Zur natürlichen Selbstorganisation - Vom Sein zum Werden


Magisterarbeit, 2008

93 Seiten, Note: 2,15


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Von Parmenides zu Heraklit: Vom Sein zum Werden
1.1 Vorbedingungen der Philosophie
1.2 Die Dichter
1.2.1 Homer
1.2.2 Hesiod
1.3 Die Denker
1.3.1 Thales von Milet
1.3.2 Anaximander
1.3.3 Anaximenes
1.4 Eine erste Synthese aus den Dichtern und Milesiern
1.5 Neue Richtungen des Denkens
1.5.1 Pythagoras
1.5.2 Xenophanes
1.5.3 Parmenides von Elea
1.5.3.1 Die Thesen des Parmenides
1.5.3.2 Die Meinungen bei Parmenides
1.5.3.3 Selbstorganisation und Parmenides
1.5.4 Heraklit
1.5.4.1 Thesen des Heraklit
1.5.4.2 Heraklits Lösung der Identität
1.5.5 Empedokles
1.6 Die Folgen aus Parmenides und Heraklit
1.6.1 Zenon von Elea
1.6.2 Anaxagoras
1.6.3 Leukipp und Demokrit
1.7 Zusammenfassung der Vorsokratiker

2 Begriffe in der Theorie der Selbstorganisation
2.1 Selbstorganisation
2.2 Mikro- und Makrokosmos
2.3 System
2.4 Offenes System
2.5 Materie
2.6 Komplexität
2.7 Chaos
2.8 Kausalität
2.9 Emergenz
2.10 Zusammenfassung der Begriffe

3 Kritik an der Theorie der Selbstorganisation
3.1 Ilya Prigogine
3.2 Die Kritik Mutschlers

Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

In der folgenden Arbeit wird auf die Theorie der natürlichen Selbstorganisation eingegangen. Um Missverständnissen gleich vorzubeugen, handelt es sich dabei nicht um eine Darstellung dessen, wie man seinen Alltag besser organisiert, so wie es in vielen aktuellen Lebensratgebern derzeit propagiert wird. Die natürliche Selbstorganisation kann Manchen vielleicht auch eine Hilfe im Leben bieten, da ein tieferes Verständnis des Lebens an sich erlangt werden kann, hat jene aber nicht zum Gegenstand. Vielmehr wird dabei auf Phänomene des Lebens und der unbelebten Umwelt (im Speziellen auf Prozesse) eingegangen, die mit den Mitteln der klassischen Physik nicht erklärbar waren. Die klassische Physik geht von einer linearen Kausalität, einem einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, aus. Dieses Weltmodell kann noch bis zur Relativitätstheorie gehalten werden, stößt aber spätestens mit der Quantenmechanik auf Probleme, die nicht Theorieabhängig sind, sondern prinzipieller Natur. Da an dieser Stelle erstmals begründete Zweifel an der Konsistenz der bis zum Ende der Neuzeit entwickelten Physik aufgekommen waren, versuchte man alternative Deutungen zu entwickeln, die das vorhandene theoretische Wissen retten sollten. Aber die Quantenmechanik fügte sich nicht in das bisherige System der deterministischen Weltanschauung. Sie lieferte stattdessen sogar empirische Beweise dafür, dass die Welt so widersprüchlich ist, wie sie in dieser Form von Einstein scharf kritisiert wurde. Der reine Determinismus, wie er noch von Leibniz oder Laplace vertreten wurde, war besiegt, peinlicherweise von der wissenschaftlichen Disziplin, die ihn am heftigsten verteidigte. Es musste umgedacht werden. Alte Vermutungen wurden in diesem neuen Licht erneut gesichtet, Erkenntnisse zum prinzipiellen Indeterminismus aus den Mülleimern gefischt. Wir befinden uns dabei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der eine Flut von Erkenntnissen zur Chaostheorie, Komplexitätsforschung, Synergetik, Autopoiesislehre und eben auch zur Selbstorganisation entstanden sind. Diese Begriffe sind, mit Kant gesprochen, für die meisten der Leser momentan noch leer, sollen aber durch die Ausführungen gefüllt werden und am Ende eine Anschauung liefern, die es ermöglicht sich auf diesem noch jungen Gebiet der Forschung zu bewegen.

Die Wiege der westlichen Kultur und Philosophie, und damit auch der modernen Naturwissenschaft, befindet sich im Mittelmeerraum, speziell in den kleinen Stadtstaaten des damaligen griechischen Sprachraums. Dort sind, mit den widerstreitenden Meinungen der Bewohner florierender Handelsmetropolen, Bestrebungen entstanden, das Mythische und Mystische durch rationale und auf gesichertem Wissen basierende Erkenntnisse zu verdrängen. Dort sind die Wurzeln zu finden, die unsere Sprache, deren Begriffe und somit auch unser Verständnis der Umwelt, in der wir leben, entscheidend geprägt haben. Will man zu einem Gebiet vordringen, das bisherige Entwicklungen einer so erfolgreichen Wissenschaft wie der Physik erweitern soll, kann das Verständnis nicht einfach nur auf der Basis der bisherigen Begriffe der Physik aufbauen, die sich als „nur die halbe Wahrheit“ herausgestellt hat. „Back to the roots!“, heißt demnach das Motto, nach dem zunächst in dieser Arbeit verfahren wird. Am Anfang steht folglich eine Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern, die als erste Naturphilosophen gelten. Hier liegen die Begriffe „Sein“ und „Werden“ noch in einer ursprünglichen Bedeutung vor. Sie sind noch nicht aufgeladen durch Theorien oder Vorurteile. Zudem sind zu jener Zeit die Konzepte, wie eine Welt gedacht werden kann, gleichgültig welcher Art, grundgelegt worden. Was liegt also näher, als sich mit diesen umfassenden Überlegungen zur Natur zu beschäftigen? Der Nachteil liegt sicherlich in dem anderen Verständnis der Zusammenhänge, die – aus heutiger Sicht – zu absonderlichen Konsequenzen führen können. Um aber ein System in seiner Ganzheit zu verstehen, ist es nötig, auch das Umfeld mit zu bedenken, in dem es steht, die Teile aus denen es zusammengesetzt ist und auch seine Geschichtlichkeit, soweit das überhaupt möglich ist. Die Grenzen des Systems sind so nicht eindeutig zu ziehen. Aber es steht außer Frage, dass unsere heutigen Begriffe zeitlich auf die Griechen zurückzuführen und selbst damals nicht aus dem Nichts entstanden sind. Wie diese Anfänge waren, und natürlich auch die Ansätze ihrer Folgen auf die spätere Zeit, stellt der erste Teil dieser Arbeit dar. Der Bezug auf die Theorie der Selbstorganisation ist darin implizit eingearbeitet, kann daher erst nach und nach ersichtlich werden. Die Ausführungen bauen aufeinander auf, ein Springen zwischen den Abschnitten im ersten Teil, wird vom Autor nicht empfohlen. Was in diesem Ansatz klar zutage treten soll ist eine Evolution des Denkens im Individuum, sowie deren Bedingungen und Auswirkungen je bezogen auf das Umfeld des betrefflichen Denkers. Es soll eine Entwicklung des antiken Denkens aufgezeigt werden, die vom Sein zum Werden tendiert.

