendliche einschätzen, dass Lehrkräfte aggressives Handeln eher ignorieren bzw. wo sie wissen, dass Lehrkräfte explizit fortschauen, „ist sowohl die Wahrscheinlichkeit der Viktimisierung als auch die Wahrscheinlichkeit des Tathandelns Jugendlicher im schulischen Kontext erhöh t.“[36]

Meines Erachtens begründet diese empirische Studie die Notwendigkeit für Pädagogen (zumindest für Hamburger Pädagogen) sich mit der Entstehung von Aggression bzw. Gewalt und mit der Etablierung von Maßnahmen und Konzepten an Schulen, die der Prävention bzw. Intervention von Aggression und Gewalt dienen, zu befassen.

4. Theorien zur Erklärung von Aggression und Gewalt

Die im folgenden dargestellten Theorien gehen den Bedingungen menschlicher Aggression/Aggressivität nach und versuchen Annahmen und Erklärungen für das Entstehen von Aggression/Aggressivität zu bieten. Diese erklärenden Theorien sind für pädagogisches Handeln von grundlegender Bedeutung, da sie Kenntnisse darüber vermitteln, welche lebensgeschichtlichen Einflüsse und Erfahrungen bzw. Objekte das Auftreten, die Art und Häufigkeit von menschlicher Aggression beeinflussen.

Die dargestellten theoretischen Ansätze haben einen unterschiedlichen Erklärungswert und verschiedene Reichweiten. So gibt es Theorien, die sich z.B. damit beschäftigen, ob dem Menschen ein angeborener Aggressionstrieb innewohnt, ob aggressives Verhalten die Folge von Frustrationen ist oder aber das Ergebnis von aggressionsfördernden und –verstärkenden Lernprozessen. Einige Theorien beschäftigen sich mit der Identitätsbildung des Menschen und einer daraus folgenden Aggressionsneigung. Andere sehen das Auftreten von Aggression als entwicklungspsychologisch begründet an oder fragen nach Motiven für aggressives Handeln. Zudem gibt es soziologische Theorien, die Aggression und Gewalt als Folge von gesellschaftlicher Sozialisation und gesellschaftlichen Zuständen sehen.

Pädagogisch bedeutsam ist das mit den Theorien verbundene Menschenbild. Während einige Theorien (wie z.B. die Triebtheorien, die Frustrations-Aggressions-Hypothese etc.) die Entstehung von Aggression/Aggressivität als deterministisches Geschehen, dass heißt den Menschen als ‚Produkt’ seiner Anlage bzw. seiner Umwelt sehen, liegt anderen Theorien (wie z.B. der sozial-kognitiven Lerntheorie, den Identitätstheorien etc.) ein indeterministisches Menschenbild zugrunde. Bei letzteren Theorien ist die Entwicklung und das Auftreten von Aggression immer verbunden mit kognitiven Verarbeitungsprozessen, Willensentscheidungen und Eigenverantwortlichkeit.

4.1. Psychologische Theorien

4.1.1. Instinkt- und Triebtheorien

4.1.1.1. Psychoanalytische Triebtheorie

Als wichtigster Vertreter dieser Aggressionstheorie kann FREUD genannt werden. In seinem Aufsatz „Das Unbehagen in der Kultur“[37] spricht FREUD von der

„angeborenen Neigung des Menschen zum Bösen, zur Aggression, Destruktion und damit zur Grausamkeit.“[38]

Für FREUD war die Aggressivität lange Zeit nur eine Komponente der Sexualität bzw. der Ich – Triebe. Unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges ordnete er der Aggression einen eigenen Trieb zu, den Destruktionstrieb. Dieser Trieb steht in FREUDs Lehre dem Eros bzw. der Libido gegenüber, so dass eine dualistische Trieblehre entstand. FREUD geht davon aus, dass das letzte Ziel des Destruktionstriebes darin besteht, das „Lebende in den anorganischen Zustand zu überführen.“[39] Er nennt den Destruktionstrieb daher auch Todestrieb. Der Aggressions– oder Destruktionstrieb des Menschen kann folglich als abgelenkter Todestrieb verstanden werden.

Der Todestrieb bleibt solange ‚stumm’, bis er durch den Sexualtrieb in Form des Destruktionstriebes nach außen gewendet wird. Dass dies geschieht, ist eine Notwendigkeit für die Erhaltung des Individuums, welches sich sonst selbst vernichten würde.

