Das Rumänische im Kontext der Balkansprachbund-Theorie

Vergleichende sprachwissenschaftliche Untersuchung des Rumänischen, Französischen, Spanischen und Italienischen im Hinblick auf gemeinhin als Balkanismen bezeichnete morphologische und syntaktische Eigenheiten des Rumänischen


Magisterarbeit, 2010

107 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung: Die Sonderstellung des Rumänischen innerhalb der Romania

2. Die rumänische Sprache und der Balkansprachbund
2.1 Begriffsdefinitionen
2.1.1 Zum Begriff „Sprachbund“
2.1.2 Die Balkansprachen
2.1.3 Zum Begriff „Balkansprachbund“
2.1.4 Die wichtigsten Merkmale des Balkansprachbunds nach Schaller
2.1.4.1 Die „primären Balkanismen“
2.1.4.2 Kritik am Terminus „Balkanismen“
2.2 Die Balkansprachbund-Theorie und ihre Entwicklung
2.2.1 Die Forschung vor Trubetzkoy
2.2.2 Trubetzkoys Sprachbundbegriff
2.2.3 Sandfeld
2.2.4 Die Balkansprachbund-Diskussion nach Sandfeld
2.3 Rumänisch – eine romanische Sprache als Mitglied des Balkansprachbunds

3. Vergleichende sprachwissenschaftliche Untersuchung: Balkanische Strukturen des Rumänischen in Morphologie und Syntax und die Äquivalenz entsprechender Strukturen im Französischen, Spanischen und Italienischen
3.1 Der nachgestellte bestimmte Artikel
3.1.1 Der bestimmte Artikel in den romanischen Vergleichssprachen
3.1.2 Die lateinische Basis des bestimmten Artikels im Rumänischen
3.2 Zusammenfall von Genitiv und Dativ
3.2.1 Archaische Flexionsmorpheme versus analytische Nominalflexion
3.2.2 Der Zusammenfall von Genitiv und Dativ – eine balkanische Struktur?
3.3 Die analytische Komparation
3.3.1 Parallele Strukturen in den romanischen Vergleichssprachen
3.3.2 Mögliche Erklärungen für die analytische Komparation in den Balkansprachen
3.3.3 Der Verlust der Suppletivformen im Rumänischen
3.4 Das Zahlsystem von 11 bis 19
3.4.1 Lateinischer Wortbildungstypus in den romanischen Vergleichssprachen
3.4.2 Slawische Beeinflussung des rumänischen Zahlsystems
3.5 Eingeschränkter Infinitivgebrauch
3.5.1 Die Bevorzugung finiter Konstruktionen im Rumänischen
3.5.1.1 Das Rumänische im Vergleich mit den romanischen Schwestersprachen
3.5.1.2 Die Ausprägung des Phänomens in den Balkansprachen
3.5.1.3 Der Einfluss des Griechischen
3.5.1.4 Die Unwahrscheinlichkeit lateinischen Einflusses
3.5.1.5 Infinitivschwund in süditalienischen Dialekten
3.5.1.6 Die Position des Rumänischen
3.5.2 Die Ausnahme „a putea“
3.6 Analytische Bildung des Futurs mit dem Hilfsverb „wollen“
3.6.1 Mögliche Futurbildungen im Rumänischen
3.6.2 Das Futur der romanischen Vergleichssprachen
3.6.3 Das analytische Futur mit „wollen“ - ein Balkanismus?
3.7 Verdopplung des Objekts
3.7.1 Kasuszeichen „pe“ + Substantiv: Verdopplung des Objekts im Rumänischen
3.7.2 „A + alguien“ - eine äquivalente Struktur im Spanischen?
3.7.3 Die mögliche Herkunft dieses syntaktischen Phänomens
3.8 Verwendung von Personalpronomen in der Funktion von Possessivpronomen
3.8.1 Der Dativ der Personalpronomen im Rumänischen versus Possessivpronomen in den romanischen Vergleichssprachen
3.8.2 Mögliche balkanische und romanische Einflüsse

4. Zwischenfazit

5. Zur Bedeutung der Balkansprachbund-Theorie in Bezug auf die untersuchten morphologischen und syntaktischen Phänomene
5.1 Das Vorhandensein entsprechender Strukturen auch in anderen romanischen Sprachen oder Dialekten
5.2 Uneinigkeit der Forschung über die Ursprünge vieler Balkanismen
5.2.1 Die Problematik der Unkenntnis früherer Sprachzustände der Balkansprachen
5.2.2 Die Balkanismen in der Diskussion
5.3 Der Einfluss des Lateins auf dem Balkan
5.3.1 Lateinischer versus griechischer Einfluss
5.3.2 Lateinische Elemente des Albanischen
5.3.3 Latein als Auslöser so genannter Balkanismen?
5.3.4 Begrenzung des lateinischen Einflusses durch das Slawische
5.4 Jahrhundertelanger Sprachkontakt zwischen den Balkansprachen
5.4.1 Die besondere Sprachsituation auf dem Balkan
5.4.2 Gemeinsamkeiten in der Syntax als Folge intensiven Sprachkontakts
5.4.3 Rumänisch-slawischer Sprachkontakt
5.4.4 Transhumanz als bedeutender Faktor

6. Schlussfolgerung: Berücksichtigung der lateinischen Wurzeln des Rumänischen bei der Betrachtung seiner balkanischen Strukturen

7. Zusammenfassung

8. Literaturangaben

1. Einleitung: Die Sonderstellung des Rumänischen innerhalb der Romania

Das Rumänische nimmt unter den romanischen Sprachen eine Sonderstellung ein – dies ist in der Romanistik unumstritten. Wie seine romanischen Schwestersprachen entwickelte sich das Rumänische aus dem Lateinischen. Das Rumänisch der Gegenwart, dessen Ursprünge in jener Variante des Vulgärlateinischen liegen, das während der römischen Herrschaft in der Provinz Dakien „gesprochen wurde, hat [...] seinen grundlegend romanischen Charakter bis heute bewahrt, unterscheidet sich aber in einer Reihe grammatischer und lexikalischer Erscheinungen von allen anderen romanischen Sprachen.“[1]

Diese Sonderstellung des Rumänischen erklärt sich dadurch, dass die rumänische Sprache sprachgeographisch gesehen keinen Kontakt mit ihren romanischen Schwestersprachen hat. Der Sprachraum, in dem Rumänisch gesprochen wurde und wird, liegt vom Rest der Romania isoliert. Dies bedeutet, dass das rumänische Sprachgebiet geographisch nicht von Sprachen derselben Sprachfamilie umgeben wird, sondern in einen Kranz nichtromanischer Sprachen eingebettet ist.

So behielt das Rumänische im Gegensatz zu den anderen romanischen Sprachen zum einen archaische Formen des Lateins bei und verarbeitete zum anderen im Laufe der Jahrhunderte die Einflüsse der umliegenden Sprachen der Balkanstaaten. Diese Sonderstellung des Rumänischen innerhalb der Romania macht es für sprachwissenschaftliche Untersuchungen besonders interessant.

Als Mitglied des so genannten Balkansprachbunds – mehr zu dieser Theorie im Verlauf der Arbeit – besitzt das Rumänische nämlich einige syntaktische und morphologische Eigenschaften, die es mit mehreren Balkansprachen (wie zum Beispiel dem Bulgarischen oder Albanischen) gemeinsam hat und die es – auf den ersten Blick – von den übrigen romanischen Sprachen unterscheiden. Diese syntaktischen und morphologischen Eigenheiten, die im Rahmen der Balkansprachbund-Theorie gemeinhin als Balkanismen bezeichnet werden, sollen im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen.

Das Rumänische soll im Kontext des Balkansprachbunds im Hinblick auf seine balkanischen Strukturen untersucht werden, oder, genauer gesagt, im Hinblick auf jene Strukturen, die gemeinhin als balkanische Strukturen angesehen werden. Betrachtet man nämlich die so genannten Balkanismen, die dem Rumänischen innewohnen, genauer, und betrachtet man sie vor allem mit den Augen eines Romanisten anstatt eines Balkanologen, stellt sich unweigerlich die Frage, ob man in Bezug auf das Rumänische das Konstrukt des Balkansprachbunds überhaupt benötigt, um die unter ihm aufgeführten Phänomene zu erklären.

In dieser Untersuchung, die eine sprachvergleichende Untersuchung ist, sollen die auffälligsten morphologischen und grammatischen Strukturen des Rumänischen, die es mit anderen Balkansprachen gemeinsam hat, einzeln analysiert werden, wobei der Frage nachgegangen werden soll, ob es unbedingt nötig ist, auf die Theorie des Balkansprachbunds zurückzugreifen, wenn man diese als Balkanismen bezeichneten Merkmale des Rumänischen aus der Sicht eines Romanisten erklären will. Liegen eindeutig balkanische Beeinflussungen vor oder lassen sich bestimmte Merkmale vielleicht auch aus dem Rumänischen selbst und seiner Herkunft aus dem Lateinischen erklären?