Der Titel dieser Arbeit kann in zweifacher Weise verstanden werden: Eine Kommentierung zur natürlichen Selbstorganisation. Oder: wie die Bedingungen sind, damit eine Theorie der natürlichen Selbstorganisation sich entwickeln kann. Beide Arten des Verständnisses wurden bedacht. Der Schwerpunkt liegt auf den Bedingungen, die sich im ersten und zweiten Teil niederschlagen. Im dritten Teil wird die Theorie von Ilya Prigogine skizziert. Anschließend wird auf die generelle Kritik von Hans-Dieter Mutschler am Konzept der Selbstorganisation und der Autopoiesis eingegangen. Damit ist der Kommentierung Rechnung getragen. Im zweiten Teil werden die Begriffe der Selbstorganisation in ein Schema gebracht. Wie könnte es anders sein, als dass ein Thema, welches die Komplexität zum Gegenstand hat, selbst nicht komplex wäre? Die Komplexität wird soweit wie möglich reduziert. Die Begriffe bauen teils aufeinander auf oder verweisen aufeinander. Man kann diesen Teil mit einem Glossar vergleichen, indem die nötigen Kenntnisse auf den Punkt gebracht werden. Trotzdem bedarf es einer Einbindung der Begriffe in den Gesamtkontext. Eine Rekursion der Selbstorganisation auf die gesamte Arbeit wird angestrebt. Damit soll die innerliche Konsistenz der Theorie in den verschiedenen Ebenen Natur – Sprache – Denken angewendet werden. Eine gewisse Redundanz des Textes kann dabei nicht verhindert werden, aber auf der Grundlage des Aufgebauten wird immer weiter auf neue Aspekte eingegangen.

Zu den Quellen ist zu sagen, dass sich in diesem Gebiet eine Flut an Literatur entwickelt hat. Alles zu lesen, wäre eine Sisyphos-Arbeit und ist in diesem Rahmen auch nicht zu erwarten. Die Springer Reihe in Synergetik ist mittlerweile auf über 90 Bände angewachsen und scheint fortgesetzt zu werden. Der Herausgeber Hermann Haken hat die Synergetik geprägt und wird nicht müde, sie auf jede Naturwissenschaft zu übertragen. Synergetik ist ein Synonym für Selbstorganisation, wenn auch die Begriffe innerhalb der Theorien Unterschiede in der Verwendung haben. Die Grundlagen fließen in die Ausführungen ein anhand seines Buches: „Die Selbstorganisation komplexer Systeme“. Nikolas Luhmann ist dem Soziologen ein Begriff. Er übertrug die Theorie der Selbstorganisation auf das menschliche Sozialsystem. Es werden hier Ansätze einer Übertragung eigenständig unternommen, die sich nicht mit den Ausführungen Luhmanns decken müssen; sie haben nur beispielhaften Charakter zur Verdeutlichung. Die Lehre von Humberto Maturana und Francesco Varela, der so genannten Autopoiesis, ist implizit in den Ausführungen gegeben. Wenn auch nicht dezidiert auf die Autopoiesis eingegangen wird, werden Ansätze verfolgt die sich mit Aussagen von Maturana decken. Als Wegbereiter des neuen Paradigmas der Selbstorganisation wird Ilya Prigogine bezeichnet. Eine Darstellung seiner Überlegungen, die sich hauptsächlich mit der Selbstorganisation in Chemie und Physik befassen, ist unverzichtbar. Er wiederum baut auf den Hyperzyklen von Manfred Eigen auf, die im Bereich der Chemie neue Wege bereitet haben. Erich Jantsch fasste die Theorie der Selbstorganisation in einem Buch zusammen und diente als Orientierung zu dieser Arbeit. Er wird scharf von Hans-Dieter Mutschler kritisiert, da er ungerechtfertigt die wissenschaftlich fundierte Theorie der Selbstorganisation auf alle Lebensbereiche ausgedehnt habe. Dazu aber erst im dritten Teil. Die philosophischen Ausführungen von Heinz von Förster über die Selbstorganisation, müssen in diesem Zusammenhang genannt werden, konnten jedoch nicht mehr in die Ausführungen einfließen.

Im zweiten Teil wird anhand der Definitionen aus der Internetplattform „Wikipedia“ das Begriffssystem der Selbstorganisation kritisch entwickelt. Dabei entsteht ein Bedeutungsumfang der Begriffe speziell für die Theorie der Selbstorganisation.

Für den ersten Teil der Arbeit habe ich mich an dem, immer noch ausgezeichneten, Buch von Wolfgang Schadewaldt orientiert. Wenn auch manche seiner Thesen durch die aktuelle philologische Forschung wieder in Frage stehen, bietet er eine Einführung zu den Vorsokratikern, in der er versucht die heutigen Deutungen zurück zu transformieren. Um so nahe wie möglich an der Bedeutung der alten Naturphilosophen zu bleiben, habe ich mich an Diels und Kranz gehalten, deren Übersetzungen ins Deutsche immer noch als Standard gelten kann. Direkte Zitate daraus werden für Xenophanes, Parmenides und Heraklit verwendet; jeden Vorsokratiker in deren Umfang darzustellen, hätte den Rahmen gesprengt. Daher fließen zu den Übrigen, neben Schadewaldt, die Meinungen von Karl Popper und Wolfgang Röd in die Darstellung mit ein. Alle genauen Titel werden im Literaturverzeichnis angegeben. Zur besseren Lesbarkeit wird auf Fußnoten mit Verweisen auf die entsprechenden Bücher weitgehend verzichtet und im Text selbst nur ein Kurzzitat angegeben.

1 Von Parmenides zu Heraklit: Vom Sein zum Werden.

Im ersten Teil möchte ich unter anderem auf die zwei Antipoden Parmenides und Heraklit eingehen. In der gängigen Darstellung werden ihre Theorien zur Beschreibung der Welt[1] als Gegensätze aufgefasst. Parmenides stellt demnach eine starre Welt des Seins in den Mittelpunkt, woraus folgt, dass jegliche Bewegung nur Schein sei. Heraklit dagegen behauptet, dass ein Werden die Wirklichkeit korrekt fassen würde und so das Starre und Unbewegliche nur Schein seien (vgl. Kunzmann 32f). Wie diese Verhältnisse sich entwickeln konnten, wird eingehend gezeigt. Ein Teil des Titels dieser Arbeit lautet wie ein Buch von Ilya Prigogine „Vom Sein zum Werden“ und zeigt dadurch, wie zentral diese Begriffe für die Theorie der Selbstorganisation sind, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, sie näher zu erläutern.