Angestaute Aggressionstriebe im Innern des Individuums drängen regelmäßig nach außen. „Zurückhaltung von Aggression ist (...) ungesund, wirkt krankmachend.“[40]

Das Individuum hat nach FREUD nur eine Wahl: nämlich entweder sich selbst oder andere zu zerstören.

Infolge der Aggressionsneigung der Individuen „ ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht.“[41]

Die Kultur muss FREUD zufolge - trotz der psychischen Gefahren - alles aufbieten, um den Aggressionstrieben des Menschen Einhalt zu gebieten. Kulturelle Normen, aber auch Gefühlsbindungen unter den Menschen werden als Lösungsansätze zur Verhinderung eines Krieges gesehen.

Bewertung:

Zur Bewertung der Theorie ist zu sagen, dass FREUDs Annahme eines Todestriebes seit jeher ein strittiger Punkt gewesen ist. Weiterhin ist seine Theorie nicht empirisch überprüfbar und hat nur eine geringe praktische Verwertbarkeit aufzuweisen. Sie ist biologisch unverständlich und bleibt letztendlich nur Spekulation. Zudem stellt sie eine Legitimation für das Ausleben von Aggression dar, was die Gefährlichkeit der FREUDschen Theorie begründet.

4.1.1.2. Ethologische Triebtheorie

Wichtigster Vertreter dieser Aggressionstheorie ist K. LORENZ. Der als Tierforscher bekannte LORENZ entwickelte in seinem Werk ‚Das sogenannte Böse’[42] eine Trieblehre, die nach ihrer Veröffentlichung 1963 stark rezipiert wurde. Nach der Lehre von LORENZ gibt es vier große Triebe, darunter u.a. den Aggressionstrieb. Die Theorie besagt, dass aggressives Verhalten instinktgesteuert, also naturgegeben und wenig beeinflussbar ist. Als Belege werden Beobachtungen an verschiedenen Tieren angeführt.

Aggressionsenergie bildet sich nach dieser Lehre ständig neu. Die Abfuhr der Aggressionsenergie hängt im allgemeinen von auslösenden Reizen ab. Bleiben diese aus, so kommt es zu Leerlaufhandlungen, dass heißt die Aggressionen laufen ohne erkennbaren äußeren Reiz ab. Nach diesem ‚Dampfkesselmodell’ ereignen sich aggressive Handlungen also nicht aufgrund von äußeren Faktoren, sondern die Reize öffnen lediglich ein ‚Ventil’, so dass der ‚Druck’ entweichen kann. Fehlende Reize werden durch das sogenannte Appetenzverhalten kompensiert, es wird nach den auslösenden Reizen gesucht.

LORENZ beschränkt seine Lehre nicht nur auf Tiere, sondern er generalisiert sie auch auf den Menschen. Beim Menschen ist der Aggressionstrieb besonders verhängnisvoll ausgebildet.

„Die Hemmungsmechanismen, die jede Art neben ihrem Aggressionstrieb zur Vermeidung einer grenzenlosen gegenseitigen Ausrottung mitbekommen hat

(z.B. Demutsgebärden bei Tieren, Schreien des Opfers beim Menschen) (ist) durch die Entwicklung von Fernwaffen, deren Wirkung man nicht mit ansehen muß, außer Kraft gesetzt.“[43]

LORENZ schlägt zur Regulierung des Aggressionstriebes vor, dessen Energie auf Ersatzhandlungen umzuleiten. Er favorisiert zu diesem Zwecke den sportlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Wettstreit. Ebenso kann eine Ritualisierung

„schädliche Wirkungen der Aggression dadurch verhindern, daß sie ein gegenseitiges Sich – Verstehen der Artgenossen bewirkt.“[44]

Kann sich der Aggressionstrieb nicht entladen, so kommt es nach LORENZ, zu seelischen Störungen.

Bewertung:

LORENZ belegt seine Ausführungen weitestgehend mit Beobachtungen aus dem Tierreich. Die Spontaneität der Aggression wird zum Beispiel u.a. an dem Verhalten von Schmetterlingsfischen, Drückerfischen und Staren festgemacht, dabei lassen sich Erkenntnisse aus dem Tierreich nicht unmittelbar auf den Menschen übertragen. Wahrscheinlich lassen sich LORENZ’ Erkenntnisse noch nicht einmal von einer Tierart auf eine andere übertragen.

Für die Existenz eines Aggressionstriebes beim Menschen liefert LORENZ keinen einzigen belegbaren Beweis.

