Historische Konzeption des Heimatgedankens

Eine Dekonstruktion anhand ausgewählter sächsischer Unterrichts- und Lehrmaterialien


Examensarbeit, 2009

81 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Vom Königreich zum Nationalstaat − Sachsen von f800−f87f
2.1. Zwischen Agrarromantik und Fortschrittsglaube
2.2. Der Verlust politischer Autonomie
2.3. Im Spannungsfeld von Landesbewusstsein und Nationalbildung

3. Lernziel: Untertan − Sachsen im Kaiserreich

4. Die Wiederentdeckung der Heimat − Der Freistaat in der Weimarer Republik

5. „Blut und Boden” − Sachsen als faschistischer Gau

6. Das sozialistische Vaterland − Die sächsischen Bezirke in der DDR

7. Schematische Auswertung der Untersuchung

8. Ausblick

Literaturverzeichnis

„Das Resultat der Erziehung hängt ganz und gar von der KraJt ab, mit der der Mensch sich auJ Veranlassung oder durch EinJluss derselben selbst bearbeitet.“

ALEXANDER FREIHERR VON HUMBOLDT, (f769 − f859)

1. Einleitung

Der preußische Naturforscher und Pionier der physischen Geographie, Alexander Freiherr von Humboldt, zeigt lange vor Begründung der modernen Pädagogik auf, welche Aufgabe eine gute Bildung zu gewährleisten hat: Die Befähigung des Menschen zum selbstreflexiven Denken. Erst dies versetzt ihn in die Lage, seine Lebensumwelt zu hinterfragen und eine eigene individuelle Identität auszubilden. Schon der Volksmund sagt „Der Mensch ist das Produkt seiner Erziehung”.

Die moderne Schule hat einen „Erziehungs− und Bildungsauftrag”, sie soll moralische und intellektuelle Werte vermitteln, die für das Zusammenleben und den Fortbestand einer menschlichen Gesellschaft von essentieller Bedeutung sind. Das zentrale Medium zur Vermittlung von Wissensinhalten stellt damals wie heute das Schulbuch dar. Im Allgemeinen reproduzieren Schulbücher Grundsätze unserer Wert− und Weltvorstellung in begrifflicher wie räumlicher Dimension. Die gelehrten und gelernten Inhalte sind meist nicht neutral sondern mit Satzungen und Hierarchisierungen behaftet. Sie bilden somit eine unreflektierte Grundlage unserer Wertvorstellungen und prägen eine bewusst verordnete oder ungewollt geförderte kollektive Identität. Schulbücher legen darüberhinaus räumliche Zuordnungen fest und machen deutlich was als „das Vaterland” zu begreifen sei. Damit erfolgt automatisch eine Unterscheidung zwischen „Uns” und den „Anderen”.

Der Begriff „Heimat” spielt hierbei eine gewichtige Rolle. Abstrakt formuliert bezeichnet er eine Beziehung zwischen Mensch und Raum. Heimat kann dabei Naturraum oder Kulturraum wie Dorf, Stadt, Region oder Staat sein. Allerdings ist er nicht geographisch− historisch eingrenzbar, sondern wird auch biographisch, sprachlich und kulturell verwendet. Es geht weniger um Verortung als vielmehr um Identifikation − die gefühlsmäßige Einstellung zu einem Fleck Erde. Die besondere Bedeutung dieses Wortes zeigt sich auch in der Schwierigkeit ihn in andere Sprachen zu übersetzen, wodurch er den Großteil seiner „seelischen” bzw. „psychologischen” Bedeutung verlöre. Das englische native land, die italienische terra natale oder das französische lieu d’origine verengen den Begriff auf den Ort der Herkunft und Geburt. Dies greift für den deutschen Sprachraum jedoch zu kurz.

Die „Heimat” ist für das Individuum der regionale (Nah−)Erfahrungsraum zum Kennenlernen und Verstehen seiner Lebensumwelt. Aufgrund seiner begrifflichen Vielfalt ist er leicht nutz− und konstruierbar. Dies birgt nicht selten politische und gesellschaftliche Implikationen, welche den „kleinen Raum” ideologisch anfällig erscheinen lassen.

Die vorliegende Staatsexamensarbeit will dekonstruieren, wie sich die geschichtliche Konzeption des Heimatgedankens in Schule und Unterricht niederschlägt. Dies erfolgt vorwiegend anhand sächsischer Schul− und Lesebücher. Einbezogen sind desweiteren ausgewählte Quellen zur besseren Darstellung der staatlichen Vorgaben in Aufzeichnungen, Weisungen und Lehrplänen. Auch soll ein Rückgriff auf zeitaktuelle geschichtliche Publikationen zum objektiveren Verständnis politischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen beitragen, deren Behandlung unerlässlich für eine möglichst mehrperspektivische Untersuchung des Heimatbegriffes ist. Die Arbeit unterteilt sich hierbei in fünf historische Untersuchungsabschnitte. Innerhalb dieses vor allem qualitativen Querschnitts soll untersucht werden, wie der Heimatbegriff im jeweiligen historischen Kontext dargestellt, konstruiert und instrumentalisiert wird. Im Zuge dieser Analyse sollen auch vorgegebene Wertvorstellungen miteinander verglichen werden.

Aufgrund der Kompaktheit der Darstellung erhebt die Ausarbeitung keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Schulbuchsammlung selbst ist nicht lückenlos. Einige Bereiche sind aufgrund der gefundenen Unterrichtspublikationen leicht über− bzw. unterrepräsentiert und können daher nur einen kleinen Ausschnitt der historischen Wirklichkeit im Bezug auf die Gesamtfragestellung wiedergeben. Der analytische Vergleich soll trotzdessen am Ende in abstrahierter Form erfolgen. Abschließend werden dann die Möglichkeiten einer zeitgemäßen Verwendung des Heimatbegriffes in Schule und Unterricht knapp erörtert.