Hilfreich wird dabei der Vergleich mit den romanischen Schwestersprachen Französisch, Spanisch und Italienisch sein, um herauszufinden, was die jeweils „romanische“ Äquivalenz der jeweils zu untersuchenden Struktur des Rumänischen ist. Auch den süditalienischen Dialekten soll Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sie – wie das Rumänische – der Ostromania zuzurechnen sind und vielerlei Übereinstimmungen und interessante Parallelen mit der rumänischen Sprachstruktur aufweisen, gerade was das Vorhandensein der so genannten Balkanismen des Rumänischen angeht.

Es soll betont werden, dass es in dieser Arbeit keineswegs darum gehen soll, die – in der Balkanologie durchaus nicht unumstrittene – Balkansprachbund-Theorie in Frage zu stellen. Dies ist nicht das Ziel und die Aufgabe einer romanistischen Arbeit. Vielmehr soll das Rumänische als Mitglied der romanischen Sprachfamilie und als Mitglied des Balkansprachbunds im Hinblick auf einige syntaktische und morphologische Eigenheiten, die es mit anderen Balkansprachen gemeinsam hat, untersucht werden.

Die Vergleichssprachen sind in der vorliegenden Untersuchung natürlich nicht die Balkansprachen, sondern die genannten romanischen Sprachen, um mit dem Auge eines Romanisten die mögliche Herkunft dieser Eigenheiten zu untersuchen und sich die Frage zu stellen, ob diese – für das Rumänische – auch erklärbar wären, ohne die Balkansprachbund-Theorie zu Rate zu ziehen.

Die Arbeit soll somit eine detailliertere Sichtweise auf die Strukturen des Rumänischen eröffnen, die – betrachtet man sie im Kontext mit den parallelen Strukturen anderer balkanischer Nachbarsprachen – gemeinhin als balkanisch bezeichnet werden.

Zur Gliederung der Arbeit: Im theoretischen Teil soll zunächst eine Definition der wichtigsten Begriffe wie „Sprachbund“ und „Balkansprachbund“ gegeben werden, da sie für das weitere Verständnis der Untersuchung von großer Wichtigkeit sind. Ferner folgt ein kurzer Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Balkansprachbund-Theorie und über die von ihr beschriebenen so genannten Balkanismen, um eine theoretische Grundlage für die sich anschließende sprachvergleichende Untersuchung anhand eines Textcorpus zu schaffen.

Außerdem soll nötiges Hintergrundwissen über die rumänische Sprache als Mitglied des Balkansprachbunds zusammengetragen werden, denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass man eine Sprache nicht nur als Mitglied ihrer Sprachfamilie, sondern auch als Mitglied eines Sprachbunds ansehen kann. Keine andere romanische Sprache geht mit nichtverwandten, geographisch benachbarten Sprachen einen Sprachbund ein, was uns wieder die Sonderstellung des Rumänischen innerhalb der Romania bewusst macht.

Das Textcorpus für den sprachvergleichenden Teil der Arbeit besteht aus Tageszeitungen der jeweiligen Sprachen: „Le Monde“ (Französisch), „El País“ (Spanisch), „Corriere della Sera“ (Italienisch) und „România liberă“ (Rumänisch)[2]. Aus diesem Textcorpus sollen jeweils die Beispiele für die zu untersuchenden syntaktischen oder morphologischen Merkmale stammen. Eine quantitative Auswertung wird im Rahmen dieser Arbeit nicht stattfinden, vielmehr sollen anhand des Sprachvergleichs charakteristische Beispiele für jedes der betrachteten Phänomene gegeben werden. Mit Hilfe der Forschungsliteratur gehen wir – wo möglich – den Entstehungsursachen der untersuchten Phänomene auf den Grund, um der Beantwortung der Frage näher zu kommen, ob die Strukturen des Rumänischen, die die Balkansprachbund-Theorie als Balkanismen bezeichnet, nicht auch ohne Zuhilfenahme der Balkansprachbund-Theorie, sondern allein aus dem Rumänischen und seiner Abstammung aus dem Lateinischen heraus erklärt werden können.

Im Anschluss an die sprachvergleichende Untersuchung der einzelnen Phänomene soll eine zusammenfassende Reflexion die Pro- und Contra-Argumente darlegen, die der Sprachvergleich Rumänisch-Französisch-Spanisch-Italienisch geliefert hat, und dadurch eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage eruieren.

2. Die rumänische Sprache und der Balkansprachbund

2.1 Begriffsdefinitionen

2.1.1 Zum Begriff „Sprachbund“

Betrachtet man das Rumänische im Kontext des Balkansprachbunds, ist es nötig, zuerst eine Definition des Begriffs „Sprachbund“ vorzunehmen. Einem Romanisten mag dieser Begriff nicht unbedingt geläufig sein, da es auf dem Gebiet der romanischen Sprachwissenschaft eine solche Situation, die den Begriff „Sprachbund“ erforderte, nicht gibt – außer natürlich in Bezug auf das Rumänische. Wie eingangs erwähnt, ist nämlich allein das Rumänische nicht nur Teil der romanischen Sprachfamilie, sondern auch Mitglied eines so genannten Sprachbunds. In der Sprachwissenschaft ist ein Sprachbund die

Bezeichnung für Gruppen geographisch benachbarter Sprachen, die sich, auch ohne daß zwischen ihnen eine genetische Verwandtschaft zu bestehen braucht, durch auffällige Übereinstimmung im grammatischen Bau auszeichnen und sich durch dieselben Gemeinsamkeiten von im weiteren Umkreis gesprochenen Sprachen abheben.[3]

Es handelt sich also um Sprachen, die genetisch nicht miteinander verwandt sind oder zumindest nicht sein müssen, die sich aber in manchen morphologischen und syntaktischen Eigenschaften gleichen. Seitdem der Begriff „Sprachbund“ von Trubetzkoy 1928 eingeführt wurde[4], ist er „zu einem geläufigen Begriff in der Sprachwissenschaft geworden.“[5]

Als Voraussetzung für die Entstehung eines Sprachbunds werden „langdauernde Zustände von Sprachkontakt“[6] angeführt. Der Begriff Sprachkontakt, der in Bezug auf die Definition des Sprachbunds eine wichtige Rolle spielt, bezeichnet das „Aufeinandertreffen zweier oder mehrerer Sprachen meist durch geographische Nachbarschaft ihrer Sprecher.“[7] Dies ist ein völlig natürlicher Vorgang, denn „Sprachen existieren nicht als sich selbst genügende Systeme, sie werden für Kommunikation und Kognition eingesetzt, und in beiden Funktionen ist es ganz normal, daß Sprecher mit fremden sprachlichen Systemen in Kontakt kommen.“[8]

Es ist unabdinglich, sich die Unterschiede zwischen einer Sprachfamilie und einem Sprachbund vor Augen zu führen: Eine „Bedingung für die sinnvolle Verwendung des Begriffs Sprachbund ist [...], dass die betreffenden Eigenschaften nicht ohnedies aus der „Erbmasse“ aller beteiligten Sprachen ableitbar sind.“[9] Die von einem Sprachbund beschriebenen Übereinstimmungen zwischen zwei oder mehr Sprachen dürfen also nicht genetisch bedingt sein. Sprachen wie Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Italienisch können deshalb trotz ihrer Gemeinsamkeiten und geographisch benachbarter Lage keineswegs unter dem Begriff Sprachbund zusammengefasst werden, da sich ihre grammatischen und sonstigen Gemeinsamkeiten ja aus der Ursprungssprache aller romanischen Sprachen, dem Lateinischen beziehungsweise dem Vulgärlateinischen, entwickelt haben.

Sprachkontakt zwischen nichtverwandten Sprachen ist also ein wichtiges Kriterium für die Definition des Sprachbundbegriffs: „Das Postulat der Kontaktverwandtschaft zwischen zwei [...] Sprachen impliziert [...], daß Beziehungen gegeben sein müssen und daß sie relativ geringer sind als die Beziehungen einer der beiden Sprachen mit einer beliebigen genetisch verwandten Sprache.“[10]

Der Begriff Sprachbund kam in der Forschung erst in viel jüngerer Zeit auf als der Begriff Sprachfamilie[11] und wurde, obwohl Schaller ihn als „einen wichtigen terminologischen und sprachwissenschaftlichen Fortschritt bei der Betrachtung von Sprachgruppen“[12] bezeichnet, von vielen Sprachwissenschaftlern durchaus mit Skepsis bedacht: Denn „um zu wissen, daß einander benachbarte Sprachen aufeinander abfärben, korrekt gesagt, Menschen im Kontakt auch sprachlich einander beeinflussen, braucht man den Begriff „Sprachbund“ nicht.“[13] Reiter erklärt, warum der Sprachbundbegriff überhaupt zusätzlich zum bekannten Begriff der Sprachfamilie eingeführt wurde: „Er ist eine Ermahnung an die Gelehrten, Sprachliches nicht ausschließlich genetisch zu begreifen, sondern in Betracht zu ziehen, daß es Gemeinsamkeiten auch nichtgenetischer Ursache gibt.“[14]

Voraussetzung für die Entstehung von Sprachkontakt, der unter Umständen zur Entstehung eines Sprachbundes führen kann, ist, „daß Kommunikation über die Grenzen der jeweiligen einzelnen Sprachgemeinschaft hinweg erfolgt.“[15] Dies ist der Fall beim so genannten Balkansprachbund, mit dem wir uns noch genauer befassen werden.