Aggressionen beim Menschen zeigen sich in vielen erdenklichen Weisen, ein Trieb dagegen würde nur auf spezielle Reize ansprechen und immer in vorprogrammierter Weise ablaufen.

„Auch die Annahme, daß mit der Ausführung aggressiver Verhaltensweisen ein Triebstau abgebaut und die weitere Aggressionsbereitschaft gesenkt würde, ist in dieser Form – zumindest für den Menschen - nicht haltbar.“[45]

LORENZ’ Triebtheorie ist - trotz seiner nicht zu belegenden Behauptungen - wahrscheinlich heute noch deshalb so populär, weil sie aggressives Verhalten auf eine einfache Weise erklärt. Dieses Verhalten wird von LORENZ aufgrund des zugrunde liegenden Aggressionstriebes indirekt entschuldigt. Eine Beeinflussung oder Verhinderung von Aggressionen ist damit ausgeschlossen.

Hierzu ein Zitat von SELG, MEES und BERG:

„Wer den Menschen hauptsächlich auf Triebe und Instinkte reduziert, gefährdet Kultur und Ethik.“[46]

Hieraus wäre zu schließen, dass, je mehr das Verhalten des Menschen als instinkthaft ablaufend betrachtet wird, desto schwächer wird die ethische Komponente menschlichen Verhaltens.

Demzufolge ist es dann auch nicht verwunderlich, das die LORENZsche Lehre nach dem 2. Weltkrieg all denjenigen, die Kriegsverbrechen begangen hatten, eine Entschuldigung für ihr Verhalten lieferte.

„Wenn alle einen Aggressionstrieb haben und ausleben müssen, braucht man eigentlich keine großen Schuldgefühle zu entwickeln, wenn man als Hauptmann Geiseln erschießen ließ [ ... ] .“[47]

An dieser Stelle demonstriert sich eindrucksvoll die Gefährlichkeit der LORENZschen Theorie. Sie liefert einen ‚Freibrief’ für das Ausleben jeglicher menschlicher Aggressivität.

4.1.2. Frustrations – Aggressions - Hypothese

Auf die Forschergruppe DOLLARD, DOOB, MILLER, MOWRER und SEARS (1939, deutsch 1971) lässt sich eine weitere Aggressionstheorie zurückführen. Diese Theorie machte einen ersten Versuch, vorhergehende Bedingungen für aggressives Verhalten empirisch - experimentell zu überprüfen. Die Ausgangshypothesen dieser Theorie sind stark von der FREUDSchen Lehre beeinflusst.

Die grundlegenden Postulate dieser Theorie besagen in ihrer strengen Form:

1. „Aggression ist immer die Folge von einer Frustration. (...): Das Auftreten aggressiven Verhaltens setzt immer die Existenz einer vorangegangenen Frustration voraus“[48] und
2. „umgekehrt führt die Existenz einer Frustration immer zu irgendeiner Form von Aggression.“[49]

Von dem zweiten der beiden oben angeführten Postulate, distanzierte sich MILLER (1941) schon kurz nach deren Veröffentlichung. Seiner Ansicht nach schafft Frustration lediglich Anreize zu verschiedenen Formen von Verhaltensweisen, eine davon ist ein Anreiz zu irgendeiner Form von Aggression. Auch SEARS stellte im selben Jahr einschränkend fest, dass Aggression zwar eine besonders häufige Reaktion auf Frustration sei, „die Neigung zu aggressiven Reaktionen könne jedoch durch Lernprozesse gemindert oder gehemmt werden.“[50]

Weitere Annahmen dieser Theorie sind folgende:

3. [ Wenn ] der Mensch auf Grund des sozialen Zusammenlebens lernt (...) seine offenen aggressiven Reaktionen unter Kontrolle zu bringen (...) so bedeutet [ dieses ] jedoch nicht, daß solche Reaktionstendenzen dadurch beseitigt werden; vielmehr findet man, daß diese Reaktionen nicht zerstört werden, obgleich sie vorübergehend komprimiert, verzögert, entstellt, verschoben oder sonst irgendwie von ihrem unmittelbaren und logischen Ziel abgelenkt werden.“[51]

4. Als Frustration kennzeichnen DOLLARD et al. „eine Interferenz mit der instigierten Zielreaktion zum Zeitpunkt ihres Auftretens.“[52]

Dies bedeutet, dass Frustration entsteht, wenn ein störendes Ereignis die Verhaltensequenz behindert. Dieses störende Ereignis wird als Frustration bezeichnet.