2. Vom Königreich zum Nationalstaat - Sachsen von 1800-1871

2.1. Zwischen Agrarromantik und Fortschrittsglaube

Das Königreich Sachsen sieht sich um f800 mit inneren und äußeren Veränderungen konfrontiert, welche in ihrer Konsequenz den traditionalen Heimatbegriff grundlegend verändern sollten. Die von nationalen und liberalen Ideen getragenen Befreiungskriege gegen Napoleon, die zu einem nicht unwesentlichen Teil auf sächsischem Territorium gefochten wurden und in der Völkerschlacht bei Leipzig f8f3 ihren Höhepunkt erreichten, propagierten die „geeinte Heimat” für alle in den einzelnen König− und Fürstentümern zersplittert lebenden Deutschen. Auch wenn die europäischen Mächte auf dem Wiener Kongress f8f5 die vorrevolutionären − kleinstaatlichen und undemokratischen − Verhältnisse unter dem Schlagwort der Restauration wiederherstellten, waren die Hoffnungen auf einen deutschen Nationalstaat langfristig nicht zu zerstreuen. Sachsen selbst gehörte jedoch zu den großen Verlierern des Krieges. Bis zuletzt an der Seite Napoleons stehend, musste es 58 % seines Territoriums und dadurch auch 42 % seiner Einwohner an Preußen abtreten. Politisch an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt, spotteten bereits demokratisch gesinnte Zeitgenossen über die „gekrönte Amtshauptmannschaft” (vgl. DELAU 2003, 63). Sachsen tritt wenig später dem Deutschen Bund, einer losen Föderation der deutschen Einzelstaaten bei.

Der zweite Faktor, der tiefgreifende Umwälzungen im sächsischen Staatsgebilde auslösen sollte, war die im ausgehenden f8. Jahrhundert einsetzende „industrielle Revolution”. Darunter versteht man im Allgemeinen „ […] jenen Komplex wirtschaJtlicher Veränderungen, mit denen sich eine vorindustrielle, traditionelle WirtschaJtsgesellschaJt, die durch niedrige Produktivität und Stagnation gekennzeichnet ist, in eine sich entwickelnde IndustriewirtschaJt verwandelt, in der die Produktion je Einwohner und der lebensstandard relativ hoch sind und wirtschaJtliches Wachstum anhält“ (D EANE f969, f).

Der durch die Entdeckung und Nutzung der Dampfkraft ausgelöste industrielle Aufschwung konnte dabei in Sachsen an die bereits seit dem späten f5. Jahrhundert entstandenen Gewerbegebiete im Erzgebirgsvorland und der südlichen Oberlausitz anknüpfen (vgl. BLASCHKE f997, 22). Sachsen wurde zum Pionierland der deutschen industriellen Revolution. Vor allem das textilverarbeitende Gewerbe, gemeinhin der „Leitsektor” von Industrialisierungsprozessen, gelangt in Sachsen zu wirtschaftlicher Blüte. Als Mitglied des f834 vom Königreich Preußen initiierten Deutschen Zollvereins eröffnete sich für Sachsen ein enormer Binnenmarkt für den Absatz seiner Produkte. Zur Mitte des f9. Jahrhunderts waren etwa 60 % aller Baumwollspindeln des Zollvereins in Sachsen vorzufinden; ungefähr Dreiviertel der gesamten sächsischen Arbeiterschaft war allein in der Textilindustrie beschäftigt (vgl. GROß 2007, 2f4).

Auch wenn ein Großteil der Industriestruktur mittelständisch geprägt war und sich vor allem auf das Manufaktur− und Verlagswesen stützte (vgl. BLASCHKE f997, 22), kam es zu enormen Abwanderungsbewegungen vom Lande in die arbeitsverheißenden Städte. Die Stadteinwohnerschaften von Leipzig und Chemnitz verdoppeln bzw. verdreifachen sich im Zeitraum von f800 bis f850 (vgl. FORBERGER f999, 75). Laut Angaben eines Schulbuches stieg die Bevölkerungsdichte von f834 bis f855 auf einer Quadratmeile (55 km²) von 5800 auf 7500 Einwohner (vgl. KAEMMEL f882, 54). Dies entspricht bei Umrechnung auf den heute üblichen statistischen Vergleichswert einer Steigerung von f05 auf f36 Einwohner pro Quadratkilometer.

Von 1846 bis f86f erhöhte sich der Anteil der Spindeln in Sachsen nochmals um 50 %, ein Zeichen für die allmähliche einsetzende, flächendeckende Mechanisierung der Arbeitsprozesse im entstehenden Fabrikwesen (vgl. FORBERGER f999, ff2). Dem Konkurrenzdruck automatisierter Arbeit war die klassische Heim− und Manufakturarbeit nicht mehr gewachsen. Dies führte zu den typischen sozialen Erscheinungsformen einer industriellen Entwicklung, wie z.B. Landflucht, Urbanisierung, Pauperismus. Das enorme Reservoir an arbeitsuchenden Menschen drückte die Löhne, Ersatz war auf dem Arbeitsmarkt jederzeit verfügbar. In überlangen und anstrengenden Schichten erwirtschafteten die Arbeiter ihren spärlichen Lebensunterhalt. Der Verdienst war teilweise so gering, dass Kinder zur Arbeit in den Fabriken herangezogen werden mussten, um das Existenzminimum ihrer Familie zu sichern. Man begann sich die „Soziale Frage” zu stellen: Wie lässt sich das Massenelend und die Not der arbeitenden Menschen beseitigen oder zumindest abmildern? Lösungsansätze kamen von staatlicher, kirchlicher und unternehmerischer Seite sowie den Arbeitern selbst. Es bleibt daher auch nicht verwunderlich, dass die deutsche Sozialdemokratie ihre Ursprünge im Proletariermilieu Sachsens hat. Im Jahr f863 gründete sich in Leipzig unter Federführung Ferdinand Lasalles mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) die erste politische Vertretung der Arbeiterschaft. In Sachsen wirkten zudem mit Karl Liebknecht und August Bebel zwei Männer, die im Gegensatz zum gemäßigten, national gesinnten ADAV, den internationalen Klassenkampf propagieren. Sie werden später die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ins Leben rufen.