Des weiteren wird definiert: „Ein Sprachbund weist mindestens zwei gemeinsame Merkmale auf, die sich auf mindestens drei nicht zur gleichen Familie gehörende Sprachen erstrecken, um genetisch bedingten Ursprung oder einseitige Beeinflussung [...] auszuschließen.“[16] Die Sprachen des Balkans erfüllen diese Voraussetzung, denn sie gehören verschiedenen Sprachfamilien an und haben keinen gemeinsamen Erbwortschatz, drücken aber dennoch einige grammatische Funktionen in gemeinsamer Art und Weise aus. Überhaupt wird der Balkansprachbund in der Forschung als „typisches Beispiel“[17] für einen Sprachbund angeführt. Es existieren weitere Sprachbünde in Süd- und Zentralasien sowie im Südkaukasus.[18] Stolz führt als Beispiel auch den „Charlemagne Sprachbund“[19], dem das Französische, Deutsche und Niederländische zuzuordnen seien, sowie den „Mediterranean Sprachbund“[20] an, zu welchem er „all Circum-Mediterranean languages and some other languages of the hinterland“[21] zählt.

Über die Ursachen, die zur Entstehung eines Sprachbunds führen können, ist wenig bekannt, und so fasst Miklas kritisch zusammen:

Es hat sich gezeigt, daß trotz der bedeutenden Belebung, die die Sprachbundforschung in den letzten Jahren erfuhr, eine akzeptable Definition des Sprachbundes noch nicht gefunden ist. [...] Bevor man sich erneut an eine Definition des Phänomens Sprachbund heranwagt, wird es nötig sein, die verschiedenen Möglichkeiten seiner Entstehung zu durchleuchten[22].

Bevor wir uns nun detaillierter mit der Theorie des Balkansprachbunds vertraut machen, soll ein Überblick über die Sprachen gegeben werden, die an ihm beteiligt sind.

2.1.2 Die Balkansprachen

Die Balkansprachen sind eine „Gruppe genetisch nur mittelbar verwandter Sprachen im Balkanraum“[23], die durch „auffällige Gemeinsamkeiten im grammatischen Bau“[24] gekennzeichnet sind. In der Forschung gab es mitunter Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Sprachen als Balkansprachen zu bezeichnen seien und welche nicht. Die Komplexität dieses Problems wird offensichtlich, wenn man sich bewusst macht, dass nicht einmal der Begriff Balkan eindeutig zu definieren ist. Der Balkanraum „läßt sich weder in geographischer noch in soziopolitischer oder kulturhistorischer Hinsicht eindeutig von Mittel- und Osteuropa abgrenzen.“[25]

Der geographische Begriff „Balkan“ bezeichnet „nur die Bergkette der Stara Planina quer durch Bulgarien.“[26] In historischer und politischer Hinsicht „läßt sich der Balkan nicht eindeutig von dem Großraum Südosteuropa trennen. Die Einflüsse Ungarns, Kroatiens und Rumäniens auf den balkanischen Raum und umgekehrt sind viel zu stark, um hier eine Trennungslinie ziehen zu können.“[27] Laut Weithmann verstehen sich heute Bulgarien, Albanien, Serbien, Bosnien, Montenegro und Mazedonien „offiziell als Balkanstaaten“[28], während die Griechen sich „generell lieber als Mittelmeeranrainer“[29] sehen und die Rumänen ihr Territorium lieber „Karpatenraum“[30] nennen.

Die Balkanhalbinsel zeichnet sich durch eine ethnische Vielfalt aus, die „in prähistorischen Epochen nicht geringer als in historischen Zeiten“[31] war. In vorrömischer Zeit wurde auf dem Balkan unter anderem thrakisch, dakisch, illyrisch, paionisch und dardanisch gesprochen[32], wobei laut Solta „Die wichtigste Sprache der alten Balkanhalbinsel“[33] das Thrakische war.

Als Balkansprachen „ersten Grades“[34], also als Sprachen, die die meisten auffälligen Übereinstimmungen, Balkanismen genannt, teilen, bezeichnet Schaller das Rumänische, das Bulgarische, das Mazedonische und das Albanische.[35] Solta unterscheidet zwischen einer „Kern- und Randzone“[36] und nimmt folgende Einteilung vor: „Die echten Balkansprachen sind Albanisch, Rumänisch [...], Bulgarisch (Mazedonisch) und, nach Meinung vieler Forscher, auch Neugriechisch.“[37] Das Mazedonische wird von ihm in Klammern gesetzt, da es erst seit 1944 als offizielle Schriftsprache anerkannt ist.[38] Es ist eine südslawische Sprache, die eine „Zwischenstellung zwischen Serbisch und Bulgarisch einnimmt.“[39] Allgemein ist anzumerken, dass zwischen den südslawischen Sprachen „keine scharfen Grenzen“[40] gezogen werden können.

Ob das Neugriechische, bei dem es sich ja bekanntermaßen „um einen selbständigen Zweig des Indogermanischen“[41] handelt, als typische Balkansprache angesehen werden sollte, ist umstritten. Schaller bezeichnet es als Balkansprache „zweiten Grades“. Fest steht nur, dass das Griechische „bei der Ausbildung der sog. Balkanismen zweifellos eine entscheidende Rolle spielte.“[42] Es gilt als wichtiger Einflussfaktor auf der Balkanhalbinsel, besonders in deren südlicher Hälfte, und teilt einige der zu behandelnden Phänomene mit den Balkansprachen „ersten Grades“. Als Balkansprache wird das Neugriechische jedoch „nicht voll anerkannt“.[43]

Das Serbokroatische – eine „Slavische Sprache des südslavischen Zweigs“[44] – weist gewisse Gemeinsamkeiten mit den Balkansprachen auf, wird aber selbst nicht als solche bezeichnet. Vor allem die „serbischen Übergangsdialekte zum Bulgarischen hin, nämlich das Torlakische mit dem Timoker Dialekt und dem Süd-Morava-Dialekt“[45], haben jedoch etliche Gemeinsamkeiten mit dem Bulgarischen, die „zur Kategorie der Balkanismen zu rechnen sind.“[46] Diese dialektalen Unterschiede innerhalb der Sprache machen eine Einordnung des Serbokroatischen recht kompliziert, im allgemeinen gilt es jedoch nicht als typische Balkansprache.

Auch das Türkische ist keine Balkansprache, auch wenn die türkische Epoche

zu den großen Perioden unifizierender Tendenz [gehört], wie sie auf der Balkanhalbinsel wirksam gewesen sind. Vorher haben Slavenherrschaft, die kulturelle Macht des Byzantin. Reiches bzw. die byzantin. Kirche und noch früher die Römerherrschaft in vergleichbarem Sinne gewirkt.[47]

Auch Sandfeld verweist auf den Einfluss des Türkischen auf der Balkanhalbinsel, stellt aber fest, dass das Türkische sich als Turksprache völlig von den Balkansprachen unterscheidet: „il en diffère aussi totalement pour ce qui est de la structure linguistique.“[48] Die Bedeutung des türkischen Einflusses schlägt sich vor allem in der Lexik nieder: „Für die Balkansprachen ist das Türkische von großer Bedeutung, weil es diese zumindest im Bereich der Lexik stark beeinflußt hat.“[49]

Das Albanische, das „im Laufe seiner Geschichte starke Interferenzen“[50] seitens des Griechischen, Slawischen, Türkischen und vor allem des Lateinischen erfahren hat, bezeichnet Solta als eine balkanische Sprache „sui generis.“[51] Er fordert, das Albanische solle „nicht unter den Begriff des „Balkanlateins“ subsumiert werden, so wichtig (und konstitutiv) dieser romanische Beitrag auch geworden ist.“[52]

Auch wenn sich die Forscher nicht ganz einig sind, können wir zusammenfassen, dass als Balkansprachen gemeinhin das Rumänische, das Bulgarische, das Mazedonische und das Albanische angesehen werden. Als wichtiger Einflussfaktor ist ferner das Griechische zu beachten.