Die Schriften der Vorsokratiker sind jeweils nur in Fragmenten erhalten. Der Bezug auf Parmenides und Heraklit ist in der Philosophie ihrer Epigonen deutlich zu erkennen, auch wenn heute keine absolut gesicherte Überlieferung dessen vorhanden ist, was sie tatsächlich als ihre „Lehre“ ansahen. Insofern folge ich der Ansicht von Schadewaldt, der in seiner Einführung in die Geschichte der Vorsokratiker (Schadewaldt 213f) ausdrücklich darauf hinweist, wie diese von Diels und Kranz zusammengestellten Fragmente zu lesen und zu interpretieren sind. Bücher, die von den Vorsokratikern heraus gegeben wurden, sind heute nicht aufzufinden. Gesicherte Erkenntnis (bis heute nachvollziehbare schriftliche Dokumente) über die Vorsokratiker setzte erst mit dem Werk eines Schülers von Aristoteles ein: Theophrast. Er fasste die „ Physikôn dóxai, ,Lehrmeinungen der Physiker‘, womit er die alten vorsokratischen Philosophen meint“ (ebd. 215), zusammen. Dieses Buch selbst ist leider ebenfalls verschollen. Zur damaligen Zeit (4. Jahrhundert v. Chr.) waren die Bücher und Schriften aber noch vorhanden. Theophrast, als angesehener Schüler von Aristoteles und dessen Nachfolger im Peripatos, wurde im weiteren Verlauf der Geschichte oft zitiert, die eigentlichen Quellen aber gingen verloren. So führen die verschiedenen Zitate der späteren Philosophen alle auf dieses Werk zurück. Die Leistung, dieses erkannt zu haben, hat der Gymnasiallehrer Hermann Diels vollbracht. Durch dieses Faktum muss die gesamte Philosophiegeschichte der Vorsokratiker betrachtet werden. Wir blicken gleichsam durch das Brennglas eines Theophrast, der durch die Brille des Aristoteles schaut, auf dessen umgebende Strömungen (vgl. ebd. 216).

Was durch die Überlegungen von Parmenides und Heraklit aufgespannt wird, ist das Problem der Veränderung, heute auch unter dem Namen „Problem der Identität“ bekannt. Wie kann es sein, dass sich etwas verändert und doch das Selbe bleibt? Am schwierigsten ist dieses Problem am Menschen zu „lösen“, aber auch schon ein Tisch oder ein Schiff, demnach unbelebte Gegenstände, führen uns in scheinbar unlösbare Widersprüche, wenn man ihr Bestehen oder Entstehen konsistent beschreiben möchte.

Parmenides und Heraklit werden herangezogen, da ich der Überzeugung bin, dass die Wurzel der Unterscheidung zwischen Sein und Werden bei diesen antiken Autoren zu finden ist. Freilich wurde schon früher eine Interpretation von Sein und Werden vollzogen, etwa in der Philosophie Asiens mit den Gedanken des Yin und Yang oder dem Kreislauf der Wiedergeburten (vgl. Kunzmann 14–27), um nur entfernt auf diese frühen mythischen Regungen der Philosophie anzuspielen, ohne ihre spätere Wirkung bis in die heutige Zeit hinein schmälern zu wollen. Der Übergang „vom Mythos zum Logos“ (so der Titel eines Buches von W. Nestle[2] ) hatte sich damals aber noch nicht vollzogen. Die Philosophie wurde noch nicht mit den Maßstäben der heutigen Wissenschaft betrieben. Es waren Überlieferungen von Weisheiten, die zum Teil schriftlich niedergelegt waren oder mündlich, in Kreisen der Priester, weiter gegeben wurden. Ein Bezug aufeinander, wie es dann seit Thales der Fall ist, legte den Grundstein für die abendländische Philosophie und mit ihr wurde die Entwicklung der Wissenschaft überhaupt erst möglich. Auch im heutigen Wissenschaftsalltag ist ein Bezug auf andere nicht weg zu denken. Erst durch eine Kenntnisnahme und der kritischen Auseinandersetzug mit dem schon Gegebenen, kann neues entstehen, wenn das in unserer heutigen Zeit, in der es scheint, dass alles schon einmal gedacht wurde, überhaupt noch und prinzipiell möglich ist. Oft unterliegt man dem Irrtum die eigenen Gedanken wären neu für die Gemeinschaft der Wissenschaft und stellt dann fest, dass man die Quellen nicht gekannt hat.

So werde ich nun durch das Brennglas des Theophrast, der mit der Brille des Aristoteles auf die vergangenen Naturphilosophen geblickt hat, in meiner eigenen Geschichtlichkeit, die nur Grundkenntnisse der Philosophie beinhaltet, mit einem kritischen Blick auf beide schauen, um zutage zu fördern, welches Verständnis von Sein und Werden unseren heutigen Theorien zugrunde liegt. Dies kann nicht erfolgen ohne auch die Strömungen derer zu beleuchten um die es geht. Somit ergibt sich die Gliederung wie von selbst, indem zunächst die Vorbedingungen der Denker betrachtet werden, um darauf aufbauend seine jeweiligen Neuerungen zu beschreiben, um danach diejenigen zu benennen, auf die er wiederum Einfluss gehabt hat. Dabei liegt der Fokus auf dem Zusammenhang von Sein und Werden, wenn auch die umgebende Problematik genannt werden muss, damit die Tragweite klar zum Vorschein kommt. Es werden auch Ansätze aus der Alltagswelt (der heutigen und damaligen) mit in die Darstellung gebracht, um Unterschiede zum heutigen Denken heraus zu arbeiten. Ich lehne mich dabei stark an das Werk von Wolfgang Schadewaldt an: „Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen“, in dessen Darstellung der Vorsokratiker er jeglichen Schleier, der über die Geschichte geworfen wurde, lichtet, soweit er das konnte. Als Altphilologe hat er viele der Schriften selbst übersetzt und damit profunde Kenntnisse der griechischen Kultur und Philosophie erreicht. Liest man ihn, taucht man in die Welt der griechischen Denker ein und ist so an der Wurzel des Denkens überhaupt. Parallel dazu werde ich gesammelte Schriften von Karl R. Popper zu diesem Thema heranziehen: „Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens“. Popper, einer der einflussreichsten Wissenschaftstheoretiker des vergangenen Jahrhunderts, hat sich mit der frühen griechischen Philosophie nicht nur nebenbei beschäftigt, er war ein Liebhaber dieser frühen Denkbewegungen, ein Amateur in diesen Dingen. Trotzdem, oder gerade deswegen, bringt er zusammenfassende Meinungen, die eine alternative Deutung der naturwissenschaftlichen Gedanken der Vorsokratiker nahe legen, die bei Schadewaldt nicht so klar in den Blick kommen.