Die Nationalbewegung und das sich durch die Industrialisierung verschärfende gesellschaftliche Konfliktpotential bedrohten den Herrschaftsanspruch der aristokratischen Machteliten. Die Soziale Frage erhält ihre politische Note. Die hier kurz skizzierten Prozesse auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene liefen jedoch nicht nebeneinander her, sondern griffen ineinander über und multiplizierten damit ihre Auswirkungen. Gesellschaftlicher Protest konnte in den Jahren des Übergangs von der Früh− zur Hochindustrialisierung nicht losgelöst vom Schicksal des Vierten Standes erfolgen. Etwa die im September f830 wütenden Leipziger Unruhen. Sie waren eine Folgeerscheinung der Pariser Julirevolution im selbigen Jahr und bildeten den Auftakt zu einer Reihe von Revolten und Protestkundgebungen im gesamten Königreich, in deren Folge Sachsen am 4. September f83f seine erste Verfassung erhielt. Im Verlaufe der Proteste wurden die Druckerei von Brockhaus und die Kammgarnspinnerei in Pfaffendorf von Revoltierenden und „Maschinenstürmern” bedroht − als „Arbeitsplätze zerstörende Sinnbilder” (vgl. GROß 2007, 20f).

Trotzdem führt der technischen Fortschritt auch zu Erstaunen und Begeisterung über das nun praktisch Machbare. In einer „Vaterlandskunde” von f866 heißt es beispielsweise über den Regierungsbezirk Zwickau − damals das Zentrum der sächsischen Steinkohleförderung:

„Je nachdem die Schächte durch Menschenhände oder Damp J maschinen bedient werden, ist ihre leistungsJähigkeit sehr verschieden; denn während ein nicht zu tieJer Haspelschacht (Jörderung von Kohle −K übeln mittels Zugseils an handbetriebener Winde, Anm. d. Ver J .) Mühe hat, täglich f80 Zentner herauszuschaJJen, Jördern die größeren Maschinenschächte aus f000 Juß TieJe (ca. 283m, Anm. d. VerJ.) täglich deren 4000 und mehr! Ebendarum muss auch die HandJörderung immer mehr dem Maschinenbetriebe weichen. Gegenwärtig arbeiten im Zwickauer Kohlenbezirke 97 DampJmaschinen von zusammen 3320 PJerdekräJten. […] Die stärksten Maschinen dienen nicht einmal der KohleJörderung, sondern der Bewältigung der Grubenwasser, wozu an Zweidrittel der ganzen MaschinenkraJt verwendet werden muss. […] Eine Maschine von 225 PJerdekräJten […] hob in jeder Minute f60 KubikJuß (ca. 4480l Wasser, Anm. d. VerJ.) Wasser aus 500 Juß TieJe“ (E NGElHARDT f866, f97J.).

Auch im Verkehrs− und Transportwesen spielte Sachsen eine Vorreiterrolle innerhalb des deutschen Sprachraumes. f837 eröffnete in Sachsen die sächsisch−böhmische Dampfschifffahrtgesellschaft den Betrieb auf der Elbe. Die erste größere Eisenbahnlinie im Deutschen Bund wurde am 8. April f839 zwischen Leipzig und Dresden vollständig freigegeben. Mit der „Saxonia” trat zeitgleich die erste in Deutschland gebaute Lokomotive ihre Jungfernfahrt auf der neuen Trasse an (vgl. GROß 2f5). Mit den Erfindungen und ihren Auswirkungen verbindet sich ein neuer Enthusiasmus, ein Fortschrittsglauben an die unbegrenzten Möglichkeiten der Technik als Kulturschöpfer:

„langsamer läuJt [der Mensch] als Ross und Strauß, löwe, Tiger und Gazelle; doch die mit ihm dahinsausende lokomotive überholt alle vier J üßigen Tiere. Und so vollbringt er mit kunstvoller Hand Großes und Kleines. Dass er Herr der Erde der ganzen Erde ist, davon zeugt die Erde selbst. Ihre TieJe durchwühlt er, ihre OberJläche bepJlanzt er; seine Kanäle, seine Eisenbahnen durchJurchen die Erde; mit seinem Pulver und Dynamit sprengt er Jelsen weg und stürzt sie um; über die Höchsten Berge baut er Straßen; Meere verbindet er, und Einöden verwandelt er in städtereiche Staaten und Ackerland. […] Ja, der Mensch, der im AnJang so hilJlose Säugling, wird zum Herrn der Erde, und sie ist ihm untertan. Jeder seiner Sinne erhöht sich, jeder seiner Muskel erstarkt, jedes seiner Glieder vermehrt sich in seinen ErJindungen“ (J ÜTTING f906, 2f5).

Nicht unbeeinflusst von der industriellen Entwicklung bleibt der „kleine Raum”. Ein Zeitgenosse schreibt im Rückblick:

Als […] im f9. Jahrhundert die Verkehrsmittel einen ungeahnten Jortschritt erJuhren und die zahllosen Verbindungen zwischen landschaJten, Völkern und Erdteilen sich ins Unendliche vervielJachten, als die Jreizügigkeit bis in die DörJer hinein die Schranken der SesshaJtigkeit beseitigte, geriet das HeimatgeJühl mehr und mehr in die Rumpelkammer“ (zit. nach VAN DER l INDEN f995, 202).