An späterer Stelle definieren die Autoren Frustration als einen Zustand, „der eintritt, wenn eine Zielreaktion eine Interferenz erleidet.“[53]

DOLLARD et al nehmen keine klare Unterscheidung vor:

Im ersten Fall wird Frustration als ein äußeres störendes Ereignis definiert, im zweiten Fall ist Frustration ein innerer Zustand, der von dem Individuum selbst erlebt wird.

Aggression wird von den Autoren als

„eine Handlung [ definiert ] , deren Zielreaktion die Verletzung eines Organismus

( oder Organismus – Ersatzes ) ist.“[54]

Verletzungen, die durch Zufall entstehen, z.B. durch Unachtsamkeit oder durch einen Unfall, werden laut DOLLARD et al nicht als Aggression bezeichnet.

5. Es wird angenommen, dass „die Stärke der Instigation zur Aggression (...) eine direkte Funktion des Grades der Frustration [ ist ] .“[55]

6. Der Grad der Frustration hängt dabei ab von:

- der Stärke der der frustrierten Reaktion zugrunde liegenden Instigation
- dem Grad der Interferenz mit der frustrierten Reaktion
- der Zahl der frustrierten Reaktionssequenzen
- der Möglichkeit zu befriedigenden Ersatzreaktionen

7. Die Auftretenswahrscheinlichkeit von Aggression steigt mit der Intensität vorangegangener Frustrationen.

8. Bei vorhandener Frustration und damit einhergehender Aggressionstendenz ist es möglich, dass der offenen Aggression Hemmungen entgegenstehen. Die Hemmung des aggressiven Verhaltens hängt vom antizipierten Ausmaß einer möglichen Bestrafung dieser Handlung ab. Ebenfalls kann die Antizipation eines Misserfolges, Hemmungen zur Durchführung einer Handlung auslösen. Eine solche Hemmung wirkt jedoch frustrationssteigernd, so dass eine bestehende Aggressionstendenz noch gesteigert werden kann. Die Aggression richtet sich in so einem Falle gegen das hemmende Individuum bzw. Objekt. Es ist aber auch eine Objekt – Verschiebung möglich, dass heißt, dass ein anderes Individuum bzw. Objekt als das Frustrierende angegriffen wird.

[...]


[1] Der Begriff der Gewalt wird zu einem späteren Zeitpunkt definiert.

[2] Der Begriff der Aggression wird zu einem späteren Zeitpunkt definiert.

[3] vgl. DER SPIEGEL, Ausgabe Nr. 18/2002, S. 88f.

[4] vgl. BALSER, H./SCHREWE, H./SCHAAF, N.(Hrsg.): Schulprogramm Gewaltprävention. Ergebnisse aktueller Modellversuche, Luchterhand, Neuwied Kriftel Berlin 1997, S. 27

[5] SCHWIND, H.-D.(Hrsg.) et al: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt: Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt, Bd.1, Endgutachten und Zwischengutachten der Arbeitsgruppen, Duncker und Humblot, Berlin 1990, S. 36

[6] ebd., S. 36

[7] GALTUNG, J.: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Rowohlt, Reinbek 1975

[8] ebd., S. 9

[9] GALTUNG 1975, S. 12

[10] SANER, H.: Hoffnung und Gewalt. Zur Ferne des Friedens, Lenos Verlag, Basel 1982

[11] ebd., S. 83

[12] BOURDIEU, P./PASSERON, J.-C. : Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Suhrkamp, Frankf. a. Main 1973

[13] SANER 1982, S. 78

[14] AMMON, G.: Handbuch der Dynamischen Psychatrie, Bd. 1, Ernst Reinhard Verlag, München 1979

[15] SCHOTTMAYER, G.: Gewalt in der Ego – Gesellschaft: Standortbestimmung. Gewalt als pädagogische Aufgabe: Böse Zeiten für das Gute?, Seminarskript SS 1996, Universität Hamburg, Arbeitspapier 10/6

[16] DOLLARD,J/ DOOB, L.W./ MILLER, N.E./ MOWRER, O.H./ SEARS, R.R.: Frustration und Aggression, 4.Aufl., Beltz, Weinheim Berlin Basel 1972, S. 19

[17] BANDURA, A.: Aggression. Eine sozial – lerntheoretische Alternative, Klett – Cotta, Stuttgart 1979