1.1 Vorbedingungen der Philosophie

Um überhaupt einen Fuß in die Tür zu bekommen in diesen anfangslos scheinenden Zusammenhängen, ist es wichtig zu wissen, welche Fragen generell gestellt wurden und so offen zu legen, was die Denker der damaligen Zeit beschäftigt hat. Es waren Grundfragen des Menschen, wie wir sie uns heute auch noch stellen können. „Die Älteren fragten […] nach […, der] realen Vorhandenheit der seienden Dinge, nach dem uns umgebenden Sein der Natur, der physis, und sie fragten zumal in bestimmterer Weise nach dem Ursprung, der genesis von allem“ (Schadewaldt 10). Diese Aussage gilt vor allem für die physikalischen Betrachtungen, die von den „Älteren“ angestellt wurden. Darüber hinaus waren auch Fragen des alltäglichen Lebens von Bedeutung, etwa wie das Zusammenleben in der Polis geregelt werden kann, Fragen nach der Tugend und Ethik, die sich nur im Miteinander stellen und einen Bezug auf das Zusammenleben hatten und haben. Aber die Verschiedenen Bereiche, wie wir sie heute kennen, waren noch nicht voneinander getrennt. Ein Denker der Antike war ein gebildeter Mensch, gebildet in jederlei Hinsicht. Heute unterscheiden wir Theologie, Philosophie, Naturwissenschaft, Medizin und Politik im Groben. Damals war das alles ein Beschäftigungsfeld für den gebildeten Aristokraten. Die Natur und das Seiende waren damals nicht abstrakte Gegenstände, die nur im Denken der Menschen vorkamen, sondern sie hatten immer auch einen Bezug auf die Lebensumstände der sie denkenden. Das Seiende war ein Sammelbegriff für die Dinge, die einem im täglichen Leben begegnen konnten. So trug ein Sklave, dem man befahl die onta [3] zu holen, das Hab und Gut des Besitzers zusammen (vgl. ebd.).

Ob die Vorsokratiker Naturphilosophen oder Theologen waren, kann nicht gesagt werden. Es gibt widerstreitende Meinungen dazu, vor allem kann das nicht von allen behauptet werden (vgl. ebd. 42f). Diese uns heute so klare Unterscheidung weist auf eine geschichtliche Differenzierung hin, die damals noch nicht vollzogen sein konnte. Die Vorsokratiker können nicht in unser heutiges System gepresst werden. Sie waren Denker, die sich mit den Problemen ihrer Zeit auseinander gesetzt haben. Also waren sie weder Theologen, noch Metaphysiker, keine Erkenntnistheoretiker oder Physiker, geschweige denn Chemiker. Ebenso wenig wie die einzelnen Gebiete voneinander geschieden waren, konnte man den Denkern eine Bezeichnung geben, wie wir sie heute verwenden. Sie bildeten aber die Grundlagen für all diese Wissenschaftszweige, weswegen man ihnen diese Benennungen gerne anhängen will. Sie bildeten den Keimling für die ganzen späteren Wissenschaften, die mittlerweile jeweils zu riesigen Gebilden herangewachsen sind, die kaum noch an ihre Ursprünge denken lassen. Die Entwicklung dieser Gebilde verdanken wir vor allem der Schrift, die es generell ermöglicht Wissen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu transportieren. Auch durch mündliche Überlieferung kann Wissen weiter gegeben werden, aber es verformt sich jeweils spätestens im Übergang der Generation und schon vom Sprecher zum Hörenden. Der Übergang vom mündlich Überlieferten zum schriftlich Festgehaltenen, der Wandel vom Mythos zum Logos, wurde bei den Griechen vollzogen und setzte so den Ursprung unseres Denkens. Diese Ursprünge, die nicht singulär gedacht werden können, sondern aus Vielem zusammenströmen, lagen in den Mythen eines Hesiod und Homer.

Das klingt bisher alles nach Sumpf, Treibsand und Urwald. Für mich selbst stellten die Vorsokratiker ein noch unwegsames Gelände dar, dem im Folgenden ein Weg gegeben wird. Ein Weg, der die Probleme der damaligen Zeit geht und umso schneller in die Zukunft weist, je mehr man von diesen alten Meistern des Denkens mit in die Gegenwart zieht. Manches muss dort verbleiben, denn wir haben neue Erkenntnisse. Anderes muss mühsam aus der Versenkung geholt werden und erstrahlt im neuen Licht als brandaktuell, trotz 2700 Jahren dazwischen.

Zur Methode des Vorgehens ist zu sagen, dass ich nach dem Ansatz der Vorsokratiker verfahren möchte. Sie haben sich in ihrer Kosmogonie immer gefragt, was das Erste ist. Es wurden damals noch nicht unsere heutigen Elemente (Periodensystem der Elemente) unterschieden, geschweige denn ein Begriff der Materie entwickelt, sondern man dachte alles wäre aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft aufgebaut. So nahmen sie jeweils eines an, als Ursprung, aus dem alles andere entstanden sein sollte. Aber schon Anaximander scherte aus dieser Ansicht aus, denn er betrachtete das ápeiron als das erste Prinzip. Darunter versteht man das Unbegrenzte, wobei der Buchstabe á als Verneinung des darauf Folgenden verstanden wird. Ähnliches haben wir auch heute noch in unserer Sprache, etwa wenn man von Symmetrie und Asymmetrie spricht. Ausgegangen wird bei ihm von dem Begriff der Grenze, dieser wird verneint und man gelangt zum Unbegrenzten. In unserer heutigen Sprache wird damit gerne das Unendliche assoziiert, was Anaximander aber nicht im Sinn gehabt haben kann. Er ging von dem Blick über das Meer aus, bei dem man im Bewusstsein hat, dass es dahinter weiter gehen wird. Es ist kein Begriff der Unendlichkeit gedacht worden, dieser wurde in den nachfolgenden Auslegungen hinein interpretiert (vgl. ebd. 235ff). Näheres dazu aber weiter unten.

Ähnlich wie Anaximander will ich hier das Prinzip der Selbstorganisation als Urgrund ansetzen, das alles Folgende bestimmt. Dazu ist es nötig, ein zugrunde Liegendes anzunehmen, auf dessen Basis sich die Selbstorganisation vollziehen kann. Es muss Materie oder Energie vorhanden sein, an der sich die Selbstorganisation vollzieht. Demnach ist die Selbstorganisation nicht das Erste, aber mit dem Ersten immer schon vorhanden und so für das Erste bestimmend. Nach den Prinzipen der Selbstorganisation hat sich das Universum entwickelt, unsere Galaxie, unser Sonnensystem. Dann entstand auf dieser Basis das Leben aus anorganischem, indem sich verschiedene Elemente zusammen gefunden haben und aus ihrer Konstellation neue Eigenschaften hervor traten. Dieses Phänomen, dass neue Eigenschaften entstehen, die von den einzelnen Bestandteilen des Systems nicht gezeigt werden, bezeichnet man als Emergenz[4]. Aus der Symbiose zwischen verschiedenen Lebewesen entstanden größere Lebewesen, mit neuen Eigenschaften, wieder emergiert etwas Neues aus dem System. Die verschiedenen Zellen finden sich zusammen und werden immer komplexer. Diese These nennt sich „Gaia-Hypothese“ und wird unter anderem von Lynn Margulis vertreten (vgl. Margulis 141–161). Hier ist interessant, das dieses Prinzip bis hin zur Entwicklung des Menschen bestimmend ist und darüber hinaus. Am Beispiel der Vorsokratiker kann man diese Entwicklung selbst, auf das Denken anwenden. Es ist natürlich retrospektiv immer einfach in ein System gewisse Eigenschaften hinein zu legen, aber ich bin davon überzeugt, dass ein zusammen Leben, damit die Geschichte und das Denken nach dem Prinzip der Selbstorganisation funktionieren. Was aus der Geschichte gemacht wird, basiert wiederum auf der Grundlage eines Menschen, der diese Geschichte einerseits niederschreibt und andererseits interpretiert. Das Bewusstsein des Menschen ist so ebenfalls ein System, das den Prinzipen der Selbstorganisation entspricht. Aus dem Denken des einen wird durch das Denken des Nachfolgenden etwas für ihn Neues generiert, auf der Basis des ihm eigenen Denkens. Ob dieses Produkt nun etwas wirklich Neues darstellt, kann nur im Nachhinein festgestellt werden, ob von der Person selbst oder wieder Nachfolgenden.