Die traditionale Heimat mit ihrem konkreten Charakter, manifestierte sich (noch) stark an der den Menschen umgebenden, direkt erfahrbaren natürlichen und kulturellen Umwelt mit ihren Bewohnern, Sitten und Gebräuchen. Besonders in den typischen Lese− und Lebensbüchern jener Zeit finden sich diese Empfindungen in Gedichtform wieder:

Traute Heimat meine lieben! Sinn ich still an dich zurück, wird mir wohl, und dennoch trüben Sehnsuchtstränen meinen Blick

Stiller Weiher , grün umpJangen von beschirmenden Gesträuch! Kleine Hütte, voll Verlangen denk’ ich immer noch an euch

An die Jenster, die mit Reben einst mein Vater selbst umzog, an den Birnbaum, der daneben auJ das niedre Dach sich bog

Was mich dort als Kind erJreute, kommt mir wieder lebhaJt vor; das bekannte DorJgeläute widerhallt in meinem Ohr. (zit. nach B ERTHElT f854, 393)

Ebenso in Schulbüchern der späteren, „hochindustriellen Zeit” lässt sich ein enger Bezug zwischen Heimat und Natur nachweisen:

Heimat: starke, warme Scholle drein der Baum die Wurzeln senkt, die ihn mit der Erde KräJten

bis zum letzten Blatt durchtränkt. (zit. nach G AUDIG f9ff, 24)

Nationales Gedankengut in Form des Gedichtes „Was ist des Deutschen Vaterland?” des Schriftstellers und Lyrikers Ernst Moritz Arndt wird indirekt mit der engeren Heimat verknüpft. In der ersten Strophe findet das Königreich Sachsen in geographisch−ethnischer Sicht Erwähnung:

Was ist des Deutschen Vaterland? Ist’s Preußenland? Ist’s Sachsenland? Ist’s wo am Rhein die Rebe blüht?

Ist’s wo am Belt die Möwe zieht?

O nein, nein, nein!

/: Sein Vaterland muss größer sein! :/ (zit. nach B ERTHElT f854, 267)

Bemerkenswert ist, dass in der Originalfassung des Gedichtes das Wort „Sachsenland” nicht aufgeführt wird, also nachträglich im Schulbuch anstelle von „Schwabenland” eingefügt wurde. Im untersuchten Quellenmaterial ist eine weitere, unveränderte Version in einem Schulbuch des Jahres f9ff abgedruckt (vgl. GAUDIG f9ff, 370). Ähnliches lässt sich in einem Gedicht von Leonhard Wächter lesen:

Kennt ihr das land, so wunderschön in seinem eichengrünen Kranz; das land wo auJ den sanJten Höh’n die Traube reiJt im Sonnenglanz? Das schöne land ist uns bekannt, Es ist das deutsche Vaterland!

(zit. nach B ERTH El T f854, 397)

Auffallend bei den beiden letztgenannten Quellen ist die Vereinnahmung der Natur als scheinbar typisch deutsche Kulisse. Die schwärmerische Verbundenheit ist ein zentrales Stilelement der von der Romantik beeinflussten Nationaldichter. Trotz aller nationalen Strömungen finden sich im „Sachsenlied” ebenso regional−dynastische Bezüge:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Deutlich wird in obigen Strophen das Bild vom edlen und tugendhaften Landesvater skizziert. Das Gedicht weist klare absolutistische Traditionslinien auf. So wird bereits zu Anbeginn das Gottesgnadentum königlicher Herrschaft erwähnt. Der Herrscher trägt stets für das leibliche Wohl der Untertanen Sorge, diese schulden ihm in „Hobbeschen” Umkehrschlusse Liebe, Gehorsam und Gefolgschaft. Der Wunsch nach dem Heil des Königs ist durch die wiederkehrende Betonung göttlicher Segnung deutlich hervorgehoben (ebenso im Gedicht „Dem Landesherrn”; vgl. BERTHELT f854, 395).

Die untersuchten Werke, welche sich vornehmlich der sächsischen Geschichte widmen, vermitteln Landesgeschichte nicht anhand von historischen Ereignissen, sondern mittels der Lebensgeschichte großer Herrscherpersönlichkeiten in welche diese Ereignisse hineinfallen (KÖHLER f889, MACHATSCHEK f886, MOHR f9f7). Das Subjekt erscheint als Gestalter des historischen Objekts. Ausnahmen bilden die „Vaterlandskunde für Schule und Haus im Königreich Sachsen” (f866) von Karl August ENGELHARDT sowie „Bilder aus der Kulturgeschichte unseres sächsischen Vaterlandes” (f9f3) von Ludwig PETERMANN. Sie akzentuieren mehr den wirtschaftlichen Wandel im geographischen Raum. Allerdings nicht ohne dabei gänzlich auf königliche Lobpreisungen zu verzichten. Lediglich ein Lehrbuch versucht eine Gleichzeitigkeit und Zusammenwirken zwischen der brandenburgisch− preußischen und sächsischen Landesgeschichte herzustellen (SEYFERT, f9f7).

Die vermeintliche Wesenseinheit von König und Vaterland gewährleistet die Identifikation mit der Machtelite. Der an sich politikfreie Heimatgedanke wird somit eingebunden in die landespatriotische und dynastische Gesinnungsbildung. Die Selbstverständlichkeit dieser Prämisse wird auch von den Autoren der Lehrbücher nicht verhehlt: „Dass der Verfasser die Tatsachen sprechen lässt und sich jedes aufdringlichen Urteilens enthält, versteht sich ebenso von selbst, wie dass die Liebe zu Fürst und Land nirgends verleugnet wird” (KAEMMEL f892, III − IV). Ebenso im Vorwort des f842 in Erstauflage erschienenen Volksschulbuchs „Die Geschichte von Sachsen zum Unterricht in den vaterländischen Schulen”: Und so möge denn das vorliegende Büchlein […] große Erinnerungen in Kindesherzen wecken, innige Liebe zum Vaterlande und Fürstenhause beleben, vor allem aber Gott und sein Walten predigen” (MOHR f9f7, 4).

Der Soziologe Ferdinand Tönnies stellt einen Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft heraus (vgl. SCHEUCH 2003, 6fff.). Seiner Auffassung nach kann es idealtypisch nur zwei Formen willentlicher Billigung kollektiver Gruppierungen geben. Abstrakt formuliert ordnet das Individuum seinen Willen einem größeren sozialen Ganzen unter und orientiert sein Handeln an einem allgemein verbindlichen, höheren Zweck (z.B. innerhalb einer religiösen Gemeinschaft). Mittel und Zweck sind eins. Diese Form stellt er als Gemeinschaft heraus, welche durch einen Wesenswillen bejaht werde. In der Gesellschaft hingegen orientiert sich das Individuum an der Verfolgung seiner individuellen Interessen und bedient sich in instrumenteller Weise Anderer (z.B. innerhalb einer Aktiengesellschaft) zur Erreichung derselben. Die Gesellschaft sei getragen durch einen Kürwillen.