2.1.3 Zum Begriff „Balkansprachbund“

Der Terminus Balkansprachbund ist also, wie schon erwähnt, die „Übergreifende Bezeichnung für eine durch auffällige Gemeinsamkeiten im grammatischen Bau gekennzeichnete Gruppe genetisch nur mittelbar verwandter Sprachen im Balkanraum.“[53] Bei der Entstehung des Balkansprachbunds wird jahrhundertelangerer Sprachkontakt und Transhumanz[54] angenommen: Der Balkansprachbund „is indicative of the frequent contact situations that occured among the languages of the Balkan peninsula, including Rumanian and Slavic.“[55] Der Beginn dieses Sprachkontakts – was die Entwicklung des Rumänischen betrifft – liegt etwa im 5. Jahrhundert nach Christus: „The first contacts between Common Rumanian and Slavic occured from approximately the fifth century AD onward, when Slavic tribes left north central Europe and occupied earlier Roman territory on both sides of the Danube.“[56]

Zum Balkansprachbund gehören laut Schaller das Rumänische, das Bulgarische, das Albanische und das Mazedonische[57], da sich diese Sprachen in bestimmten morphologischen und syntaktischen Eigenschaften ähneln. Der Terminus „Balkansprachbund“ ist laut Haarmann

ein Pauschalbegriff, der [...] auf eine Sprachlandschaft verweist, die sich über weite Gebiete Südosteuropas erstreckt. Der Balkansprachbund ist der älteste bekannte, am frühesten erforschte Bund und gleichzeitig die am wenigsten umstrittene areale Sprachgruppe überhaupt.[58]

In dieser Aussage ist schon zu erkennen, dass der Balkansprachbund nicht unumstritten ist, wenn auch der am wenigsten umstrittene und angezweifelte Sprachbund.[59] Diese Tatsache ist für unsere Frage nach der Bedeutung des Balkansprachbunds für die gemeinhin als Balkanismen bezeichneten Eigenschaften des Rumänischen nicht unwichtig. Denn die Aufgabe dieser Arbeit wird es sein, zu untersuchen, ob jene Eigenschaften auch ohne Zuhilfenahme der Balkansprachbund-Theorie zu erklären sind. Daher ist es wichtig zu wissen, welche Argumente gegen die Balkansprachbund-Theorie schon von der Forschung vorgetragen wurden. Auch wenn hier nicht der Balkansprachbund direkt angezweifelt werden soll, geben die Argumente der Gegner doch Aufschlüsse, die uns bei der Untersuchung der „Balkanismen“ des Rumänischen dienlich sein können. Die Hauptargumente der Gegner der Balkansprachbund-Theorie fasst Sobolev zusammen:

The main objections against the theory of the Balkan Sprachbund and the notion of Balkanism are the following: 1) Balkanisms are not unique; 2) their distribution in the Balkan languages is not uniform; 3) their linguistic status varies; 4) the Balkan languages do not represent a unified language type.[60]

Diese Einwände sollten wir im Hinterkopf behalten, da sie im weiteren Verlauf der Arbeit noch eine Rolle spielen werden. Es bleibt festzuhalten, dass der Balkansprachbund trotz einiger Kritik einen relativ gefestigten Status in der Sprachwissenschaft einnimmt: „die Existenz dieses sprachlichen Arealtyps mit seinen strukturtypischen Parallelen in verschiedenen genetisch nicht verwandten benachbarten Sprachen wird [...] grundsätzlich anerkannt.“[61]

Anerkannt wird der Balkansprachbund vor allem deshalb, weil es selten vorkommt, dass Sprachen, die miteinander in Kontakt stehen, ihre Struktur verändern. Der Sprachkontakt bleibt normalerweise auf den Wortschatz begrenzt und erstreckt sich nicht, wie im Falle der Balkansprachen, auch auf Morphologie und Syntax. Wie Solta festhält, ist es „eine längst beobachtete Erscheinung, daß morphologische Beeinflussungen das sprachliche System berühren und tiefgreifender sind als Affektionen in anderen Sparten der Grammatik.“[62] Der Balkansprachbund wird somit zu einem Prototyp des Sprachbunds und lässt die relativ junge Disziplin der Balkanlinguistik entstehen:

Die wissenschaftliche Voraussetzung für die Berechtigung der Balkanlinguistik als selbständiger Disziplin liegt darin, daß es auch eine Kontaktverwandtschaft gibt, die über die Lehnbeziehungen auf dem Gebiete des Wortschatzes hinaus, die allenthalben vorkommen, doch zu tieferliegenden Ähnlichkeiten bzw. Entsprechungen auf dem Gebiete der Lautlehre, Morphologie und Syntax führen kann.[63]

Die Entstehung des Balkansprachbunds wird von den Befürwortern kurz gefasst mit der geographischen Nachbarschaft der betreffenden Sprachen, mit dem jahrhundertelangen intensiven Sprachkontakt und mit der „Adstratwirkung des Griechischen und Lateinischen“[64] erklärt. Dadurch sei es zu einer „Annäherung der sprachlichen Strukturen der verschiedenen Balkansprachen“[65] gekommen. Außerdem schreibt Schaller: „Die gemeinsamen Eigenschaften der nichtslawischen Balkansprachen, die sie auch mit den südslawischen Balkansprachen verbinden, können entweder auf ein gemeinsames Substrat oder auf gegenseitige Beeinflussung zurückgeführt werden.“[66]

Im Folgenden sollen die Balkanismen, also die wichtigsten grammatischen Merkmale, die den Balkansprachbund ausmachen, im Zentrum der Untersuchung stehen.

2.1.4 Die wichtigsten Merkmale des Balkansprachbunds nach Schaller

2.1.4.1 Die „primären Balkanismen“

Der Balkansprachbund enthält Balkanismen unterschiedlichen Ursprungs, die sich auf den morphologischen, syntaktischen oder phonologischen Bereich der betreffenden Sprachen beziehen. Zu den „primären Balkanismen“, die allesamt auch im Rumänischen vorkommen und im Zentrum dieser Untersuchung stehen werden, rechnet Schaller den nachgestellten bestimmten Artikel, den Zusammenfall von Genitiv und Dativ, die analytische Komparation, das Zahlsystem von 11 bis 19, den eingeschränkten Infinitivgebrauch, die analytische Bildung des Futurs mit dem Hilfsverb „wollen“, die Verdopplung des Objekts sowie die Verwendung von Personalpronomen in der Funktion von Possessivpronomen.[67]

Diese Einteilung[68] ist in der Balkanlinguistik allgemein anerkannt, auch wenn es andere Definitionen gibt, die eine leicht abweichende Einteilung vornehmen.[69] Hier liegt eine der Schwachstellen der Balkansprachbund-Theorie: Eine exakte Definition des Terminus „Balkanismus“ gibt es ebenso wenig wie eine exakte Definition von „Balkan“ oder „Balkansprache“.

2.1.4.2 Kritik am Terminus „Balkanismus“

Es muss festgehalten werden, dass die Definition des Begriffes „Balkanismus“ gewissermaßen eine tautologische ist:

Eine strenge Definition des Begriffs „Balkanismus“ würde eine Definition von „Balkansprache“ voraussetzen; da aber eine Balkansprache wiederum nur durch eine Menge von Balkanismen charakterisiert werden kann, würde sich der Kreis auf diese Weise schließen.[70]

Auch andere Forscher kritisieren die Definition von Balkansprachen als Sprachen, die Balkanismen besitzen und die Definition von Balkanismen als Merkmale von Balkansprachen.[71] Für unsere Arbeit ist es auch wichtig zu wissen, dass „sich die Gelehrten über die Entstehungsursachen der Interferenzen, auch „Balkanismen“ genannt, keineswegs einig sind.“[72] Außerdem halten wir fest: „Die für die Balkansprachen als typisch geltenden Erscheinungen, die sogen. Balkanismen also, sind auch außerhalb des Balkans anzutreffen“[73]. Mehr dazu werden wir im weiteren Verlauf dieser Arbeit erfahren.

2.2 Die Balkansprachbund-Theorie und ihre Entwicklung

2.2.1 Die Forschung vor Trubetzkoy

Unter diesem Punkt soll ein kurzer Überblick ohne Anspruch auf Vollständigkeit darüber gegeben werden, wie die Balkansprachbund-Theorie entstand und wie sie im Laufe der Forschungsgeschichte behandelt wurde. Vor dem Hintergrund unserer Frage, ob die im Rumänischen vorhandenen „Balkanismen“ auch ohne die Balkansprachbund-Theorie erklärt werden können, muss zunächst noch etwas theoretisches Hintergrundwissen zusammengetragen werden, bevor wir uns dem praktischen Teil der Untersuchung widmen.

Der Slawist Kopitar entdeckte als erster grammatikalische Gemeinsamkeiten der Balkansprachen. Haarmann hält fest: „Bereits 1829 beobachtete der slovenische Philologe Kopitar, daß das Rumänische, Albanische und Bulgarische eine Sprachform, allerdings mit dreierlei Sprachmaterie repräsentieren.“[74] Kopitar kam zu der Überzeugung, „that the languages spoken south of the Danube have analoguos forms expressed through 'different language material'“.[75]

Diese Einschätzung ist natürlich viel zu einfach angesichts der Komplexität der Verhältnisse im Balkanraum: „Die Homogenität der sogen. Balkanismen, wie sie Kopitar im ersten, verständlichen Überschwang ihrer Entdeckung suggeriert hat, ist nämlich in vielen Fällen gar nicht vorhanden.“[76]

Trotzdem war Kopitar gewissermaßen der erste Forscher auf dem Gebiet der noch nicht existierenden Balkanlinguistik, denn

Die Annahme einer Balkanlinguistik setzt voraus, daß die Balkansprachen gewisse Züge gemeinsam haben, die es nicht nur im Rahmen der Einzelsprache, sondern auch im Hinblick auf die Vergleichung mit Ähnlichem in den benachbarten Sprachen zu behandeln gilt.[77]

Der Slawist Miklosich beschäftigte sich einige Jahre später mit Kopitars Untersuchungen und stellte 1861 „einen Katalog von insgesamt acht typischen Eigenschaften der Balkansprachen“[78] auf. Miklosich „singled out a number of distinct common features of the languages“[79], zum Beispiel den Verlust des Infinitivs und den nachgestellten bestimmten Artikel. Für die weitere Forschung auf dem Gebiet der Balkanlinguistik wird Trubetzkoys Sprachbundbegriff unabdinglich.