Unter diesen Voraussetzungen wird nun auf die Vorsokratiker und die sie beeinflussenden Dichter des antiken Griechenlands geblickt. Es benötigt eine gewisse Grundlage, mit der gearbeitet werden kann. Demnach werden die Dichter sehr deskriptiv dargestellt, wobei mir bewusst ist, dass auch ihre Dichtung nicht aus dem Nichts gekommen sein kann. Erst zum Ende hin werden die Strukturen deutlich hervortreten. Ob mein Urteil richtig ist, wird nach mir festgestellt werden.

1.2 Die Dichter

1.2.1 Homer

Am Ende des achten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung wirkte Homer. Er gilt als Verfasser der uns heute noch erhaltenen dichterischen Schriften „Ilias“, „Odyssee“ und der „Homerischen Hymnen“. Unter anderem aus der Schildbeschreibung in der Ilias können wir etwas über das damalige Weltbild erfahren. Was aber die Darstellung des Schildes, welche rein deskriptiv erscheint, übersteigt, ist die Sehnsucht nach Ordnung in der damaligen Zeit. „Überall strebt das Weltdenken in dieser frühen Zeit hin nach derartig klaren Ordnungen“ (ebd. 55). Die Schildbeschreibung gliedert die Welt in drei voneinander verschiedne Bereiche, die von den Menschen angenommen werden: Himmel, Erde und Unterwelt. Es wird weiter differenziert – diesmal für die Götter ­– in: Himmel, Okeanos und Unterwelt. Die Erde kommt als Betätigungsfeld allen Göttern und Menschen gleichermaßen zu. In den Bereiche werden jeweils Götter als bestimmend gesehen: für den Himmel ist es Zeus, für den Okeanos ist es Poseidon und für die Unterwelt ist es Hades. Diese Dreiteilung dient zur groben Unterscheidung der Bereiche, im Weiteren wird in Zweiheiten unterschieden.

Die Vorstellung der Götter war bei den Griechen direkt mit dem Leben verbunden. In allem wurde das Wirken von Göttern gesehen. Dies drückt sich z.B. in einem Ausspruch aus, der uns auch heute noch bekannt ist: Von den Musen geküsst werden. Wir sehen heute dieses Bild als Metapher für einen guten Einfall oder eine plötzliche Erkenntnis an. Die Gründe dafür liegen für uns im psychologischen oder neurologischen Bereich. Bei den Griechen stellte man sich hingegen vor, dass tatsächlich eine Göttin herbei schwebt und den Gedankenblitz durch einen Kuss verursacht. Das Ergebnis bleibt dasselbe, nämlich ein guter Einfall, das Weltbild dahinter ist jedoch ein völlig anderes. Aber man versuchte, die mythischen und für uns heute abergläubischen Gründe zurück zu drängen, auch wenn sie bei Homer noch in voller Blüte stehen. Es wird der Anfang gemacht, die Welt um sich herum zu beschreiben, eine Ordnung in die Umwelt[5] zu bringen. „Dies Hineinprojizieren des Gesehenen in gesetzliche, mathematische Formen ist von größter Bedeutung für das in der Dichtung sich bildende und dann in der Philosophie weitergeführte Denken der Griechen“ (ebd. 55).

Blickt man über die Grenzen der griechischen Kultur hinaus, bleiben die anderen Völker in einer anthropomorphen Weltsicht verhaftet. Es wird nicht über die Grenzen des eigenen Menschseins hinaus gedacht. In der Schildbeschreibung kann man eine Präontologie vorfinden, die, mit dem Prinzip der Unterscheidung des Wahrgenommenen, wichtige Bereiche unterteilt und so aufschlüsselt. Aber es ist keine vollständige Ontologie, die alles an den richtigen Platz stellt. „Ihm [Homer] liegt nicht an der Fülle der Escheinungen, sondern er hält nur soviel davon fest, daß sich repräsentativ in ihnen das Ganze darstellt, zumal durch das Prinzip der polaren Entgegensetzungen“ (ebd. 58). Diese Zweiteilung, die Schadewaldt auch Dichotomie nennt, wird in den ihm damals wichtigen Lebensbereichen von dem Dichter aufgezeigt. Durch die Abgrenzung der Gegensätze wird fast beiläufig auch die Grenze eingeführt. Diese wird im Griechischen mit dem Wort peras ausgedrückt, dessen Verneinung oben schon erwähnt wurde und durch das ápeiron umschrieben wird. Was Homer versucht, ist die Wirklichkeit um ihn herum angemessen zu beschreiben. Das führt zu der Seinsadäquatheit seiner Schrift, wie er sich die Umwelt vorstellt, ausgedrückt in seinem Gedicht, was Schadewaldt zusammenfasst:

„Da hatten wir bei dem Überblick über das Erdenleben nicht nur eine eigentümliche Totalität aller Erscheinungen der Kultur, sondern eine Ganzheit, die in einer bestimmten Denkmethode gefaßt und dichotomisch gegliedert ist, in dem Sinne, daß Polaritäten, Gegensätze ins Auge gefaßt werden, die dialektisch aufeinander bezogen sind und je ein umfassendes Ganzes darstellen“ (ebd. 60).

Durch die Gegensätzlichkeit bestimmter Dinge der Umwelt wird auf ein dem Gegensätzlichen Übergeordnetes geschlossen. Hier sieht man die Ansätze, mit denen später Heraklit seine Gegensatzlehre und Platon seine Dialektik ausbilden werden.

Schadewaldt führt hier auch noch drei Begriffe ein, die für die spätere Denkbewegung und die Philosophie äußerst wichtig sein werden: einerseits den Begriff arché, was bei Homer mit „Anfang“ umschrieben werden kann, andererseits telos, was zu seiner Zeit noch „Ende“ bedeutet, später mit „Ziel“ umschrieben wird und schließlich das meson, worunter man die „Mitte“ versteht. Anfang und Ende bilden zusammen ein Ganzes, spannen den Bereich auf, in dem sich das Weitere befindet. In diesem befindet sich die Mitte (vgl. ebd. 61). Hier sieht man die Ansätze eines Aristoteles und seiner Ethik angedeutet, die ein Mittleres dem Extrem vorzieht.