Wenn wir Gemeinschaft als Einheit von Individuen begreifen, welche in enger emotionaler, konkret erlebter, Bindung zueinander stehen (wie z.B. in Familie oder Dorfgemeinschaft) und der Diktion Tönnies folgend das Antonym zu einer Gesellschaft bildet, dann muss Heimat im Kontext obiger Anführungen als imaginierte GemeinschaJt verstanden werden. Sie versucht nach innen einen Mythos der sozialen Harmonie und Interessenidentität („er unsre Luft”) zu konstruieren (vgl. VAN DER LINDEN f995, 203). Innerhalb dieser herausgestellten kollektiven Identität agieren die Untertanen dem Landesfürsten gegenüber friedlich, treu und folgsam. Es finden sich bereits indirekte Andeutungen („Waffen Sieg”, „schont seiner Sachsen Blut”), dass diese Gemeinschaft nach außen verteidigt werden muss. „Wir alle stehen dann mutig für einen Mann, kämpfen und bluten gern für Thron und Reich” (vgl. BERTHELT f854, 395).

Gleichsam führen die fortschreitenden Industrialisierungsprozesse mit ihren Auswirkungen auf die traditionelle Lebensweise der Menschen zu einem Wandel des „kleines Raumes”. Dazu bemerkt der Psychologe Marcel van der Linden: „Die meisten Menschen lebten noch in präkapitalistischen, sedentären [immobilen, Anm. d. Ver J .] Verhältnissen mit einer emotionalen Bindung an ihrer Scholle. Der AuJstieg des Kapitalismus Jührte jedoch zur tendenziellen AuJlösung der traditionalen Heimat […] an die Stelle der mit der Scholle verbundenen Heimat tritt das städtische Wohnviertel mit seinem neuartigen dichten Netz persönlicher Beziehungen“ ( VAN DER l INDEN f995, 202).

Damit eröffnete sich das Feld für eine romantisierende Verklärung der verlorengegangenen vorindustriellen Heimat einerseits, auf der anderen Seite gewinnt der Begriff „Heimat” eine neue überregionale Dimension − durch seine „imaginierte Erweiterung“ (VAN DER LINDEN f995, 203). Der Heimatbegriff wurde daher enger mit dem politischen Territorium des Landesfürsten verknüpft; zu einem Teil der Herrschaftsgemeinschaft zwischen König und Untertan.

2.2. Der Verlust politischer Autonomie

Zwei Motive sind in den Schulbüchern bis f9f8 stets besonders akzentuiert: Das „integere Wesen” des Herrschers der sich um das Wohl seiner Landesbevölkerung, vornehmlich der ärmeren, bemüht sowie die Liebe und Treue seiner Untertanen. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass die Wettiner durch alle Generationen hinweg ein weises und gutes Menschengeblüt waren (vgl. KÖHLER, f889).

So heißt es beispielsweise über den sächsischen König Friedrich August II. (f836− f854), dass „er schon als Prinz wegen seiner seltenen Weisheit, Umsicht und Leutseligkeit das unbegrenzte Vertrauen aller Landesuntertanen [besaß]” (MOHR f9f7, 76). Wenn es seine Regierungsgeschäfte erlaubten, „eilte der König hinaus um sich an der Schöpfung Gottes zu erfreuen und seine Kenntnisse von Land und Leuten zu erweitern” (KÖHLER f889, 272). Er war „von edle[r] und vornehme[r] Gesinnung und seine Pflichttreue befähigte […] ihn in besonderem Maße” (GEHMLICH f9f7, 32). Man verband mit ihm „ungeheuchelte Frömmigkeit, Herzensgüte, Menschenfreundlichkeit und einen männlichen Charakter voller Ernst und Entschiedenheit” (MATUSCHEK f868, 53). „Der König war ein lebhafter Förderer aller auf den Fortschritt gerichtete[n] Bestrebungen” (KAHNMEYER ƒ SCHULZE f9f8, f40). Bei einer Reise durch das Königreich f847 trat „die herzgewinnende Huld des Königpaares […] bei angelegentlichen Erkundungen nach den gewerblichen Verhältnissen und dem Schicksale der ärmeren Klassen der Bevölkerung [hervor]” und in „Liebe und Treue schienen alle im Volke mit dem König verbunden” (KÖHLER f889, 273). Die Verherrlichung des Fürstengeschlechts ließe sich ebenso bei allen darauffolgenden königlichen Würdenträgern herausstellen und ist ein zentrales Charakteristikum aller Schulbücher bis zum Ende von Monarchie und Kaiserreich f9f8. Es bot für die niederen Klassen der Gesellschaft eine Art Heilsversprechen, welches sich in der fürsorgenden Person des Herrschers offenbare. Denn das Auftreten des Lohnarbeiters veränderte nachhaltig das althergebrachte Bild der überlieferten Ständegesellschaft aus Bauern, Handwerkern, Adel und Geistlichkeit. Die Folgen des sozialen Wandels bargen stets die inhärente Gefahr von Revolution und Umsturz. So mündeten ausbleibende politische Reformen und soziale Missstände schließlich in das Revolutionsjahr von f848. Kronprinz Johann berichtet über die Stimmung am sächsischen Hofe:

„[…] kehrte ich nach Dresden zurück, wo ich den Karneval in vollem Gange Jand. Die erste Nachricht aus Paris […] störte die Jreude nicht sehr. Kurz darauJ kam die Nachricht über die Abdankung von Philipp (Jranzösischer König, Anm. d. VerJ.). Am nächsten morgen lasen wir in der Zeitung die Proklamierung der Republik in Paris. Man traute seinen Augen nicht, aber es war der AnJang jener verhängnisvollen Zeit, die nun Schlag auJ Schlag hin einbrach“ (zit. nach D EHlAU 2003, 62).

Nach einer Welle von revolutionären Erhebungen sahen sich überall in Europa die königlichen Hoheiten gezwungen, liberalere Regierungen in die Ministerien zu berufen. In den deutschen Einzelstaaten fanden erstmals freie Wahlen für ein gesamtdeutsches Parlament statt. Infolgedessen konstituiert sich am f8. Mai f848 die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche als erstes frei gewähltes deutsches Parlament zur Ausarbeitung einer einheitlichen Reichsverfassung. Die Hoffnungen auf einen Nationalstaat schienen sich zu erfüllen. Integrale Bestandteile der Paulskirchenverfassung werden unter der Prämisse einer Begrenzung und Reglementierung staatlicher Gewalt, unter anderem die Gewährung von politischen Grundrechten sowie die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament. Obwohl einige Parlamentarier die Einführung der Republik fordern, entschließt sich die Mehrheit für das Modell einer konstitutionellen Monarchie. Am 3. April f849 trägt eine Delegation aus Abgeordneten die Kaiserkrone dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. an. Der Hohenzoller lehnt jedoch die „mit dem Ludergeruch der Revolution” behaftete Krone aus den Händen des Volkes ab.

In Sachsen versuchte der progressive, noch f848 ebenfalls aus allgemeinen und freien Wahlen hervorgegangene Landtag, die Annahme der ausgearbeiteten Reichsverfassung gegen die Exekutive durchzusetzen. Am 28. April f849 löste König Friedrich August II. das Parlament auf. In Dresden werden daraufhin auf dem Altmarkt und anderswo über f00 Barrikaden errichtet. Unter den Revolutionären finden sich auch der Architekt Gottfried Semper sowie der sächsische Hofkapellmeister Richard Wagner. Der im Aufstand einen Affront gegen die königliche Würde sehende Kronprinz Johann, verdeutlicht seinen Standpunkt mit den Worten:

„Wollte Gott das jetzt in Dresden an allen vier Ecken Geschütze krachten und der KampJ sich wutentbrannt durch die Straßen wälzte, es wäre dies wahrhaJtig besser, als dass […] der Abschaum der VolkskräJte sich im Ständehaus im kurulischen (amtlichen, Anm. d. VerJ.) Sessel bläht“ (zit. nach D EHlAU 2003, 66)

Der König sah sich gezwungen mit seiner Familie auf die Festung Königstein zu fliehen. In einigen Städten meutert sogar das Militär und läuft zu den Aufständischen über. Es kommt jedoch wie vom Kronprinzen erhofft: Der Aufstand kann im Verbund mit starken preußischen Hilfstruppen niederkartätscht werden. Die Reaktion hatte ihre Machtstellung gegen die nationalliberale Einheitsbewegung behaupten können und damit auch die politische Eigenständigkeit des Königreiches erhalten. f849 zeigte darüberhinaus deutlich, die Unpopularität der sächsischen Dynastie bei weiten Teilen des Volkes. Sachsen entwickelte sich daher in den Folgejahren zu einem Musterland der Reaktion. Zensuswahlrecht und Zensur wurden wieder eingeführt.

In den Schulbüchern erfolgt zwar eine relativ differenzierte Auseinandersetzung mit den Ursachen, so werden etwa „der nationale Gedanke”, „das Verlangen nach verfassungsmäßiger Freiheit und politischen Rechten” sowie die „soziale Bewegung” als Hauptgründe angeführt (vgl. GEHMLICH f9f7, 33). Allerdings bezichtigte man „die regierungsfeindliche demokratische Bewegung […] gefördert durch die ihr dienende Tagespresse” (KÖHLER f889, 275), versucht zu haben, „unter dem Deckmantel der Reichsverfassung republikanische Pläne durchzusetzen” (KAEMMEL f892, 56).

Fraktionierung und Heterogenität bedrohten also die Herrschaftsgemeinschaft von Gottes Gnaden. Die Auflösung des Landtages war die logische Konsequenz zur Wiederherstellung der althergebrachten, heiligen Ordnung. Der Aufstand sei auch kein spontaner Ausbruch des Volksunmutes gewesen, sondern wäre schon lange von subversiven Elementen vorbereitet gewesen (vgl. KÖHLER f889, 275). Auch erfolgt ein Hinweis auf „die von fremden Abenteurern genährte Flamme der Empörung” (EBENDA, 276), der letzten Endes den Einsatz der preußischen Truppen rechtfertigte. „Trotz dieser trüben Erfahrungen entzog der König dem Volke seine Liebe nicht” (MACHATSCHEK f868, 53). Obwohl „tief erschüttert von den traurigen Vorgängen ließ er […] gegen die Verführten als auch die gefangenen Anstifter und Führer des blutigen Aufstandes so viel als möglich seine Milde walten; von den gefällten Todesurteilen wurde auch nicht eines vollzogen” (KÖHLER f889, 276f.). Als der König durch einen Wanderunfall in Tirol f854 ums Leben kommt, „flossen viele Tränen, es war, als ob erst jetzt das Volk so recht empfände was es an diesem König verloren habe” (MOHR f9f7, 77). Indirekt wird dem vormals aufmüpfigen Volk eine Mitschuld am Tode des Herrschers gegeben. Dieser habe nämlich, da er „den Schmerz über die Ereignisse des Jahres f849 nicht ganz überwinden konnte […] Freude und Erholung […] in der Natur [gesucht]” (KÖHLER f889, 277).

Den fürstlichen Machthabern hatte sich damit deutlich gezeigt, dass der nationale Unmut über die politischen und sozialen Verhältnisse nicht ignoriert werden durfte, wollte man Krone und Herrschaft nicht gänzlich aufs Spiel setzen. Nachdem die demokratischen Kräfte f848 mit ihrem Lösungsansatz auf den Straßen scheiterten, bemächtigte sich in den folgenden Jahrzehnten das Königreich Preußen der Nationalidee um sie nach ihren Vorstellungen − herrschaftssichernd − umzusetzen. Innerhalb dieses Prozesses der „Revolution von oben” erlebte auch der Heimatbegriff im Spannungsfeld von National− und Regionalbewusstsein eine allmähliche Abwandlung seiner landesdynastischen Fixierung. Dieser Prozess war freilich mit Konflikten besetzt, welche auch noch weit nach der Reichsgründung von 1871 zum Vorschein kommen sollten.