2.2.2 Trubetzkoys Sprachbundbegriff

Trubetzkoy war ein Vertreter der Prager Schule, also einer linguistischen „Schule, die sich durch eine funktional-strukturelle Betrachtungsweise der Sprache auszeichnet“[80] und die als „Reaktion auf den Positivismus in der Sprachwissenschaft“[81] entstand. Der Strukturalist Trubetzkoy erfand 1926 den Begriff des Sprachbunds für benachbarte, genetisch nicht verwandte, sich aber in syntaktischen und morphologischen Eigenschaften gleichende Sprachen.

Seine Erfindung sorgte für Aufruhr unter den Sprachwissenschaftlern, denn bis dahin kannte man nur den Begriff der Sprachfamilie, dem Trubetzkoy nun den des Sprachbunds entgegensetzte:

Als TRUBETZKOY 1928 die im Haag versammelten Linguisten mit dem „Sprachbund“ konfrontierte, hat er nicht einfach nur zu einer anderen als der damals vorherrschenden Sichtweise sprachlicher Tatbestände eingeladen, er hat die gelehrte Welt vielmehr in erhebliche Unruhe gestürzt, ja er hat sie gespalten. Dieser Zustand dauert eigentlich bis heute an.[82]

Bisher herrschte die Auffassung, dass „Übereinstimmungen der genannten Art zwischen Sprachen immer auf genetische Verwandtschaft, auf die Abstammung aus einer Wurzel, deuten“[83]. Trubetzkoy legte nun „eine radikal andere Auffassung vor“[84], indem er Sprachen, die keinen gemeinsamen Erbwortschatz besitzen, aber grammatikalische Funktionen in gemeinsamer Weise ausdrücken und „remarkably similar in sentence-structure and word-formation“[85] sind, unter dem Begriff Sprachbund zusammenfasste.

Dabei war man schon Ende des 19. Jahrhunderts auf die Bedeutung des Sprachkontakts gestoßen, wie es Boretzky zusammenfasst:

Bereits Ende des vorigen Jahrhunderts war man darauf aufmerksam geworden, daß sich unverwandte Sprachen durch ständigen Kontakt und wechselseitige Beeinflussung einander so anähneln können, daß sie u. U. durch mehr gemeinsame Merkmale verbunden sind als genetisch miteinander verwandte Sprachen. Wenn diese gegenseitige Annäherung ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat, spricht man mit Trubetzkoy von Sprachbund. [86]

Der Balkansprachbund stand von Anfang an im Mittelpunkt der Sprachbundforschung, da er, wie schon erwähnt, als Prototyp eines Sprachbunds gilt. Natürlich stellte man sich sogleich die Frage, wie denn solch ein Sprachbund, wie ihn Trubetzkoy definiert, entstehen konnte. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein vermuteten die Forscher, dass der Balkansprachbund aufgrund des Einflusses eines „ancient substrate“[87] zustande kam. Der Einfluss einer frühen Balkansprache wurde also angenommen. Zur Debatte standen das Thrakische, das Dakische und das Illyrische. Von diesen alten Sprachen ist jedoch viel zu wenig bekannt, als dass man überprüfen könnte, ob in ihnen Merkmale vorhanden waren, die zur Entstehung der strukturellen Gemeinsamkeiten der modernen Balkansprachen hätten führen können. Von einflussreichen Völkern, die zeitweise die Balkanregion beherrschten, ist heute kaum noch etwas bekannt, was ihre Sprachen angeht. Als Beispiel denke man nur an die Hunnen, über deren Sprache „praktisch nichts bekannt“[88] ist. Man weiß nicht einmal, welcher Sprachfamilie das Hunnische zuzurechnen ist.[89] Bei der Bildung der rumänischen Sprache spielte ohne Zweifel das „autochthone thrakisch-dakische Substrat“[90] eine wichtige Rolle, nicht jedoch für die Bildung jener Phänomene, die im Kontext der Balkansprachbund-Theorie als Balkanismen bezeichnet werden.

Inzwischen steht fest: Die meisten der besagten Merkmale des Balkansprachbunds „developed in the post-Byzantine period“[91], also nach dem 6. Jahrhundert nach Christus. Es ist somit unwahrscheinlich, dass nach so langer Zeit noch der Einfluss einer alten, nicht mehr existierenden Sprache wirken konnte.

Sandfeld, der nächste wichtige Forscher auf dem Gebiet der Balkanlinguistik, wird eine andere Theorie zur Entstehung des Balkansprachbunds aufstellen: den Einfluss des Griechischen.

2.2.3 Sandfeld

Sandfeld, ein Vertreter der historischen Sprachwissenschaft, veröffentlichte 1930 die „Linguistique balkanique“, eine Studie, die lange als Standardwerk der Balkanlinguistik galt. Sandfelds Forschungsergebnisse haben – sieht man von einigen Ausnahmen ab – „auch heute noch ihre Bedeutung behalten“.[92]

Sein Verdienst ist es, die erste Gesamtschau in Bezug auf die Merkmale und Gemeinsamkeiten der Balkansprachen publiziert und somit die balkanischen Sprachen für die Wissenschaft interessant gemacht zu haben: „K. Sandfeld faßte 1930 die bisherigen Ergebnisse kritisch zusammen und begründete mit seiner Studie die Balkanologie (bzw. Balkanlinguistik) als linguistische Teildisziplin.“[93] (Die Balkanlinguistik beschäftigt sich seitdem „mit den sprachwissenschaftlichen Fragen, die die Gesamtheit der Balkansprachen, gegebenenfalls auch nur zwei oder drei Balkansprachen betreffen.“[94] )

Gleichzeitig war die Diskussion über Trubetzkoys Sprachbundbegriff in vollem Gange, da viele Sprachwissenschaftler

ihre Wissenschaft nicht anders als genetisch betreibbar sich vorstellen konnten. Die heftigste Kritik wurde [...] in den 30er Jahren laut, ziemlich unmittelbar im Anschluß an die Veröffentlichung der französischen Fassung von Sandfelds Buch. Das war die Zeit, da die vornehmlich von der Prager Schule vorgetragenen strukturalistischen Überlegungen noch kaum Anhänger gefunden hatten.[95]

In seiner von der diachronen Sichtweise geprägten Studie stellt Sandfeld Überlegungen zu den Balkansprachen und ihren strukturellen Ähnlichkeiten an. Es sind Überlegungen, die recht gut mit Trubetzkoys synchroner Definition des Sprachbundbegriffs harmonieren. Sandfeld schreibt, dass die Balkansprachen solche Gemeinsamkeiten aufwiesen, wie sie normalerweise nur in Sprachen der selben Sprachfamilie vorkämen. Er erkennt aber auch, dass der Begriff der gemeinsamen Sprachfamilie im Falle der Balkansprachen-Situation auf keinen Fall zutrifft:

Il ne s`agit pas seulement d`une communauté de civilisation et de croyances. Bien que d`origine très diverse, les langues parlées par ces peuples ont développé nombre de traits communs qui en font une unité linguistique remarquable rappelant, sous bien des rapports, les unités linguistiques qui ont pour base une origine commune, comme c`est le cas des langues romanes, des langues germaniques, etc.[96]

Als typische Merkmale der Balkansprachen zählt Sandfeld einige Phänomene auf, die sich mit Schallers Liste der so genannten primären Balkanismen decken: Wie Schaller führt er als typisch balkanische Eigenschaften den nachgestellten Artikel, die Bildung des voluntativen Futurs sowie den Zusammenfall von Genitiv- und Dativformen an. Außerdem erwähnt er weitere Phänomene, die in Schallers Rangordnung nicht als primäre Balkanismen zu betrachten sind, zum Beispiel „la disparition de la différence entre ubi et quo[97], also den Verlust der Unterscheidung zwischen den Fragewörtern „wo“ und „wohin“, die im Lateinischen „ubi“ und „quo“ heißen.[98]

Des weiteren weist Sandfeld auf die Vorliebe der balkanischen Sprachen für die Parataxe hin: „les langues balkaniques montrent une prédilection marquée pour la parataxe.“[99] Sandfeld räumt ein, dass dies freilich kein Alleinstellungsmerkmal der Balkansprachen sei, beharrt aber beim Vergleich der Balkansprachen im Hinblick auf die Verwendung von Parataxen statt Hypotaxen auf der „concordance remarquable dans les détails.“[100]

Eine interessante Feststellung, die Sandfeld trifft, ist folgende: „Très souvent la parataxe sert à remplacer l`infinitif“.[101] Dies sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir uns im praktischen Teil der Arbeit dem Phänomen des Infinitiv-Verlusts der Balkansprachen widmen.[102]