Schadewaldt blickt auf das gesamte Epos des Homer unter Bezugnahme auf den Ursprung, die genesis, den erwähnten Gegensätzen und der Kategorie der Gleichheit, dem ison. Im Begriff der Entstehung von etwas ist schon mit begründet, dass etwas werden und auch wieder vergehen kann. Dadurch ist der Ursprung von etwas ein Werden in dem das Vergehen bereits enthalten ist. Als Beispiel kann man sich das individuelle Leben denken, mit dessen Beginn schon sein Ende notwendig folgt, wenn es als einzelnes Leben aufgefasst wird. Leben als Ganzes hat für uns als Lebewesen keine erkennbar, festgelegte Grenze. Die verschiedenen Gegensätze spannen die Welt auf, in ihnen können wir uns bewegen. Leben – Tod, Werden – Vergehen, alt – jung, männlich – weiblich, um nur einige zu nennen, denn die Liste ist beliebig erweiterbar, auch wenn es bei genauer Differenzierung immer schwerer wird, Gegensätze als solche zu erkennen. Die verschiedenen Gleichnisse werden als Bildelemente verwendet, um die Welt in ihrer Differenziertheit auszudrücken.

Werden die Gleichnisse des Homer zusammengerückt, ergibt sich eine Beschreibung der Umwelt, wie sie sich ihm darstellte. Denn „die Natur bei Homer ist eine durch und durch dynamische Natur. Die griechische Dynamis-Vorstellung, die später in der Philosophie eine so große Rolle spielt, ist hier im bildlichen Bereich bereits durchgeführt“ (ebd. 68). Dynamis und energeia sind komplementäre Begriffe im Griechischen. Energeia beschreibt wie etwas im werden aktuell ist, wogegen dynamis die Potentialität von etwas angibt (vgl. ebd. 68f). Um den Zusammenhang zu verdeutlichen, eine Erläuterung: Unter energeia würde man das Bauen eines Hauses verstehen, wenn der erste Spatenstich gemacht wurde, also das Bauen des Hauses bereits begonnen hat. Der Prozess des Werdens hat schon eingesetzt. Unter dynamis versteht man die reine Möglichkeit etwas zu tun, etwa wenn der Architekt sich das Haus zwar im Kopf schon vorgestellt, aber noch keinen Strich des Planes gezeichnet hat. Es kommt dabei auf die Grenze an, an der man das Werden von etwas beginnen lässt. Würde man den Bau eines Hauses mit heutigen Mitteln beschreiben, wäre der Prozess des Planens der wichtigste, und somit ist er schon in energeia. Will z. B. die Stadt ein neues Krankenhaus bauen und weiß schon, wo sie es bauen lassen will, ist der Prozess der Planung schon in energeia, das Wie des Krankenhauses allerdings noch in dynamis.

Die wichtigsten Begriffe, die eine Wirkung auf die spätere Philosophie haben, sind damit genannt, aber noch nicht in ein System gebracht. Wie die Bildersprache des Homer verstanden werden kann zeigt folgendes:

„das homerische Gleichnis ist ein komplexes Gefüge von Relationen und Proportionen. Zu Anfang wird die Substanz angegeben, dann die Modalitäten und Funktionen, was zu der Totalität des Gleichnisses führt, das so neben die Haupthandlung tritt, nicht illustrierend, sondern die Dinge auf ihr Grundwesen reduzierend“ (ebd. 73).

Für diese komplexen Gefüge haben die Griechen ein einfache klingendes Wort: lógos. Dieser Begriff lebt auch heute noch weiter in vielen Bezeichnungen der Wissenschaften, wie der Soziologie, Philologie, etc. Immer ist dabei ein Gegenstand zugrunde liegend, dessen komplexe Strukturen innerhalb der Wissenschaft untersucht werden. Der Begriff lógos kann mit vielen Bedeutungen übersetzt werden, gängig sind: „Wort“, „Sinn“ oder „Gedanke“. Laut Schadewaldt ist aber der Begriff „Proportionalität“ meist der treffendste (vgl. ebd. 73f). Mit etwas Abstand betrachtet, fallen hier die Vorbedingungen ins Auge, die später zu Heraklit führen werden: Es gibt etwas das zugrunde liegt und, durch die verschiedenen Pole aufgespannt, die Wirklichkeit verkörpert. Das komplexe Gefüge der Unterschiede basiert allerdings bei Homer noch auf einer Substanz, an der sie sich zeigen können.

Was im Hinblick unseres Themas nicht von direkter Wichtigkeit ist, aber das Denken der Griechen sehr stark beeinflusst hat, ist die areté, was ungefähr mit „Bestheit“ übersetzt werden kann. Homer hat, laut Schadewaldt, einen komischen Sinn dafür: „In diesen drei Beziehungen zeigt sich die Wesenheit eines Dings in seiner Bestheit: in Bezug auf seine Funktion, in der Fähigkeit des Sich-Bewahrens und im äußeren Anblick“ (ebd. 77). Schon in der damaligen Zeit wurde eine Stufung der Erscheinungsformen vorgenommen, die von dem Unbelebten, zu Pflanzen, über Tiere bis hin zum Menschen als Oberstes vollzogen wurde. In diesem Sinne kann man von der areté eines Messers sprechen, bei dem die Schärfe der Klinge das entscheidende Kriterium der „Bestheit“ ist. Natürlich spielt auch die äußere Form noch hinein, aber ein Messer das stumpf ist, taugt nicht als Messer, wofür man es auch verwenden will, und selbstverständlich soll es beständig sein. Bei Pflanzen verhält es sich ähnlich, wenn auch der ästhetische Wert und der Nutzwert einer Pflanze unterschieden werden. Einen schönen Blumenstrauß bevorzugt mancher gegenüber einem Kirschbaumsetzling, der in zehn Jahren reiche Früchte tragen kann. Dabei wäre der Nutzwert des späteren Kirschbaumes erheblich höher, gegenüber den in einer Woche verwelkten Blumen. Es ist aber noch einfach, die „Bestheit“ zu bestimmen. Nimmt man aus dem Tierreich etwa ein Pferd, wird es schon schwerer, die areté festzulegen, denn nach welchem Kriterium soll man entscheiden, was besser ist: ein schnelles Pferd oder ein Pferd das stark ist und einen Pflug gut ziehen kann? Es kommt die Frage der Funktion des Pferdes hinein, die aber je nach Verwendung durch den Menschen ein Pferd für die jeweilige Situation gut oder schlecht geeignet macht. Es gibt kein allgemeines Kriterium für alle Pferde. Gelangt man zur obersten Stufe, wird die „Bestheit“ am differenziertesten. Was macht einen Menschen gut im Sinne der areté ? Jeder Mensch kann in unterschiedlichen Bereichen gut sein, aber doch sind alle Menschen und müssten nach gemeinsamen Kriterien beurteilt werden können. Diese Fragestellung verweist auch auf die stark normativen Interessen der Griechen. Es soll in allen Bereichen nach eindeutigen Gesetzen gesucht werden. Ob diese in der Natur oder der Ethik liegen ist uninteressant. Der Glaube herrscht vor, dass sich in jedem Bereich Gesetze finden lassen, die das Gegebene eindeutig abbilden (vgl. 77f).