König Johann, der nach Aussage eines Schulbuches natürlich an Tiefe und Vielseitigkeit der Bildung alle Fürsten seiner Zeit übertraf (vgl. GEHMLICH f9f7, 55) und dem man „überall huldigte […] mit tiefer Ehrerbietung und aufrichtiger Liebe” (MACHATSCHEK 1868, 55) strebte unter Anleitung seines Ministers Friedrich Ferdinand von Beust mit der Reform des Deutschen Bundes einen „dritten Weg” an. Ziel war es die nationale Frage innerhalb des institutionellen Rahmens zu lösen und die Souveränität und Unabhängigkeit der Klein− und Mittelstaaten mithilfe des föderalistischen Prinzips zu erhalten (vgl. GROß 2007, 23f):

„Johann war gut deutsch gesinnt; er glaubte aber, dass der alte Bund dem Verlangen nach Einheit genüge” (GEHMLICH f9f7, 56). Damit stand er allerdings in Konkurrenz zu Preußen, welches unter dem Kurs des f862 ernannten Ministerpräsidenten Otto von Bismarck ein mächtiges Preußen an der Spitze der deutschen Staaten zu etablieren suchte und damit als Vertreter hegemonialer Tendenzen galt1.

Johann spielte dann eine maßgebliche Rolle beim Frankfurter Fürstentag f863, bei dem unter Führung von Österreich, der zweiten deutschen Großmacht neben Preußen, eine Neugestaltung der Bundesakte anstrebt wurde. Ziel war eine bessere Übereinstimmung der Bundesverfassung mit den Verfassungen der einzelnen Länder (vgl. GROß 2007, 232). Hiermit bot auch Johann, bereit das eigene Königreich fester in einen deutsche Staatenföderation zu integrieren, eine friedliche Alternative zum „Blut und Eisen” − Kurs des preußischen Ministerpräsidenten (vgl. BLASCHKE 1997, 15). Welche politischen Hoffnungen die sächsische Seite mit der außerordentlichen Konferenz verband, zeigte das Verhalten König Johanns selbst. Trotz fürstlicher Würde überreichte er in der Funktion eines Abgesandten die Einladung nach Frankfurt im Namen aller deutschen Fürsten persönlich an den preußischen König Wilhelm I. Allerdings scheiterten seine Bemühungen. Infolge von Gebietsstreitigkeiten nach dem siegreichen deutsch−dänischen Kriege von 18642 eskalierte der Konflikt zwischen Österreich und Preußen. Österreich gelang die Verhängung der Bundesexekution gegen Preußen. Dies erklärte daraufhin eigenmächtig den Bund für aufgelöst. Sachsen trat zusammen mit Bayern energisch für den Erhalt des bundesverfassungsmäßigen Landfriedens sowie die Klärung aller strittigen Fragen auf Grundlage des allgemein verbindlichen Bundesrechts ein (vgl. GROß 2007, 232). Eine gewaltsame Gefährdung dieses Rechtsgrundsatzes würde notfalls mit Waffengewalt unterbunden werden. Das Königreich band sich damit politisch an den preußischen Konkurrenten Österreich. Als Preußen die Entwaffnung Sachsens forderte und diese abgelehnt wurde, kam es am 15. Juni 1866 zum Kriegsausbruch.

Johann vertrat bis in die letzte − militärische − Konsequenz seinen politischen Standpunkt zur zukünftigen Ausgestaltung eines geeinten deutschen Reiches. Der Kampf um die Nationalidee war klassische Machtpolitik. Es ging für Sachsen um die Verteidigung seiner staatlichen und politischen Autonomie gegen die hegemonialen Bestrebungen eines anderen deutschen Königreichs. Dieses hatte sogar, in alter restaurativ−antidemokratischer Verbundenheit, mit den Bajonetten seiner Soldaten wenige Jahre zuvor die Macht des sächsischen Thrones gerettet. Sachsen wurde zusammen mit Österreich auf dem Schlachtfeld von Königgrätz am 3. Juli 1866 vernichtend geschlagen. Österreich war gezwungen Frieden zu schließen und musste ausdrücklich auf ein weiteres Mitspracherecht in den deutschen Reichsangelegenheiten verzichten. Sachsen bleibt zwar in den Grenzen von f8f5 erhalten, musste allerdings sein Militär in die preußische Armee eingliedern, das Telefon− und Telegrafenwesen preußischer Verwaltung unterstellen und mit der Abberufung aller Gesandten im inner− und außerdeutschen Raum auf eine eigenständige Außenpolitik verzichten. Historiker sprechen von der „Liquidation eines Staatsgebildes” (vgl. DEHLAU 2003, 75). Sachsen war de facto kein souverän agierender Staat mehr. Fünf Jahre später ereilt ein ähnliches Schicksal die verbliebenen selbstständigen deutschen Staaten. Allerdings mit deren Einwilligung und nicht durch einen weiteren „Deutschen Krieg”. Bismarck provozierte infolge von politischen Verwicklungen um die spanische Thronnachfolge eine militärische Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Preußen. Die süddeutschen Staaten hatten im Vorfeld Schutzbündnisse mit Preußen im Falle eines französischen Angriffes geschlossen und marschierten nun gemeinsam mit dem Norddeutschen Bund, dessen Mitglied auch Sachsen war, gen Westen:

„Aber wie sehr hatte er sich verrechnet (Napoleon III., Kaiser Jrankreichs; Anm. d. VerJ.), indem er auJ die Jortdauer der alten Zwietracht unter den Deutschen rechnete! Einmütig griJJen Jürsten und Völker zu den WaJJen der Verteidigung des geliebten Vaterlandes. Auch unsere Sachsen zogen voll Begeisterung über den Rhein und nach Jrankreich hinein, geJührt von den Söhnen ihres Königs“ (MOHR 1917, 80).

Hervorgehoben ist erneut die Interessenidentität innerhalb der Herrschaftsgemeinschaft zwischen Fürst und untertänigem Volk. Beide streiten für eine gemeinsame Sache, diesmal das nationale und geliebte Vaterland, welches von außen durch Fremde bedroht wird und verteidigt werden muss. Der überregionale, nicht ausschließlich sächsische Kontext wird unterstrichen durch die Verwendung der Pluralformen „Fürsten und Völker”. Alle arbeitenden und wehrhaften Bevölkerungsteile, also das einfache Volk, folgen dem königlichen Aufruf in die Schlacht: „Vom Felde, aus der Werkstatt, aus dem Fabriksaal eilte der Reservemann zu den Waffen” (SEYFERT f9f7, f0). Dieses Bild beinhaltet Symbolcharakter. Ähnlich wie in Friedenszeit steht auch im Kriege der Herrscher an der Spitze seiner Untertanen. Das dynastische Geschlecht „führt” die reguläre Armee. Der Herrscher wird daher zum Vollstrecker des Gemeinschaftswillens stilisiert. Dieses Motiv findet sich ebenso beim Ausbruch des Weltkrieges f9f4 in anderen Schulbüchern wieder (s. Kapitel 2.2.) Das „Volksheer” führt keinen „Volkskrieg” sondern einen durch bestimmte, fürstliche Zielsetzungen geleiteten Willen aus. Innerhalb der monarchischen Herrschaftsgemeinschaft sind das Volk und sein Fürst Begrifflichkeiten die meist binär auftreten, um eine Willensidentität zu suggerieren.

Noch während der Kriegshandlungen verkündete Bismarck unter Anwesenheit der Fürsten am f8. Januar f87f das Deutsche Reich und rief den preußischen König zum deutschen Kaiser aus. Die Mitwirkung des sächsischen Königs bei diesem Staatsgründungsakt ist in manchen Büchern deutlich herausgestellt, so sei „von den deutschen Fürsten auf Anregung König Johanns” (MOHR f9f7, 80) die Kaiserwürde dargebracht worden. Im Schulbuch der preußischen Provinz Sachsen, wird die Reichsgründung sehr emotional geschildert: „Als er (Bismarck mit der Proklamation, Anm. d. Verf.) geendet, trat der Großherzog von Baden vor und rief: ,Kaiser Wilhelm lebe hoch!'. Da stimmten alle jubelnd ein und huldigten dem Erwählten. Tränen rollten dem greisen Kaiser in den Bart, und mit Dank gegen Gott und seine braven Truppen kehrte er ins Quartier zurück” (SEYFERT f9f7, f49). Das „Rührstück” der Reichsgründung steht unter absolutistischen Vorzeichen. Die durch göttliche Ordnung legitimierten Fürsten tragen dem preußischen König f87f die Reichskrone an, welche er f849 aus den Händen der Volkssouveränität noch ausgeschlagen hatte. Es findet sich zudem in keinem untersuchten Schulbuch ein Hinweis auf die neue Reichsverfassung, welche zumindest ein geringes Mitspracherecht und gleiches Stimmrecht für das Volk einräumte. Stattdessen „huldigen” die Fürsten „ihrem” Kaiser in der Darbietung ähnlich einer „mittelalterlichen Prozession” (vgl. JAROSCHKA f992, 84f.).

2.3. Im Spannungsfeld von Landesbewusstsein und Nationalbildung

Die Reichsgründung von f87f ist von zentraler forschungswissenschaftlicher Bedeutung für den Heimatbegriff. Zwar schien die Erfüllung des nationalen Verlangens nach einer „Heimat für alle Deutschen” geglückt. Betrachten wir ihre spezifischen Auswirkungen auf die sächsische Identität, so ist keine eindeutige Abkehr von alten Verbindlichkeiten festzustellen. Anders als in den alten Nationalstaaten wie Frankreich und England fielen in Deutschland Nationsbildung und Staatsgründung nicht zusammen. Selbst wenn die Schulbücher dies glaubhaft zu vermitteln suchten. Besonders die deutschen Süd− und Mittelstaaten, wie Sachsen, Bayern, Baden und Württemberg, verfügten über historisch gewachsene Identitäten. Die Gründe hierfür lassen sich bis in das Spätmittelalter zurückverfolgen. Das sich aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation kein Einheitsstaat evolutionierte lag vor allem daran, dass die Ausbildung einer starken königlichen Hausmacht aus vielerlei, hier nicht näher zu erörternden Gründen, fehlschlug. Neuere Publikationen konnten darüberhinaus belegen, dass das vormals für den Unitarismus als unübersteigbares Hemmnis gedeutete deutsche Lehnsrecht ein wirkungsvolles Instrumentarium der deutschen Fürsten für den Übergang vom Personenverbandsstaat zum sich ausbildenden Flächenstaat darstellte (vgl. KWIATKOWSKI 2004, f62) Somit ist erklärbar, weshalb gerade aus den spätmittelalterlichen Territorialfürstentümern die deutschen Staaten der Neuzeit, wie etwa Sachsen und Bayern aber auch Preußen und Österreich, entstanden.

[...]


1 f848 erklärte der preußische König Wilhelm I.: „Preußen muss als Preußen an die Spitze Deutschlands kommen, nicht aber als Provinz in dasselbe aufgenommen werden” − (zit. nach MEINECKE, Friedrich (f9ff): Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München et al., S. 37f.

2 Dänemark erhob Anspruch auf die deutschen Fürstentümer Schleswig und Holstein, im Auftrag des Deutschen Bundes kämpften Österreich und Preußen im Verbund mit anderen deutschen Kleinstaaten gegen das dänische Heer

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Historische Konzeption des Heimatgedankens
Untertitel
Eine Dekonstruktion anhand ausgewählter sächsischer Unterrichts- und Lehrmaterialien
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Geschichte / Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte)
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
81
Katalognummer
V150024
ISBN (eBook)
9783640610815
ISBN (Buch)
9783640611195
Dateigröße
891 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heimat, Heimatgeschichte, Heimat in Sachsen, Eduard Spranger, Carl Schmitt, Heimat im Schulbuch, Heimat im Unterricht, Heimatvergleich, Blut und Boden, Ideologisierung der Heimat, dynastische Landesgeschichte, Heimatkunde und Sachunterricht
Arbeit zitieren
Christian Knape (Autor:in), 2009, Historische Konzeption des Heimatgedankens , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150024

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