[18] ebd., S. 22

[19] SELG, H.; MEES, U.; BERG, D.: Psychologie der Aggressivität, 2. überarb. Aufl., Hogrefe, Göttingen Bern Toronto Seattle 1997

[20] SELG et al 1997, S. 4

[21] VERRES, R./SOBEZ, I.: Ärger, Aggression und soziale Kompetenz : Zur konstruktiven Veränderung destruktiven Verhaltens, Klett – Cotta, Stuttgart 1980

[22] ebd., S. 49

[23] JÜTTEMANN, G.: <<Aggression>> als wissenschaftssprachlicher Begriff: Versuch einer Explikation, In: HILKE, R./KEMPF, W.(Hrsg.): Aggression: Naturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Perspektiven der Aggressionsforschung, Huber, Bern Stuttgart Wien 1982, S. 306

[24] SCHOTTMAYER 1996, Arbeitsblatt 10/5f.

[25] NOLTING, H.-P.: Lernfall Aggression. Wie sie entsteht - wie sie zu vermindern ist. Ein Überblick mit Praxisschwerpunkt Alltag und Erziehung, 20. Aufl., Rowohlt, Reinbek 2001, S. 147 ff.

[26] ebd., S. 151

[27] NOLTING 2001, S. 166

[28] siehe dazu: STRUCK, P.: Zuschlagen, Zerstören, Selbstzerstören. Wege aus der Spirale der Gewalt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, S. 23 ff.

[29] nach SCHOTTMAYER 1996, Arbeitspapier 10/1

[30] vgl. NOLTING 2001, S. 26

[31] WETZELS, P. ENZMANN, D., PFEIFFER, C.: Gewalterfahrung und Kriminalitätsfurcht von Jugendlichen in Hamburg. Dritter und abschließender Bericht über Ergebnisse der weiteren Analysen von Daten einer repräsentativen Befragung von Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe, Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung, Freie und Hansestadt Hamburg 1999

[32] vgl. BÖHM, C./KAEDING, P.: Gewaltprävention in Schulen. Projekte, Aktionen und Maßnahmen, In: SchulVerwaltung. Zeitschrift für Schulleitung, Schulaufsicht und Schulkultur, Nr.11/99, Link, Kronach München Bonn Potsdam 1999, S. 230f.

[33] WETZELS et al 1999, S. 34

[34] WETZELS et al 1999, S. 35

[35] ebd., S. 37

[36] ebd., S. 34

[37] FREUD, S.: Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. 14, 3. Aufl., Fischer, Frankf. a. Main 1963

[38] FREUD 1963, S. 479

[39] FREUD, S.: Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, 20. Aufl., Fischer, Frankf. a. Main Hamburg 1971, S. 12

[40] ebd., S. 13

[41] FREUD 1963, S. 471

[42] LORENZ, K.: Das sogenannte Böse, 4. Aufl., Borotha – Schoeler – Verlag, Wien 1963

[43] NOLTING 2001, S. 60

[44] LORENZ 1963, S. 131

[45] NOLTING 2001, S. 63

[46] SELG et al 1997, S. 21

[47] ebd., S. 22

[48] DOLLARD et al 1972, S. 9

[49] ebd., S.9

[50] VERRES, R./SOBEZ, I.: Ärger, Aggression und soziale Kompetenz : Zur konstruktiven Veränderung destruktiven Verhaltens, Klett – Cotta, Stuttgart 1980, S. 83

[51] DOLLARD et al 1972, S. 10

[52] ebd., S. 15

[53] DOLLARD et al 1972, S. 19

[54] ebd., S. 19

[55] ebd., S. 37

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Gewalt in der Schule: Symptome, Bedingungen, Möglichkeiten der Prävention
Hochschule
Universität Hamburg  (Erziehungswissenschaft)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
98
Katalognummer
V15236
ISBN (eBook)
9783638204101
ISBN (Buch)
9783638699198
Dateigröße
716 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gewalt, Schule, Symptome, Bedingungen, Möglichkeiten, Prävention
Arbeit zitieren
Britta Arndt (Autor:in), 2003, Gewalt in der Schule: Symptome, Bedingungen, Möglichkeiten der Prävention, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15236

Kommentare

  • Gast am 28.1.2005

    Gewalt in der Schule.

    Eine sehr gute Arbeit. Wirklich empfehlenswert!

Blick ins Buch
Titel: Gewalt in der Schule: Symptome, Bedingungen, Möglichkeiten der Prävention



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