Die Vorstellung der den Menschen übergeordneten Götter, wurde bei Homer zwar angeregt, aber er brachte sie noch nicht wirklich in ein System, in einen lógos, eine Proportionalität. Das Verdienst kommt Hesiod zu, dem zweiten großen Dichter der Griechen.

1.2.2 Hesiod

Hesiod wirkte um 700 v. Chr. kurz nach Homer, sodass er zumindest die Möglichkeit hatte, sich auf ihn zu beziehen. Ob er es wirklich getan hat, bleibt fraglich, wenn auch wahrscheinlich. Die Mythen der damaligen Zeit waren Kulturgut und lebten fort mit den Erinnerungen der Menschen an sie. Hesiod hätte demnach die Möglichkeit gehabt, auch unabhängig von Homer, seine „Theogonie“ zu entwickeln. Die ihm ebenfalls zugeschriebene Schrift „Werke und Tage“ wird hier nicht behandelt, es handelt sich dabei um Lebensweisheiten, die das Alltagsleben erleichtern sollen. Aus ihnen auf das dem Hesiod zugrunde liegende Weltbild zu schließen, halte ich für abwegig, vor allem wenn ein Werk wie die „Theogonie“ vorhanden ist, auch für überflüssig. Der Vollständigkeit halber, findet es hier noch Erwähnung.

Der Gegenstand der Theogonie ist die Entstehung der Welt und damit der Götter, wie sie in der Mythologie des antiken Griechenlands bekannt ist, wobei es fraglich ist, ob die Geschichten der Alten von Hesiod in ein System gebracht wurden oder erst damit in ihrer Komplexität zustande kamen.

Was die Entstehung von Hesiods Kosmos von der des Homers unterscheidet, ist die Verlagerung auf das Seiende. Es wird nicht vornehmlich stark unterschieden, sondern das was ist wird präsentiert. Dazu muss man sich die Vorstellung der Umwelt bei den Griechen ins Gedächtnis rufen, bei der zu jener auch die Götter gehörten. Sieht man einmal von den höheren Göttern ab, die im Olymp verortet waren, und den niederen Göttern im Tartaros, so finden sich auch in den kleinsten Erscheinungen Götter. Etwa in einem Baum oder in Flüssen werden Götter angenommen, denen man überall begegnen konnte. „Eine Betrachtung also der Gesamtnatur, wie sie zuerst in Homers Schildbeschreibung begegnete, wo die Welt der Menschen umfaßt erscheint von Erde, Himmel und Meer, nur daß das Seiende jetzt ganz ins Zentrum gerückt wird“ (ebd. 87). Aber die Erkenntnisse von Homer schwingen schon in dem Lehrgedicht des Hesiod mit. So präzisiert Schadewaldt sein Verständnis von der Ontologie Hesiods: „Zum Sein gehört das Verteiltsein, daß Unterschiede gesetzt sind. Die Unterschiedlichkeit ist eine Grundkategorie der Seiendheit“ (ebd. 90). Damit stellt er ein Grundprinzip der Ontologie heraus. In der Darstellung von Hesiod geht die Unterscheidung von Homer auf: sie ist aufgenommen, absorbiert, aber deswegen nicht nihiliert, sondern fügt sich als Teil in einen größeren Zusammenhang. Das Sein als Ganzes stellt sich als Unterschiedenheit der seienden Einzeldinge dar.

Um den Unterschied der damaligen Göttervorstellung noch einmal zu betonen, die Götter stellte man sich nicht als transzendente Wesen vor, die in einer unabhängigen Welt existierten. Sie sind immer schon gegenwärtig in allem was sich zeigt und auch ihr Wirken war sichtbar, man denke nur an die Blitze des Zeus. Zu dieser Ansicht kehrt man in der heutigen Zeit wieder zurück, indem man nun den singulären Gott wieder in allem wirken sieht. Aber das ist zu naiv gedacht und muss später weiter ausgeführt werden. Früher diente die Göttervorstellung dazu, Phänomene, die nicht zu erklären waren, mit einem Gott zu belegen. Damit war ein Grund für die Erscheinung angegeben, da man Götter ja auch nicht hinterfragen durfte und musste. Durch die Wissenschaft wurden viele Phänomene erklärbar. Stück für Stück drängte die naturwissenschaftliche Erkenntnis einen Gott nach dem anderen zurück. Auch wenn schon seit Anaximander der Monotheismus angedacht war, existierte die alte Göttervorstellung in den Menschen nebenher weiter. Nur langsam wurde der Polytheismus durch einen Monotheismus verdrängt. Heute sind wir so weit, dass unsere Theorie eines vollständigen Universums keinen Platz lässt für einen Gott, wie immer er auch geartet sein mag, denn die Naturwissenschaft kann sehr viel erklären. Die Vermutung eines Gottes hinter den Erscheinungen wird obsolet. Da man den Glauben an einen Gott nicht aufgeben will, interpretiert man nun jegliches Teilchen, jede Materie, alle Wirkungen als Gott, um nach der Naturwissenschaft doch noch einen Gott in der Welt zu haben. Es ist eine Erkenntnis, die eine lange Reise gemacht hat, aber in ihren Grundzügen wieder in allem einen Gott sieht. Sie verweist auf den Anfang, wenn auch nicht mehr viele Götter in der Welt gesehen werden, sondern nur ein Gott, der in allem ist. An dieser Stelle müsste man noch weiter in die Tiefe gehen, um das Neue in der Gottesvorstellung bis heute treffend darzustellen, was in diesem Rahmen nicht angemessen erscheint.

Durch die Theogonie des Hesiod wird in den Wirrwarr der Götter ein System gebracht. Er lässt die einzelnen Götter auseinander hervorgehen. Wie er zu dieser Erkenntnis gelangt, zeigt sich am Anfang seines Epos: Er ruft die Musen an, welche ihm die Ordnung der Götter preisgeben. Auf dieses Motiv werden wir bei Parmenides noch zurückkommen. Hesiod rechtfertigt sein Gedicht, seine Erkenntnis, mit dem, was er erklären will: er bezieht die Ordnung der Götter von göttlichen Wesen. Eine gute Erklärung für das damalige gottesfürchtige Volk. Kaum einer hätte es gewagt oder auch nur die Notwendigkeit gesehen, dies zu hinterfragen.