Als möglichen Ursprung der balkanischen strukturellen Gemeinsamkeiten führt Sandfeld, wie schon erwähnt, die griechische Sprache an, die er als bedeutenden Einflussfaktor auf der Balkanhalbinsel und als Ausgangspunkt der strukturellen Ähnlichkeiten der Balkansprachen ansieht: „nous avons cherché à montrer que dans la grande majorité des cas il s`agit de particularités qui se sont propagées de là dans les autres langues.“[103] Sandfeld gründet diese Aussage auf die Feststellung, dass die byzantinische Welt und die griechische Kirche über lange Zeit hinweg eine enorme kulturelle Macht auf der Balkanhalbinsel darstellten: „il suffit, à notre avis, de renvoyer au rôle joué par la civilisation byzantine et surtout à l`influence unificatrice de l`église grecque.“[104]

2.2.4 Die Balkansprachbund-Diskussion nach Sandfeld

In der jüngeren Balkansprachbund-Diskussion sind für unsere Zwecke besonders die schon erwähnten Werke von Schaller („Die Balkansprachen. Eine Einführung in die Balkanphilologie, Heidelberg 1975“) und Solta („Einführung in die Balkanlinguistik mit besonderer Berücksichtigung des Substrats und des Balkanlateinischen, Darmstadt 1980“) von Interesse. Solta vertritt die Theorie, dass weder ein Substrat noch das Griechische, sondern vielmehr das Lateinische der Urheber der so genannten Balkanismen sein könnte. Für unsere Untersuchung, ob die gemeinhin als Balkanismen bezeichneten Eigenschaften des Rumänischen auch erklärt werden können, ohne die Theorie des Balkansprachbunds zu Hilfe zu nehmen, ist dies ein wichtiger Hinweis. Wenn das Lateinische nämlich Urheber der besagten Phänomene wäre, bräuchte man selbstverständlich den Balkansprachbund nicht mehr zu Rate zu ziehen. Die so genannten Balkanismen des Rumänischen wären dann allein aus seiner Herkunft aus dem Lateinischen zu erklären und hätten sich vom Lateinischen und später vom Rumänischen aus auf die umliegenden, nicht verwandten Balkansprachen ausgebreitet. Wir werden im weiteren Verlauf der Arbeit auf diese Überlegung zurückkommen.

Tomić kritisiert Soltas Theorie mit der etwas unüberlegten Behauptung, die so genannten Balkanismen seien im Lateinischen praktisch nicht vorhanden („But unfortunately, the Balkan Sprachbund features are hardly present in Latin.“[105] ) Im Folgenden werden wir noch feststellen, dass dies nicht richtig ist und dass manche „balkanischen“ Strukturen durchaus auch im Lateinischen zu finden sind.

Einen interessanten Beitrag zur Sprachbund-Diskussion in jüngerer Zeit leistete Kristophson. Er fasst die wichtigsten Charakteristika eines Sprachbunds, wie ihn die heutige Forschung versteht, wie folgt zusammen: Ein Sprachbund besteht aus Sprachen, die „genetisch nicht nahe oder sogar überhaupt nicht verwandt“[106] sind. Die Sprachen „standen oder stehen in Kontakt miteinander“[107]. Dieser Kontakt kann „geographisch, politisch, kulturell“[108] sein. Die betreffenden Sprachen weisen „strukturelle Gemeinsamkeiten in Phonetik, Morphologie, Syntax“[109] auf. Diese „Gemeinsamkeiten sind nicht universell, sondern durch gemeinsame, kausal verknüpfte Entwicklungen aus durchaus unterschiedlichen Vorstufen entstanden“.[110]

Schwierig ist die Frage, über wie viele gemeinsame Merkmale die Mitglieder eines Sprachbunds verfügen müssen, damit der Sprachbund als Sprachbund und nicht als „Zufallsgemeinschaft“ gilt: „wie groß muß die Merkmalsanzahl veranschlagt werden, um definitorisch die Möglichkeit zufälliger „Verwandtschaften“ auszuschließen? Eine eindeutige Antwort läßt sich vorerst nicht geben.“[111]

Miklas fasst die Uneinigkeit in der Sprachbund-Diskussion bezüglich dessen, was als spezifisches Merkmal oder Balkanismus anzusehen ist und was nicht, zusammen:

Bislang herrscht nämlich noch keine Einigkeit darüber, was unter einem einzelnen Merkmal zu verstehen ist. So schwankt etwa in den verschiedenen Charakteristiken des Balkansprachbundes die Zahl der als spezifisch erachteten Merkmale zwischen rund neun und 50 [...]. Dies hängt nicht nur mit den unterschiedlichen Auffassungen über die Entstehung, Bedeutung und Verbreitung der einzelnen Charakteristika zusammen, sondern auch damit, daß zwischen Einzelmerkmalen, Merkmalsbündeln und komplexen Merkmalen nicht genügend differenziert wurde.[112]

So gab es denn auch in den letzten Jahren eine „Reihe von Neudefinitionen des Sprachbundbegriffes“[113] bis hin zu dessen Ablehnung, zum Beispiel durch Reiter. Sobolev kritisiert die Ziellosigkeit der Forschung: „Balkan linguistics has existed as an independent linguistic discipline for over 70 years, but has no generally recognized target of investigation.“[114] Sobolev gab der Forschung in jüngerer Zeit insofern eine neue Richtung beziehungsweise Ausrichtung, dass er es für wichtig erachtet, die balkanischen Dialekte genauer zu erforschen: Sobolev „stated the need for studying the Balkan Sprachbund properties in individual dialects“.[115] Nur so könne man die Sprachsituation auf dem Balkan differenziert genug beschreiben: „Searching for the most adequate way of describing the Balkan language situation, one should, however, pay attention to irregularities, idiosyncrasies and modes of development.“[116]

Wenden wir uns nun der Sprache zu, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht: dem Rumänischen.

2.3 Rumänisch – eine romanische Sprache als Mitglied des Balkansprachbunds

Als letzter Schritt, bevor wir uns der konkreten sprachwissenschaftlichen Untersuchung zuwenden, soll ein kurzer Überblick über die rumänische Sprache und ihre Besonderheiten gegeben werden. Wie kommt eine romanische Sprache zu ihrer Mitgliedschaft im so genannten Balkansprachbund? Welchen Einflüssen war sie in den vergangenen Jahrhunderten ausgesetzt? Diese Kenntnisse sind unabdinglich bei der späteren Reflexion über die Frage, ob die im Rumänischen enthaltenen balkanischen Strukturen tatsächlich auf balkanische Beeinflussungen zurückzuführen sind oder ob sie sich auch aus dem Rumänischen selbst und seiner Herkunft aus dem Lateinischen erklären lassen.

Gegenüber den anderen romanischen Sprachen nimmt das Rumänische eine Sonderstellung ein. Die rumänische Sprache, die sich zwischen dem 5. und 7./8. Jahrhundert[117], also in demselben Zeitraum herausbildete, in dem auch die anderen romanischen Sprachen entstanden, zeigt sich „konservativer als die romanischen Schwestersprachen“[118] und ist laut Haarmann „ein typischer Vertreter des Balkanbundes“[119]. Warum ist das so? Welche Entwicklungen hat das Rumänische durchlaufen, die es nicht mit denen der westromanischen Sprachen teilt? Solta gibt einen ersten wichtigen Hinweis: Die rumänische Sprache

setzt einerseits ein späteres, weiter entwickeltes Latein fort als die anderen roman. Sprachen, da die Eroberung Daziens erst in das Jahr 107 n. Chr. fällt. Andererseits hat das Rumän. nicht mehr an Neuerungen teilgenommen, die im Latein Roms nach 107 eintraten, die aber z. T. noch Gallien erreichten.[120]

Dies erklärt den konservativen Charakter des Rumänischen im Vergleich mit den anderen romanischen Sprachen. Das Rumänische setzt nämlich „eine ältere Phase des im II.-III. Jahrhundert gesprochenen Lateins fort, während die westromanischen Sprachen, insbesondere die Zentraleuropas, zahlreiche spätere Neuerungen geerbt haben, die nicht bis Dazien gelangten.“[121] Viele Neuerungen, die in der Westromania stattfanden, erreichten die Ostromania nicht. Dafür bewahrt das Rumänische noch einige Archaismen der lateinischen Sprache, die in den westromanischen Sprachen verschwunden sind, zum Beispiel das Supin und die Kategorie des Neutrums.

Nachdem Kaiser Aurelian die „romanisierte Bevölkerung aus Dazien nach dem Süden der Donau abgezogen“[122] hatte, wurde das Lateinische, genauer gesagt die Form des Vulgärlateinischen, das in dieser Provinz gesprochen wurde, weiterhin verwendet: „Als Verkehrssprache verwendeten barbar. Volksstämme das Lat. noch lange Zeit, nachdem das röm. Leben an der unteren Donau schon erloschen war.“[123] Das Lateinische lebte also als Verkehrssprache auch nach dem Abzug der Römer weiter. Dies ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die von Rom nach Dakien versetzten römischen Soldaten selbst aus den unterschiedlichsten Kolonien des Imperiums stammten und somit das Lateinische „schon am Anfang der Romanisierung Daziens [...] die Basis der Verständigung unter der oft heterogenen Kolonistenbevölkerung darstellen mußte.“[124]

Nun kommt auch der slawische Einfluss auf das Rumänische zum Tragen. Laut Solta ist dieser Einfluss „Unstreitig [...] sehr wichtig.“[125] Oder, wie es Gamillscheg ausdrückt: „Das endgültige Geschick der Ostromanen ist die Folge ihrer Verschmelzung mit den Slaven.“[126]

Die Ansiedlung von slawischen Volksstämmen am Balkan, die Ende des 7. Jahrhunderts abgeschlossen war[127], übte großen Einfluss auf die Entwicklung der rumänischen Sprache aus. Die ostromanische Variante des Vulgärlateinischen blieb Verkehrssprache der Bevölkerung, und so wurde „nach und nach diese ostromanische Verkehrssprache über das jetzige rumänische Territorium getragen, indem sie immer mehr und mehr von den anderen Bevölkerungsteilen, besonders den Slawen, übernommen wurde.“[128] Man muss sich vergegenwärtigen, dass dieser Prozess Jahrhunderte dauerte. Natürlich beeinflussten die Slawen, die sich des Ostromanischen bedienten, dieses gewaltig. Man kann diesen Prozess so zusammenfassen: „In ein mehr oder weniger romanisiertes Gebiet rückten Slaven ein, welche das Ostromanische zum Teil verdrängten oder stark beeinflußten.“[129] Bei den Sprechern handelte es sich um Slawen, die in der Familie und im sonstigen privaten Bereich ihre slawischen Dialekte sprachen, „dagegen im Verkehr außerhalb des Hauses das nunmehr wirklich ,vulgäre´ Latein weitergebrauchten und mit ihrer Artikulation aussprachen.“[130]

Der slawische Einfluss ist demzufolge beträchtlich. Außerdem fehlte dem Rumänischen als Stütze in seiner Entwicklung die lateinische Kirchen- und Verwaltungssprache, die auf dem Gebiet der anderen romanischen Sprachen über Jahrhunderte hinweg kontinuierlich weiter existierte. Das Lateinische war in der Westromania das Kulturadstrat des Spätmittelalters: „Im Vergleich zu den anderen romanischen Sprachen ist die rumänische Sprache in ihrer früheren Entwicklung nicht von dem Gelehrtenlatein beeinflußt worden.“[131] Das Rumänische kam stattdessen unter den Einfluss des griechisch-orthodoxen Kulturkreises. Die Rumänen verwendeten „als einziges romanisches Volk jahrhundertelang nicht das Lateinische, sondern Kirchenslawisch oder Slawonisch als Kult- und Kultursprache“.[132] Das Kirchenslawische war bis ins 17. Jahrhundert die Schriftsprache der Rumänen.

Dass sich unter den gegebenen Umständen in der ehemaligen Provinz Dakien – die sich ja auch nur über den verhältnismäßig kurzen Zeitraum von nicht einmal zwei Jahrhunderten hinweg unter römischer Herrschaft befand – überhaupt eine romanische Sprache entwickeln konnte, mutet erstaunlich an. Reichenkron fasst die Vorgänge zusammen: Es

hat ausgerechnet das Gebiet, das nur zwei Jahrhunderte zum Imperium Romanum gehörte, wo schon bald die Bedeutung der römischen Städte und Castra verloren ging, das soziologisch durch das Wanderhirtentum gekennzeichnet ist, das nach Ansicht der Gegner der rumänischen Kontinuitätstheorie überhaupt seine romanische Bevölkerung eingebüßt hat, das durch die Reichsteilung in den griechisch-byzantinischen politischen und kulturellen Kreis geriet und wo demgemäß die griechisch-orthodoxe Religion mit ihren gewaltigen Auswirkungen auf das gesamte geistige Leben herrschte, gerade dieses Gebiet hat als einziges der Ost-Romania eine romanische Schriftsprache, das Rumänische, ausgebildet.[133]

[...]


[1] Beyrer, Arthur/ Bochmann, Klaus/ Bronsert, Siegfried: Grammatik der rumänischen Sprache der Gegenwart, Leipzig 1987, S. 15.

[2] Es handelt sich bei „Le Monde“, „El País“ und „Corriere della Sera“ jeweils um die Ausgabe vom 16. Juni 2009, bei „România liberă“ um die Ausgabe vom 6. Juni 2009.

[3] Glück, Helmut (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 2000, S. 651.

[4] Mehr dazu im weiteren Verlauf der Arbeit unter 2.2.

[5] Schaller, Helmut Wilhelm: Die Balkansprachen. Eine Einführung in die Balkanphilologie, Heidelberg 1975, S. 49.

[6] Glück, S. 652.

[7] Glück, S. 662.

[8] Boretzky, Norbert/ Igla, Birgit: Interferenz und Sprachwandel, in: Jeßing, Benedikt (Hrsg.): Sprachdynamik – Auf dem Weg zu einer Typologie sprachlichen Wandels, Band III (Interferenzlinguistik), Bochum 1994, S. 7 f.

[9] Pöckl, Wolfgang/ Pöll, Bernhard/ Rainer, Franz: Einführung in die romanische Sprachwissenschaft, Tübingen 2003, S. 61.

[10] Miklas, Heinz: Trubetzkoys Sprachbundbegriff aus der Sicht der jüngeren Forschung, in: Mĕšt`an, Antonín und Weiher, Eckhard (Hg.): Festschrift für Wilhelm Lettenbauer zum 75. Geburtstag, Freiburg 1982, S. 152 f.

[11] Mehr dazu im weiteren Verlauf der Arbeit unter 2.2.

[12] Schaller, S. 50.

[13] Reiter, Norbert: Grundzüge der Balkanologie – Ein Schritt in die Eurolinguistik, Berlin 1994, S. 2.

[14] Reiter, S. 3.

[15] Glück, S. 662.

[16] Schaller, S. 58.

[17] Glück, S. 652.

[18] Vgl.: Glück, S. 652.

[19] Stolz, Thomas: Romancisation world-wide, in: Bakker, Dik/ Salas Palomo, Rosa/ Stolz, Thomas (Hg.): Aspects of Language Contact – New Theoretical, Methodological and Empirical Findings with Special Focus on Romancisation Processes, Berlin 2008, S. 1.

[20] Stolz, S. 1.

[21] Stolz, S. 1.

[22] Miklas, S. 145 f.

[23] Glück, S. 90.

[24] Glück, S. 90.

[25] Haarmann, Harald: Aspekte der Arealtypologie – Die Problematik der europäischen Sprachbünde, Tübingen 1976, S. 77.

[26] Weithmann, Michael W.: Balkan-Chronik: 2000 Jahre zwischen Orient und Okzident, Regensburg 1995, S. 24.

[27] Weithmann, S. 24.

[28] Weithmann, S. 24.

[29] Weithmann, S. 24.

[30] Weithmann, S. 24.

[31] Solta, Georg Renatus: Einführung in die Balkanlinguistik mit besonderer Berücksichtigung des Substrats und des Balkanlateinischen, Darmstadt 1980, S. 11.

[32] Vgl.: Solta (1980), S. 12 ff.

[33] Solta (1980), S. 12.

[34] Schaller, S. 103.

[35] Es handelt sich hier also um zwei verwandte slawische Sprachen, eine romanische Sprache und um das unter den indogermanischen Sprachen isolierte Albanisch.

[36] Solta (1980), S. 7.

[37] Solta (1980), S. 7.

[38] Vgl.: Solta (1980), S. 8 f.

[39] Weithmann, S. 29.

[40] Schaller, S. 74.

[41] Schaller, S. 86.

[42] Miklas, S. 150 f.

[43] Schaller, S. 90.

[44] Glück, S. 628.

[45] Schaller, S. 70.

[46] Schaller, S. 70.

[47] Solta (1980), S. 9.

[48] Sandfeld, Kristian: Linguistique balkanique. Problèmes et résultats, Paris 1930, S. 159.

[49] Schaller, S. 91.

[50] Glück, S. 27.

[51] Solta (1980), S. 108.

[52] Solta (1980), S. 108.

[53] Glück, S. 90.

[54] Transhumanz bezeichnet die nomadische Lebensform, die jahrhundertelang auf der Balkanhalbinsel vorherrschend war: Viehhirten durchwanderten mit ihren Familien und Tierherden weite Teile der Balkanhalbinsel auf der Suche nach frischen Weideflächen. Sprachliche Flexibilität war für diese Lebensform oberstes Gebot, da die Wanderungen nicht auf Landes- oder Sprachgrenzen Rücksicht nahmen. So beherrschten die meisten Menschen, die sich über weite Strecken bewegten, zumindest Grundzüge der benachbarten Sprachen. Es kam zu Sprachkontakt und demzufolge zu Vermischungen zwischen den Sprachen.

[55] Petrucci, Peter R.: Slavic Features in the History of Rumanian, München/Newcastle 1999, S. 9.

[56] Petrucci, S. 5.

[57] Vgl.: Schaller, S. 103.

[58] Haarmann, S. 77.

[59] Viel heftiger umstritten und angezweifelt wird zum Beispiel die Existenz des so genannten Donausprachbundes, zu dem manche Forscher das Deutsche, das Tschechische, das Slowenische und das Ungarische zählen.

[60] Sobolev, Andrej N.: On the areal distribution of syntactic properties in the languages of the Balkans, in: Tomić, Olga Mišeska (Hrsg.): Balkan Syntax and Semantics, Amsterdam/Philadelphia 2004, S. 62.

[61] Haarmann, S. 77.

[62] Solta (1980), S. 5.

[63] Solta (1980), S. 5.

[64] Schaller, S. 119.

[65] Schaller, S. 56.

[66] Schaller, S. 76.

[67] Vgl.: Schaller, S. 101 f.

[68] Als weiteren primären Balkanismus bezeichnet Schaller gewisse Übereinstimmungen im Vokalsystem der Balkansprachen. Da dieses Merkmal jedoch den Bereich der Phonologie betrifft und das im Folgenden verwendete Textcorpus ein schriftliches ist, soll hier nicht weiter auf diese phonologischen Merkmale eingegangen werden, sondern ausschließlich auf die genannten morphologischen und syntaktischen Phänomene. Auch die Übereinstimmungen im lexikalischen Bereich, die vor allem auf Entlehnungen griechischer und türkischer Wörter zurückgehen, spielen für unsere Fragestellung keine Rolle und werden deshalb nicht berücksichtigt.

[69] Diese abweichenden Positionen hier detailliert vorzustellen, würde zu weit führen. Deshalb beschränken wir uns der Einfachheit halber auf die von Schaller definierten Merkmale. Syntaktische und morphologische Eigenheiten, die von anderen Forschern als Balkanismen angesehen werden, werden im weiteren Verlauf der Arbeit am Rande eine Rolle spielen.

[70] Boretzky, Norbert: Zusammenrückungen mit dem Modalverb “können” in den Balkansprachen, in: Reiter, Norbert/Skendi, Stavro (Hg.): Zeitschrift für Balkanologie, Jahrgang VIII, Heft 1 und 2, München 1971/72, S. 12.

[71] Vgl.: Sobolev, S. 62.

[72] Reiter, S. 1f.

[73] Reiter, S. 4.

[74] Haarmann, S. 77.

[75] Tomić, Olga Mišeska : Balkan Sprachbund Morpho-Syntactic Features, Dordrecht 2006, S. 1.

[76] Reiter, S. 119.

[77] Solta (1980), S. 3.

[78] Haarmann, S. 78.

[79] Tomić (2006), S. 1.

[80] Glück, S. 543.

[81] Glück, S. 542.

[82] Reiter, S. 153.

[83] Boretzky, Norbert: Einführung in die historische Linguistik, Hamburg 1977, S. 23.

[84] Boretzky (1977), S. 23.

[85] Tomić (2006), S. 1.

[86] Boretzky (1977), S. 23.

[87] Tomić (2006), S. 27.

[88] Howarth, Patrick: Attila – Der Hunnenkönig, Freiburg 2001, S. 51.

[89] Vgl.: Howarth, S. 51.

[90] Arvinte, Vasile: Rumänisch: Externe Sprachgeschichte, in: Holtus, Günter/ Metzeltin, Michael/ Schmitt, Christian (Hg.): Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL) Band III, Tübingen 1989, S. 288.

[91] Tomić (2006), S. 27.

[92] Schaller, S. 43.

[93] Haarmann, S. 78.

[94] Schaller, S. 29.

[95] Reiter, S. 116.

[96] Sandfeld, Kristian: Linguistique balkanique. Problèmes et résultats, Paris 1930, S. 6.

[97] Sandfeld, S. 191.

[98] Im Rumänischen gibt es beispielsweise nur eine Form für “wo” und “wohin”. Beide Fragewörter werden durch “unde” ausgedrückt. Natürlich existiert dieses von Sandfeld als typisch balkanisch beschriebene Phänomen auch in verschiedenen anderen Sprachen, zum Beispiel im Französischen (“où”) und im Englischen (“where”).

[99] Sandfeld, S. 196.

[100] Sandfeld, S. 196.

[101] Sandfeld, S. 197 f.

[102] Sandfeld zählt weitere, die Syntax betreffende Eigenschaften der Balkansprachen auf. Da diese in der späteren Forschung jedoch nicht mehr als Balkanismen betrachtet wurden, da ihr Vorkommen bei weitem nicht auf die Balkansprachen beschränkt ist, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden.

[103] Sandfeld, S. 197.

[104] Sandfeld, S. 215.

[105] Tomić (2006), S. 28.

[106] Kristophson, Jürgen: Ein neuer Beitrag zur Sprachbunddiskussion, in: Grothusen, Klaus-Detlev/Reiter, Norbert/Schubert, Gabriella (Hg.): Zeitschrift für Balkanologie, 29/1, Wiesbaden 1993, S. 2.

[107] Kristophson, S. 2.

[108] Kristophson, S. 2.

[109] Kristophson, S. 2.

[110] Kristophson, S. 2.

[111] Miklas, S. 139.

[112] Miklas, S. 140.

[113] Miklas, S. 135.

[114] Sobolev, S. 59.

[115] Sobolev, S. 59.

[116] Sobolev, S. 60.

[117] Vgl.: Arvinte, S. 288.

[118] Puşcariu, Sextil: Die rumänische Sprache, Leipzig 1943, S. 203.

[119] Haarmann, S. 97.

[120] Solta (1980), S. 76.

[121] Mihăescu, H.: Die lateinische Sprache in Südosteuropa, in: Reiter, Norbert/ Schmaus, Alois/Skendi, Stavro (Hg.): Zeitschrift für Balkanologie, Jahrgang VI, Heft 2, Wiesbaden 1968, S. 134.

[122] Reichenkron, Günter: Das Ostromanische, in: Gülich, Wilhelm (Hrsg.): Südosteuropa – Schriften der Südosteuropa-Gesellschaft (1. Band): Völker und Kulturen Südosteuropas – Kulturhistorische Beiträge, München 1959, S. 165.

[123] Solta (1980), S. 70.

[124] Solta (1980), S. 70.

[125] Solta (1980), S. 85.

[126] Gamillscheg, Ernst: Zur rumänischen Frühgeschichte, in: Reichenkron, Günter/Schmaus, Alois (Hg.): Die Kultur Südosteuropas – Ihre Geschichte und ihre Ausdrucksformen, Wiesbaden/München 1964, S. 51.

[127] Vgl.: Gamillscheg, S. 51.

[128] Reichenkron, S. 170.

[129] Hubschmid, Johannes: Substrate in den Balkansprachen, in: Reichenkron, Günter/Schmaus, Alois (Hg.): Die Kultur Südosteuropas – Ihre Geschichte und ihre Ausdrucksformen, Wiesbaden/München 1964, S. 90.

[130] Reichenkron, S. 168.

[131] Arvinte, S. 288.

[132] Arvinte, S. 289.

[133] Reichenkron, S. 155.

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Das Rumänische im Kontext der Balkansprachbund-Theorie
Untertitel
Vergleichende sprachwissenschaftliche Untersuchung des Rumänischen, Französischen, Spanischen und Italienischen im Hinblick auf gemeinhin als Balkanismen bezeichnete morphologische und syntaktische Eigenheiten des Rumänischen
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
107
Katalognummer
V150998
ISBN (eBook)
9783640630189
ISBN (Buch)
9783640630509
Dateigröße
933 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rumänisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Balkan, Sprachbund, Sprachvergleich, Balkansprachbund, Magisterarbeit, Sprachwissenschaft, Vergleich, Morphologie, Syntax, Verdoplung des Objekts, bestimmter Artikel, Sprachkontakt, Bulgarisch, Albanisch, Serbokroatisch, Griechisch, Mazedonisch, Zahlsystem, Vulgärlatein, Zusammenfall von Genitiv und Dativ, Futur, Infinitivgebrauch
Arbeit zitieren
Susanne Hasenstab (Autor:in), 2010, Das Rumänische im Kontext der Balkansprachbund-Theorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150998

Kommentare

  • Gast am 1.12.2010

    Leider können die Sonderzeichen in der computergenerierten Vorschau nicht angezeigt werden. In der Printversion, wie auch im E-Book wird das Sonderzeichen angezeigt. Viele Grüße aus der GRIN-Redaktion, Antje Bärmann

  • Susanne Hasenstab am 1.12.2010

    Natürlich muss es die weibliche Form sein. Wenn man das nicht wüsste, würde man wohl kaum Magistzerarbeit über so ein Thema schreiben. Der Buchstabe ist wohl beim Hochladen verloren gegangen, da es ihn im deutschen Alphabet nicht gibt.

  • anonym anonymus am 30.11.2010

    Kleiner Fehler ganz am Anfang! Die rumänische Zeitschrift heißt nicht "Romania liber", sondern, was ja eine Romanistin wissen sollte, "Romania libera"! Also die weibliche Form!

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Titel: Das Rumänische im Kontext der Balkansprachbund-Theorie



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