Durch dieses auseinander Hervorgehen ist aber auch ein Zeitpfeil in die Erklärung mit eingearbeitet. Sieht man auf eine Entwicklung von etwas, ist ein Werden und Vergehen impliziert. Wenn wir hier sind, was sich auch die Griechen denken konnten, dann muss etwas doch auch uns verursacht haben, da wir selbst wieder Verursacher von etwas sein können. Diese Gedanken werden im allgemeinen Aristoteles zugeschrieben. Er führt die Kette der Verursacher auf einen unbewegten Beweger zurück, als dogmatisches Anfangsglied einer Kette von Ursachen, die in der Konsequenz bis zu unserem Dasein führen soll. Aber dieser Gedanke war nicht neu, er gibt nur eine Antwort auf die vielen Möglichkeiten wie ein Anfang gedacht werden kann, ganz abgesehen von den möglichen Folgen.

Aber zurück zu der Vorstellung der Theogonie, was in etwa mit „Götterentstehung“ oder „Götterentwicklung“ übersetzt werden kann. Blickt man darauf, ist die Folge der Götter sichtbar: das sind die Menschen. Aber es bleibt die Frage nach dem Ursprung, dem was vor den Göttern war. Damit setzt die Kosmogonie ein, die Hesiod mit dem Chaos beginnen lässt. Chaos hatte bei den Griechen eine andere Wortbedeutung, als sie heute vorherrscht. Heute kann man das Wort umgangssprachlich verwenden und versteht darunter einen wirren Haufen von etwas, es ist keine Ordnung in etwas. Fachsprachlich ist das Chaos[6] zwar auf den ersten Blick ebenfalls keiner Ordnung unterworfen, aber man hat Möglichkeiten gefunden, im Chaotischen Strukturen aufzuweisen, wenn dies auch nicht in allen Formen des Chaos gelingt. Dazu aber später mehr. Bei den Griechen verstand man unter Chaos einen Schlund eines Tieres oder eine klaffende Lücke. In dieser bildhaften Sprache steht es womöglich für etwas Unergründliches, etwa Beängstigendes, etwas, das seinerseits nicht mehr hinterfragt wird. Aus diesem Chaos lässt Hesiod die Erde, den Tartaros und den Eros entstehen.[7] Die Einzelnen werden wieder weiter unterschieden, woraus sich eine Ontologie ergibt.

Eine prägende Ansicht für die weitere Entwicklung des Denkens stellt die Gerechtigkeit dar, im Griechischen wird dike dafür angesetzt. Unter der Berücksichtigung der Vorstellungen der Griechen zu ihren Göttern ist die Identifikation der Göttin Dike mit dem Prinzip der Gerechtigkeit absolut nachvollziehbar. Dike ist die Gerechtigkeit. Sie sitzt zur Rechten von Zeus, ist diesem nicht übergeordnet, stellt aber seine Beraterin dar. Dike sorgt für den Ausgleich zwischen den Gegensätzen. Die Ansicht eines Gleichgewichts als richtige Form der Welt hat sich an diesem Prinzip der Gerechtigkeit vermutlich das erste Mal manifestiert. Es deutet aber auch schon auf die Kenntnis von Ungleichgewichten hin, die als ungerecht empfunden werden und einen Ausgleich verlangen. „Man nimmt gewisse Störungen wahr, die sich überall und immer ergeben, und versucht, sie durch Korrektur in Ordnung zu bringen. Das Wissen um das Rechte ist gleichsam noch eingehüllt in das Wissen von vielen Einzelfällen, bleibt noch unabstrahiert“ (ebd. 108f). Die Abstraktion geht zumindest so weit, dass eine Gottheit für den Ausgleich sorgen wird. Ein Prinzip des Ausgleichs durch unsichtbare Hand ist angedeutet. Selbstorganisation hier hinein zu interpretieren, mag verfrüht erscheinen, aber die Gerechtigkeit dient dazu, ungleiche Verhältnisse wieder ins Lot zu bringen. Ein Zusammenhang zwischen aktuellem Leid und späterer Sühne des Verursachers ist ins Denken eingeführt. „Der Grieche empfindet bekanntlich immer so, daß der gesunde Zustand von etwas der Zustand der Ausgeglichenheit ist“ (ebd. 112). In dieser starren Rechtsauffassung und einem Ordnungsprinzip, das vom Ausgeglichenen als dem Besten ausgeht, kann der Geist der Griechen zusammengefasst werden. Das Mittlere ist das, welches angestrebt werden soll, weder das eine Extrem noch das andere ist für ihn richtig und daher auch uninteressant. So ist eine Grundauffassung für die kommenden Jahrtausende gelegt. Es ist das Prinzip des Gleichgewichts, das Mittlere oder meson. In der Selbstorganisation geht es aber um Ungleichgewicht und das daraus Ordnung entstehen kann, was für die Griechen vermutlich undenkbar gewesen wäre, obwohl sie selbst diesem Prinzip unterliegen. Die Ordnung, welche die Selbstorganisation entstehen lässt, ist eben dieser Gedanke des griechische Gleichgewichts.

[...]


[1] Die Begriffe Welt/Umwelt werden in den Ausführungen als Gegensatzpaar betrachtet. Welt steht für das innere Betrachten, die subjektive Sicht aus dem Menschen heraus. Umwelt steht für die objektive Außensicht, den Blick der Naturwissenschaften. Diese Unterscheidung wird im Laufe der Arbeit mehrmals zusammenbrechen. Sie wird vom Autor absichtlich eingefügt, um Unterschiede besser herauszuarbeiten. Sie kann bei Zitaten und Redewendungen nicht durchgehalten werden, da ansonsten der Sinn der Wendung und Zitate entstellt würde.

[2] Dieser Autor wird nicht weiter verwendet oder zitiert, da dessen ideologischen Hintergründe nicht sauber von den Tatsachen der Antike getrennt werden können.

[3] „to on“ heißt „sein“, substantiviert ergibt sich „das Seiende“. Der Begriff lebt auch heute noch weiter in der philosophischen Disziplin der Ontologie, der Lehre vom Sein.

[4] Siehe Emergenz im Teil 2.

[5] Siehe Fußnote 1.

[6] Siehe auch Chaos im Teil 2.

[7] Auch wenn R. Paslack hier sagt, dass die Erde (Gaia) unabhängig vom Chaos gesetzt wird, folge ich ihm nicht in seiner Auffassung. Für mich scheint laut dem Text das eine nach dem anderen zu entstehen, ohne das Chaos wäre demnach auch die Erde nicht entstanden. Eine einfache Kausalität ist m. E. bei den Mythen Hesiods wahrscheinlicher als eine Multikausalität. Siehe (Paslack, 30f).

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
Zur natürlichen Selbstorganisation - Vom Sein zum Werden
Hochschule
Hochschule für Philosophie München
Note
2,15
Autor
Jahr
2008
Seiten
93
Katalognummer
V152057
ISBN (eBook)
9783640639892
ISBN (Buch)
9783640640249
Dateigröße
775 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbstorganisation, Vorsokratiker, Naturphilosophie
Arbeit zitieren
Friedrich Stadler (Autor:in), 2008, Zur natürlichen Selbstorganisation - Vom Sein zum Werden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/152057

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Zur natürlichen Selbstorganisation - Vom Sein zum Werden



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden