Der Zufall in den Kriminalerzählungen Dürrenmatts


Magisterarbeit, 2009

94 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Vorwort

2. Theoretische Überlegungen – Der literarische Zufall
2.1. Der Zufall im Werk Friedrich Dürrenmatts
2.2. Typologisierungsversuch des Zufalls in den Kriminalerzählungen Dürrenmatts

3. „Der Richter und sein Henker“
3.1. Die zweite Vorgeschichte – Die „Wette“, ein „Spiel
3.2. Die erste Vorgeschichte – Ein „Alltagsverbrechen
3.3. Bärlach. Der „unerbittliche Schachspieler
3.4. Das „Spiel“ findet sein Ende – „Dann waren Sie der Richter und ich der Henker
3.5. Abschließende Gedanken und Ausblicke

4. „Der Verdacht“ – wie Hans Bärlach vom Zufall verlassen wird.
4.1. Drei Vorgeschichten.
4.2. Die Detektion – „Das Mögliche und das Wahrscheinliche sind nicht dasselbe.“
4.3. „Zweiter Teil“ – Ankunft in der Kälte „Sonnensteins
4.4. Die Überwältigungsgeschichte
4.5. Abschließende Gedanken und Ausblicke

5. „Das Versprechen“
5.1. Der Fall Gritli Moser – „Die Gerechtigkeit hat gesiegt
5.2. Matthäi nimmt die Detektion auf
5.3. Wahnsinn als System: Raubfische fängt man mit etwas „Lebendigem
5.4. Abschließende Gedanken und Ausblicke

6. Nachwort

7. Literaturangaben

1. Vorwort

Die vorliegende Magisterarbeit befasst sich mit dem Phänomen des Zufalls in den ersten beiden Kriminalerzählungen Dürrenmatts „ Der Richter und sein Henker “ (1952) und „ Der Verdacht. Ein Kriminalroman “ (1953), sowie mit dem vierten Roman „ Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman “ (1958).[1] Die der Arbeit zu Grunde liegende These ist, dass dem literarischen Zufall eine Sonderstellung im Werk des Autors zukommt, sowohl als Kompositionsprinzip sowie als Ereignis und als Bestandteil der Gedankenwelt der Figuren.

Aus rein pragmatischer Sicht war es nicht möglich eine ausführliche Behandlung aller vier Erzählungen im Rahmen des der Arbeit vorgegeben Umfang zu gewährleisten. Um andererseits nicht auf der Oberfläche verhaften zu bleiben, musste eine Erzählung ausgeklammert werden. Dass dabei die Wahl auf die genannten Erzählungen, unter Ausschluss des dritten Romans „ Die Panne “, fiel, lässt sich damit begründen, dass die drei Erzählungen als Kriminaltrilogie über die ausschlaggebende Rolle des Zufalls in der Welt und dem menschlichen Leben eine Einheit bilden, während „ Die Panne “ außen vor bleibt.

So bilden zunächst der „ Der Richter und sein Henker “ und „ Der Verdacht “ eine Einheit, da sie als Fortsetzungsromane unmittelbar hintereinander geschrieben wurden. Protagonist beider Romane ist der Kommissar Bärlach und auch temporal, im Hinblick auf die erzählte Zeit, stellt die Erzählung „ Der Verdacht “ eine Kontinuität zu vorhergegangen her. Durch zwei konträr zueinander angelegte Antagonisten Bärlachs akzentuiert Dürrenmatt eine jeweils andere Zufallsproblematik, die den komplementären Charakter der beiden Erzählungen ausmacht.

„Das Versprechen “ bildet den Schlussstein bei der Auseinandersetzung des Autors mit der Gattung der Kriminalerzählung mittels des Zufalls. Noch stärker als in den vorangegangenen Erzählungen, wird der Zufall hier zur strukturbestimmenden Kategorie. Hartmut Kircher, der an dieser Stelle stellvertretend für die in der Forschung vorherrschende Meinung herangezogen werden soll, geht davon aus, dass die ersten beiden Romane den letzten vorbereiten. „Der Zufall stellt eine Art zyklischer Verbindung zwischen den drei Texten her.[2] Dieser These schließt sich die vorliegende Arbeit an.

Die Wahl des Themas ist dadurch legitimiert, dass in der jüngeren Dürrenmatt- Forschung vor allem die Aufmerksamkeit auf das zu Lebzeiten des Autors unterschätzte epische Spätwerk fällt. Ján Jambor geht dabei davon aus, dass es wichtige Zusammenhänge zwischen Dürrenmatts Spätwerk und seinen früheren Romanen, unter anderem bezüglich des Zufalls, gebe. Somit kann die Untersuchung der Grundlagen und Anfänge Dürrenmatts epischen Werks auch neue Impulse und Bereicherungen für die Beschäftigung mit dem Spätwerk geben.[3]

Seit den 70er Jahren versucht die literaturwissenschaftliche Germanistik, den Zufall in den Texten Dürrenmatts systematisch zu erforschen. 1971 erscheint die Studie Ulrich Profitlichs „ Der Zufall in den Komödien und Detektivgeschichten Dürrenmatts “, die, wie dem Titel zu entnehmen, die Zufallsproblematik in der epischen Kriminalliteratur aus den 50er Jahren berücksichtigt. Die fünf Jahre später erscheinenden Arbeit Wlodzimierz Bialiks „ Der Zufall in der Detektivgeschichte Friedrich Dürrenmatts “, die später zum Bestandteil der Dissertation „ Die Ästhetisierung der Kategorie des Zufalls im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts “ wird, erhebt die Problematik zum Hauptgegenstande der Untersuchung.

Ebenfalls in den 70er Jahren erscheinen die Untersuchungen von Donald G. Daviau (1972) und Bodo Fritzen (1974). Sie sind aber nur bedingt von Interesse, da sie keine Typologisierungsversuche mit sich bringen, die auf die epische Kriminalliteratur des Autors übertragbar wären.

In den 80er Jahren erscheint dann ein Artikel David Rocks „ A Wager Lost – some Thoughts on the Role of Chance in Dürrenmatt “ (1987). Tatsächlich werden hier alle vier Kriminalerzählungen Dürrenmatts bedacht, jedoch beschränkt sich der Autor auf die inhaltliche Ebene und skizziert nur einige Gedanken über die Rolle des Zufalls. Von einer Typologisierung kann nicht die Rede sein. Ebenfalls in den 80er Jahren veröffentlicht Edgar Marsch „ Die Kriminalerzählung. Theorie – Geschichte – Analyse. “ (1983). Wenn auch diese Veröffentlichung vornehmlich der Kriminalerzählung als solcher gewidmet ist, findet sich hier ein längerer, sehr aufschlussreicher Abschnitt über die Demontage des klassischen Kriminalromans. Alle vier Kriminalerzählungen Dürrenmatts werden bedacht und unter Berücksichtigung Dürrenmatts theatertheoretischer Schriften und der besonderen Rolle des Zufalls analysiert.

1993 veröffentlicht Nae-Keum Lee ihre deutlich umfangreichere Dissertation „ Friedrich Dürrenmatts Konzeption des Zufalls unter besonderer Berücksichtigung der ‚Physiker’ “. Als Grundmodell der Zufallkonzeption zieht die Autorin jenes im Titel erwähnte Stück heran. Allerdings ist auch diese Arbeit wenig von Interesse, da die anderen Stücke Dürrenmatts nur bedingt berücksichtigt werden und die epische Literatur gar nicht bedacht wird. Die Ergebnisse Nae-Keum Lees beziehen sich fast ausschließlich auf „ Die Physiker “ und lassen sich methodologisch nicht auf die Kriminalliteratur des Autors anwenden.

Die jüngste Studie, „ Die Rolle des Zufalls bei der Variation der klassischen epischen Kriminalliteratur in den Bärlach-Romanen Friedrich Dürrenmatts “ von Ján Jambor, erschien im Jahr 2007. Der vielversprechende Titel kann die evozierten Erwartungen erfüllen. Nach einer detaillierten literaturtheoretischen und -historischen Einführung in die epische Kriminalliteratur als solche werden die Ergebnisse dieser Einführung auf das epische Werk Dürrenmatts übertragen. In einem weiteren Schritt kommt es zu einer methodologischen Einführung in die Problematik der Analyse und Interpretation des Zufalls in Dürrenmatts Texten. Im finiten Schritt wird die Analyse der Bärlach Romane „ Der Richter und sein Henker “ und „ Der Verdacht “ vollzogen.[4]

Blättert man die Sekundärliteratur zur Frage der Kriminalgeschichte nur oberflächlich durch, stellt man unmittelbar fest, dass das Hineinkonstruieren des literarischen Zufalls in diesem Genre als illegitim gilt. Wenn der Zufall doch Einzug hält, dann darf er keineswegs ausschlaggebende Rolle in der Aufklärung des Verbrechens spielen. In der kausalbedingten, präparierten und schematisierten heilen Welt des Detektivromans trägt der Detektiv durch logische Schlussfolgerungen immer den Sieg davon.

Kriminalromane mussten Dürrenmatt deshalb faszinieren, weil in ihnen die Stimmigkeit der Welt bis zum Exzess geführt wird, was für einen nicht naiven Menschen wie Dürrenmatt natürlich ein Absurdum sein muss. Die Möglichkeit, das traditionelle Kriminalschema zu parodieren, reizte Dürrenmatt und erwies sich zugleich als Entspannung und Erholung von seiner dramaturgischen Arbeit. Dabei nahm Dürrenmatt im Laufe der Beschäftigung mit dem Genre immer stärker Anstoß an den Konventionen der Gattungsstruktur, indem er seine eigene Weltsicht der des klassischen Kriminalromans gegenüber stellte.

Was bewegte Dürrenmatt also, sich trotz seines der Gattungskonvention widersprechenden Weltbilds, sich mit dem Genre auseinanderzusetzen?

Aus der Entstehungsgeschichte der drei Kriminalerzählungen geht hervor, dass ihr unmittelbarer Anlass Anfang der 50er Jahre eine schwierige finanzielle Situation war, bedingt durch mehrere Faktoren: Die wirtschaftlich nicht ausreichenden Einnahmen als Theaterkritiker für die „ Weltwoche “, die Auflösung des Kabaretts „ Cornichon “ als eine vertraglich gesicherte Einnahmequelle, der notwendige Spital-Aufenthalt Dürrenmatts, bei dem Diabetes diagnostiziert wurde und der Krankenhausaufenthalt seiner schwangeren Frau.

Die Entwürfe hatten essentiell ein Gestaltungsprinzip zur Grundlage: Ihre Thematik musste direkt verleger- und indirekt publikumswirksam sein, um dem Autor das nötige Geld einzubringen. Der Bestseller der damaligen Zeit hieß in der Schweiz Kriminalroman. Populär war schon in den 30er Jahren „ Der Wachtmeister Studer “ von Friedrich Glauser. Den sensationellen Erfolg aber verbuchte 1950/51 die vom Rundfunk ausgestrahlte Kriminalserie „ Inspektor Wäckerli. [5]

In den Selbstaussagen Dürrenmatts findet man zudem einige sich widersprechende Selbstaussagen über seine Hinwendung zur Gattung.

Wie besteht ein Künstler in einer Welt der Bildung, der Alphabeten? Eine Frage, die mich bedrückt, auf die ich noch keine Antwort weiß. Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet. Die Literatur muss so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig.[6]

Diese ältere und damit aber entstehungsgeschichtlich näher an den Kriminalerzählungen liegende Aussage steht im Gegensatz zu den Überlegungen Friedrich Dürrenmatts kurz vor seinem Tod, die durch Michael Haller dokumentiert sind. Hier treten gattungsästhetische und –philosophische Motive deutlich in den Hintergrund und die Reflexionen des Autors bekommen einen programmatischen, aber auch etwas bitteren Charakter.

[…] ich kann heute schreiben was ich will […]. Das kann ich mir heute leisten. […] Ich schreibe heute keine Kriminalromane mehr. Ich habe sie geschrieben, als ich es nötig hatte zu schreiben. Heute kann ich schreiben, was ich will.[7]

Der Wahrheitsgehalt der Selbstaussagen des Autors soll aber nicht Gegenstand der hier vorliegenden Untersuchung sein. Von Interesse sind sie aber dennoch in allen drei zu untersuchenden Kriminalerzählungen, da beide Positionen hier wieder auftauchen werden, indem der Autor sie zum Gegenstand des Romans macht.

Bevor aber mit der Analyse der Erzählungen in chronologischer Reihenfolge begonnen werden kann, ist diesem Teil der Arbeit ein theoretisches Kapitel vorangestellt, welches sich wiederum aus vier Teilen zusammensetzt. Während sich der erste und zweite Teil mit dem literarischen Zufall an sich auseinandersetzt, eine Begriffsbestimmung von Zufall und Kontingenz vorgenommen werden soll und historische Veränderungen innerhalb der romanspezifischen Verwendung des Zufalls dargestellt werden, ist der dritte und vierte Teil der charakteristischen Verwendung des literarischen Zufalls im Werk Friedrich Dürrenmatts gewidmet. In einem kurzen Abriss sollen zunächst die den Zufall betreffenden theatertheoretischen Ideen und weltanschaulichen Konzepte des Autors skizziert werden und dann unter Berücksichtigung des bereits dargestellten Forschungsstandes ein Typologisierungsversuch des Zufalls vorgenommen werden.

Darüber hinaus geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass das Genre der Detektiverzählung Dürrenmatt über den finanziellen Aspekt hinaus reizen musste, da es auf Grund seines Vernunftglaubens als literarische Ausprägung am stärksten mit dem vom Autor propagierten Weltbild bricht. Indem die Analyse neben den Hauptaspekt des literarischen Zufalls auch die idealtypische Kriminalerzählung in die Untersuchung einbezieht, soll nachgewiesen werden, dass Dürrenmatt geschickt zwischen Gattungsinnovation und Linientreue zum Genre wechselt. Damit konnte Dürrenmatt den gattungskonventionellen Erwartungen seiner Leser einerseits nachkommen und gleichzeitig mit diesen brechen.

Auch der Zufall ist nicht unergründlich:

er hat seine Regelmäßigkeit

(Novalis)

2. Theoretische Überlegungen – Der literarische Zufall

Versucht man in der Literatur und Forschung eine einheitliche Begriffsbestimmung für das Phänomen Zufall im Allgemeinen zu finden, wird man sich sehr schwer tun. Dies hängt vor allem mit der Ambivalenz und Ambiguität des Phänomens selbst zusammen.[8]

Der Zufall ist eine Kategorie der Wirklichkeitserfahrung. Sie muss sich mit der eingeschränkten Erklärbarkeit von Koinzidenzen abfinden. Die meisten einschlägigen Lexika stimmen mit dieser Definition überein, da auch für sie im Zusammentreffen von Ereignissen das Wesen des Zufalls liegt.[9]

Zufall, Begriff für alles, was nicht notwendig oder beabsichtigt geschieht; das Zusammentreffen von nicht absehbaren Ereignissen. Setzt man die absolute Gültigkeit des Kausalprinzips voraus, d.h. ein Weltmechanismus, nach dem alle Geschehnisse vorausbestimmt sind, so wird das Zufällige zur bloßen Erscheinungsform des Notwendigen.“[10]

Niemand wird bestreiten, dass der Zufall primär als individuelle Erlebniskategorie erfahren wird. Zugleich ist der Zufall aber ein komplexes und diffiziles Problem der philosophischen Wirklichkeitserklärung, in der die Kontingenz schon seit Aristoteles diskutiert wird. Aristoteles gilt als wichtigster philosophischer Klassiker der griechischen Frühgeschichte, der sich mit dem Zufallsbegriff auseinandersetzt, während die Annahme, auch die Topik beschäftige sich mit dem Zufall, eine moderne Assoziation ist.[11]

Doch schon das lateinische Wort contingit hat wieder zahlreiche Bedeutungen. Als ursprüngliche Bedeutung von Kontingenz wird oft das Nicht- oder Andersseinkönnen genannt. Immanuel Kant setzte wahrscheinlich erstmals die Begriffe Zufall und Kontingenz gleich.[12] Michael Makropoulus findet aber dennoch eine einfache und bündige Definition, wenn er sagt, kontingent sei, was auch anders möglich ist.[13]

In Leibnitz’ Kontingenzlehre wird deutlich, dass es sich dabei um einen Grenzbereich zwischen Logik und Ontologie handelt. Das Zufällige ist hier noch ein Mögliches, das wirklich wird, weil es dem göttlichen Willen entspricht. Sowohl die klassische idealistische Philosophie, als auch deren materialistische Weiterführung und Aufhebung haben sich mit diesem Problem auseinander gesetzt.[14]

Als autonome Komponente der objektiven Wirklichkeit findet der Zufall Eingang in die mimetische Darstellung der Kunst. Dabei ist der erzählte Zufall der dargestellten Welt keineswegs identisch mit dem der objektiven Wirklichkeit.[15]

In der folgenden Arbeit wird nur der Zufall, der den Figuren auf der Ebene der Handlung begegnet, mit einbezogen. Der methodologische Zufall, der sich auf die offene Struktur des literarischen Werkes oder unmotiviertes Verhalten der Figuren beziehen würde, bleibt außen vor.

Betrachtet man den Forschungsstand zum Thema des literarischen Zufalls, fällt zunächst auf, dass das Angebot an literarischen Veröffentlichungen recht bescheiden ist. Abgesehen von vier umfangreichen Arbeiten, deren Erscheinungen bereits weiter zurück liegen und auf die in Kürze eingegangen werden soll, gibt es nur wenige Bücher und einige Abhandlungen, die meist den literarischen Zufall auf einen bestimmten Autor und ein bestimmtes Werk beziehen. Richard Kühnemund[16] beschäftigt sich mit Shakespeare, Norbert Kaul[17] und Christel Krauß[18] mit Aristoteles und Paul Valéry. Peter Hermann[19] untersucht ihn bei Kleist, Ulrich Profitlich, Edgar Marsch und … tun dies, wie schon aufgeführt, bei Dürrenmatt, Hans Mayer[20] bei Camus und Peter Handke, um nur einige zu nennen.

Die erste dem Problem gewidmete umfangreiche Veröffentlichung ist die von Ernst Nef „ Der Zufall in der Erzählkunst “ (1970). Im ersten Teil dieser monographischen Untersuchung wurde ein Versuch zur Definierung des literarischen Zufalls unternommen und im zweiten Teil auf seine geschichtlichen Tendenzen eingegangen.

Zentrale These der Arbeit ist die Annahme, der literarische Zufall sei ein legitimes Mittel der Erzählkunst.[21] Seiner Definition folgend, wären Koinzidenzen von Begebenheiten als literarischer Zufall zu verstehen, wenn sie zum Fortgang der Handlung beitrügen und weder direkt vom Erzähler noch unmittelbar in der Handlung hergeleitet würden.[22]

Ernst Nef beschäftigt sich exemplarisch mit bekannten Romanen von Voltaire über Kleist, Eichendorff, Fontane, Döblin und vielen mehr. In einzelnen Kapiteln untersucht er die Rolle der akzidentiellen Begebenheiten und ihren Einfluss auf die Personen sowie die überinhaltlichen Bedeutungen. Im zweiten Teil kommt Ernst Nef zu dem Schluss, ein gemeinsamer Nenner der literarischen Zufälle im Laufe der Geschichte sei ihre allmähliche Säkularisierung. Dies stehe im Zusammenhang mit der Weltanschauung des Verfassers selbst, was Ernst Nef zu der Behauptung führt: „Erzählweisen haben ideologischen Charakter.[23]

Wlodzimierz Bialik weist aber zu Recht darauf hin, „[…] daß die Erzählweise […] auch als unbewußte, mit literarischen Mitteln geäußerte Ideologie betrachtet werden muß.[24] Den bewusst oder unbewusst intendierten ideologischen Charakter kann der Rezipient nicht bestimmen. Er kann die im Werk enthaltenen Hinweise lediglich dekodieren.

Die These der Säkularisierung des erzählten Zufalls ist eine populäre Annahme, die sich auch bei anderen Autoren, namentlich z.B. Klaus-Detlef Müller oder Erich Köhler finden lässt. Erich Köhlers Arbeit „ Der literarische Zufall, das Mögliche und Notwendige “ (1973) soll als weiterer interessanter Schritt für die Untersuchung dieses Phänomens gewertet werden. Anders als Ernst Nef verzichtet Erich Köhler auf monographische Untersuchungen. Erich Köhler ist Romanist und als solcher beruft er sich in seiner Studie vornehmlich auf Werke der französischen Literatur. Die ersten drei Kapitel widmen sich dem Zufall in seinem literaturgeschichtlichen Wandel. Er beginnt im Altertum bei den Mythen, erstreckt sich über den höfischen Roman bis hin zur späten Aufklärung, etc. Insgesamt meint er, drei Epochen ausmachen zu können: Erstens die der Providenz, welche mit der radikalen Säkularisierung endet.[25] Zweitens die der Kausalität und Kontingenz, in der die Ideologie des Bürgertums auf die Kausalität setzt, „[…] die den Zufall als bloß undurchschautes Glied in der lückenlosen Kausalkette, oder aber als individueller Motor der Entwicklung in eine Teleologie des unaufhaltsamen Aufstiegs integriert.[26] Am Ende steht das Zeitalter der Absurdität, beginnend mit der Modernen. Anders als bei Ernst Nef endet aber bei Erich Köhler das Vorhandensein des Zufalls in der Erzählkunst nicht mit der Modernen.

Maßgebliche Bedeutung hat Erich Köhlers These, dass jeder Zufall die Negation eines vorgegebnen Ordnungsprinzips darstellt und erst durch die Anwendung dieses Ordnungsprinzips als solcher erkannt werden kann.[27] Auch Ernst Nef pflichtet dieser These bei und leitet daraus ab, dass, da die moderne Erzählkunst sich jeglichen Ordnungsprinzips entledigt hätte, auch der Zufall nicht mehr darstellbar sei.[28] Einerseits stimmt Erich Köhler dem zu, das Ordnungsprinzip als Maß für den Zufall sei tatsächlich verschwunden, habe sich aber lediglich in Unordnung verkehrt, in Absurdität und werde somit zum Konstitutiven.[29]

In einem weiteren Kapitel bearbeitet der Autor die Rolle des Zufalls in der Geschichte und entfernt sich damit vom literarischen Zufall. Am Ende der Untersuchung gelingt Erich Köhler allerdings mit einem Kapitel über literaturwissenschaftliche Folgerungen zum ursprünglichen Thema zurückzukehren. Ableitbare Dialektik von Zufall und Notwendigkeit der allgemeinen Geschichte werden auf die Literaturwissenschaften übertragen.[30]

Die Arbeit von Wlodzimierz Bialik „ Die Ästhetisierung der Kategorie des Zufalls im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts “ (1978) schließt sich an die Arbeiten der beiden vorangegangenen Autoren an und nimmt Referenz auf diese. Als Abgrenzung zu Ernst Nef und Ernst Köhler betont der Autor, den Zufall als „interpretatorisches Prisma“, also mit instrumentaler Anwendung benutzen zu wollen.[31] Anhand von acht ausgewählten Werken versucht der Autor, weltanschauliche Inhalte, die sich hinter dem literarischen Zufall verbergen, freizulegen. In einem letzten Kapitel bemüht sich Wlodzimierz Bialik, allgemeingültige Aussagen zum literarischen Zufall bezüglich seiner literarischen Erscheinungsformen zu treffen. Dieser kleiner Teil der Veröffentlichung ist deswegen so interessant, weil er sich anders als seine Vorgänger mit dem wie funktioniert der literarische Zufall und nicht dem was macht der literarische Zufall, beschäftigt.

Im gleichen Jahr erscheint auch der Aufsatz „ Der Zufall im Roman. Anmerkung zur erzähltechnischen Bedeutung der Kontingenz “ von Klaus-Detlef Müller. Wie auch schon seine Vorgänger sieht dieser Autor in der Säkularisierung des theologischen Geschichtsbildes einen wichtigen Einschnitt für den literarischen Zufall. Da die Säkularisierung nur kausale Begründungen zulässt, klammert es den Zufall als mögliche Erklärung aus.[32] Anders als Ernst Nef und Erich Köhler, die besonders eine inhaltliche Bestimmung und ästhetisch-philosophische Begründung in den Vordergrund stellten, versucht der Autor, ebenfalls anhand verschiedener Romane unterschiedlicher Epochen, die Erzählfunktion des Zufalls darzustellen.

2.1. Der Zufall im Werk Friedrich Dürrenmatts

Es ist der wissenschaftliche Diskurs der Nachkriegszeit, der Dürrenmatt in seinen Bann zieht und beeinflusst. In erster Linie die Quantenmechanik, welche die klassische Newtonsche Physik ablöst und damit das bis dato vorherrschende Ursache-Folge-Denken des Kausalprinzips außer Kraft setzt und per se das einzelne Ereignis als

interdeterministisch ansieht, misst dem Zufall besondere Bedeutung zu.[33] Als weiterer wichtigerer Impuls ist die Unschärferelation Heisenbergs zu nennen, welche davon ausgeht, dass die unvermeidbare Unbestimmtheit des Anfangszustands eines Teilchens, auch dessen exakte Vorausberechnung für künftige Bewegungen unmöglich macht.[34] Die Rezeption dieser und ähnlicher naturwissenschaftlicher Theorien, sowie die „ Philosophie der Naturwissenschaften “ (1939) Arthur Stanley Eddingtons, bestätigt auch Dürrenmatt selbst.[35]

Doch auch der literaturwissenschaftliche Diskurs der Nachkriegszeit bringt Werke hervor, die sich unmittelbar mit dem Zufall auseinandersetzen, wie zum Beispiel der Aufsatz Edgar Gross „ Dichtung und Zufall “ (1950), um nur ein Beispiel zu nennen. Besonderes die Werke der im Nationalsozialismus als entartete Kunst diffamierten avantgardistischen Richtung des Dadaismus und Surrealismus, welche den Zufall als zentrales Produktionselement erhoben, erfahren in den deutschsprachigen Ländern der Nachkriegszeit eine Renaissance z.B. durch die literarisch-politisch motivierte „ Wiener Gruppe.[36]

1950 erscheint dann der erste Kriminalroman von Patricia Highsmith „ Strangers on a Train “ (1950/51), der die Geschichte eines fast perfekten Mordplans erzählt und der ähnlich wie die Kriminalliteratur Dürrenmatts innerhalb der moralischen Kausalkette experimentiert. Die zufällige Begegnung zwischen Charles Bruno und Guy Haynes bringt diese auf die Idee, jeweils für den anderen einen geplanten Mord zu begehen, um so für die Polizei ein Motiv unmöglich zu erkennen zu machen.

Mit der Aleatorik bringt auch die Musik eine dem Zufall geneigte Spielform hervor. Die dem Interpreten anheim gestellte schöpferische und insofern zufällige Realisierung der Komposition bewegt sich zwischen freier Ausführung innerhalb eines festen Strukturmodells und völlig freier Gestaltung auf Grund von verbalen Anweisungen oder einer musikalischen Graphik.[37]

Dies sind die Zeitumstände, in welchen Dürrenmatt, neben seinen Texten für das Theater, auch seine autopoetische Theatertheorie entwickelt. Sie soll Ausgangspunkt für die anstehende Untersuchung sein. Damit wird dem Beispiel Edgar Marsch Folge geleistet, welcher vor der Behandlung Dürrenmatts Kriminalliteratur dessen Dramaturgie des Konflikts bespricht.[38] Möglich ist dies unter anderem, da Dürrenmatt bei der Unterscheidung von Drama und Prosa sowohl auf produktionsästhetische Trennlinien verweist, als auch auf gattungsspezifische, nämlich die zeitlich-rezeptive Unmittelbarkeit und aufführungsspezifische Darstellungsmittel des Theaters. Im Roman kommt alles an die Oberfläche, alles kann beschrieben werden: Personen, Stimmung, etc. Der Autor macht die Dialoge und ist zu gleich Leiter des Geschehens. Das heißt, er ist souverän. Beim Drama wird gar nicht erst alles Wichtige aufgeschrieben, sondern lediglich ganz bestimmte Resultate einer Denkarbeit. Alles weitere wird erst in der Aufführung geleistet. Dies hängt vor allem mit Dürrenmatts Dramaturgie des Experiments und seinem Bühnenpragmatismus zusammen, von der er erst in den 50er - 70er Jahren durch Enttäuschungen und misslungene Inszenierungen abrückt.[39]

Mit der Katastrophe des zweiten Weltkriegs und der Infragestellung von Kategorien, Werten und Kriterien verliert auch Dürrenmatt die Zuversicht in die traditionelle Form des Dramas, vor allem der des „geschichtlichen Dramas Schillers[40]. Einer Welt, die anonym und undurchsichtig geworden ist, sei in dieser Form nicht mehr beizukommen.

Im Labyrinth hat Dürrenmatt ein Bild gefunden, das seine Vorstellung der Welt zu fassen vermag. Kennzeichen für das Labyrinth ist, dass der Versuch sich über das Labyrinth einen Plan zu machen, scheitern muss. Es ist zum einen des Bild der Existenz des Menschen, der nie weiß, was hinter der nächsten Ecke lauert und zugleich, das Bild der Welt: Je mehr Gänge der Mensch entdeckt, umso verzweigter werden sie. Je mehr er weiß, umso mehr weiß er auch nicht. Das Labyrinth ist die sinnliche Darstellung eines nicht-ideologischen Weltbilds und zugleich repräsentativ für Dürrenmatts Geschichtsbild. Da Historie immer nur notdürftige, fragmentarische Hypothesen und als Ganzes in allen Einzelheiten gar nicht darstellbar sei, müssten auch historische Darstellungen immer abstrakt sein.[41] Da Geschichte verästelt ist, teils in Sackgassen endet, ist auch sie im Bild des Labyrinths verhaftet. Aus diesem Lebensgefühl resultiert Dürrenmatts Ablehnung der Tragödie zu Gunsten der Komödie als adäquate Einzelgattung des Dramas.

Die Tragödie, als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine gestaltete Welt voraus. Die Komödie – sofern sie nicht Gesellschaftskomödie ist wie bei Molière – eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am zusammenpacken ist wie die unsrige.[42]

Hervorstechendes Kennzeichen der Komödie ist für Dürrenmatt der Einfall, die groteske Situation, welche den komischen Konflikt schafft, womit der Autor zurück geht auf die attische Komödie des Aristophanes. Anders als im Drama, leben die Komödien des Aristophanes für Dürrenmatt vor allem vom Einfall und dieser wiederum ist es, der die Distanz zum Publikum schafft. Der Einfall ist zum einen der unvermittelt auftauchende Bühneneinfall des Autors und zum anderen das Hereinbrechen des Unberechenbaren. In eine scheinbare geordnete, erklärte, verstehbare und normale Welt bricht das Unvorhersehbare, eigentlich nicht Mögliche, Groteske, welches alles in Frage stellt. Es wird das Problem aufgeworfen, was mit einer Welt, die den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie unsere unterworfen ist, geschähe, wenn sie mit dem eigentlich Unmöglichen konfrontiert wäre.[43] Das was sich unwahrscheinlich ereignet, ist der dramatische Vorfall. Das, was wahrscheinlicher Weise geschieht, ist der dramatische Ablauf.

Daraus ergibt sich ein schrittweises Zusammenbrechen des untauglich gewordenen Weltbilds, die Verzerrung zum Grotesken, zum Absurden und das Aufdecken von wirklichkeitsimmanenten Tendenzen. Die Welt soll durchdacht werden, indem sie durchspielt wird. Das daraus entstehende Resultat dieses Denkprozesses ist nicht eine neue Wirklichkeit, sondern ein komödiantisches Gebilde, in dem die Wirklichkeit durchdacht wird. Dürrematt konstruiert Unwahrscheinlichkeiten, die jedoch möglich und potentiell wirklich sind. Kausalität lässt sich erst in der Retroperspektive festhalten. Dargestellt wird die Undurchschaubarkeit der Welt und das Unvermögen des Menschen, diese zu meistern. „Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht vorhersehbar. Sie tritt durch den Zufall ein.[44] Ziel ist es, die in der Wirklichkeit innewohnenden Tendenzen zur Verzerrung ins Groteske bloßzustellen. „Eine Geschichte ist dann durchdacht, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat.[45] Sie bricht am stärksten mit dem Wunschdenken, deswegen ist es der Mensch, der am planmäßigsten vorgeht, den der Zufall am härtesten trifft.[46] Es ist die Undurchschaubarkeit der Welt und das Unvermögen des Menschen, welches dargestellt wird. Durch die Komödie aber wird das bedrohliche Widersinnige in eine Distanz gerückt, von der es als komischer Widersinn ertragen und belacht werden kann. „Der Dramatiker kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder gar sie zu bezwingen.[47]

Das Groteske und Absurde stehen immer in Opposition zu dem Normalen, wodurch die Irritation des Rezipienten auftritt.[48] Es ist der sinnliche Ausdruck des Paradoxen. Die eigentlich bedrohliche Widersinnigkeit der Wirklichkeit wird durch das Groteske aufgedeckt. Oft scheint das Schicksal bei Dürrenmatt erst auf Umwegen, durch die sprichwörtliche Hintertür, in das Geschehen einzugreifen. Das Schicksal als von Gott bestimmte höhere Instanz ist aber ausgeschaltet, es erscheint immer als Unfall und Zufall. Damit prägte Dürrenmatt eine wichtige Gattung, nämlich die der Tragikkomödie.

Doch ist das Tragische immer noch möglich, auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorzubringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund […]“[49]

Aber im Gegensatz zum Absurden, welches das Leben alles umfassend als sinnlos deutet, erhält sich das Groteske seine spezifische negative Sinndeutung. Darum legt Dürrenmatt strikt Wert darauf, nicht mit dem Theater Eugène Ionescos oder Samuel Becketts gleichgesetzt zu werden. Das absurde Theater und somit auch der Begriff des Absurden sind nach Dürrenmatts eigener Definition nicht auf sein Werk übertragbar. Die nackte Veranschaulichung der Fragwürdigkeit des Lebens, die selbst dessen Sinn radikal verneint, hat nichts mit dem Theater Dürrenmatts gemein.[50]

Dürrenmatts Auffassung des Zufalls, wie sie hier schon vorgeführt wurde, passt sich nahtlos an diese Darstellung des Zufalls in der Koinzidenz an: „Der Zufall in der dramatischen Handlung besteht darin, wann und wo wer zufällig wem begegnet.[51] Die anthropozentrische Vorstellung vom Zufall ist für Dürrenmatt als Nachfolger Søren Kierkegaards, der als Mitbegründer der Existenzphilosophie gilt, deren Zentrum die Existenz des Menschen im weitesten Sinne ausmacht, konvenabel.[52]

Auch wenn Dürrenmatt eine umfangreiche Sammlung an theoretischen und dramaturgischen Schriften hinterlassen hat, muss ein Urteil über diese doch ambivalent ausfallen. Keineswegs hat Dürrenmatt eine systematische und konsequente Literaturtheorie mit definierten Begriffen hinterlassen. Dafür war er zu wenig Theoretiker, sondern Praktiker und hatte einen solchen Anspruch an sich auch gar nicht. Nichtsdestotrotz oder vielleicht auch gerade deshalb haben seine Thesen eine weite Verbreitung gefunden. Beschäftigt man sich mit Dürrematts Texten, wird man nicht darum herum kommen auch die theoretischen Texte zu rezipieren.[53]

2.2. Typologisierungsversuch des Zufalls in den Kriminalerzählungen Friedrich Dürrenmatts

Nach Ulrich Profitlich lassen sich, ausgehend von drei verschiedenen Narrentypen in den Texten Dürrenmatts, zwei Gruppen von Zufällen bestimmen. Die erste Gruppe hat ihren Platz zu Anfang einer Handlungseinheit, unabhängig davon, ob es sich um eine Haupthandlung oder eine Episode handelt. „Durch eine Begegnung oder einen Fund kommt eine Figur dazu sich ein Ziel zu setzten, das dann ihr ferneres Verhalten bestimmt.[54] Während die erste Gruppe der Zufälle also die Zielsetzung der Figuren betrifft, definiert die zweite Gruppe die Möglichkeiten der Figuren, ihre bereits bestehenden Ziele zu realisieren. Innerhalb dieser Gruppe unterscheidet Ulrich Profitlich die Wirkungsmächtigkeit diese drei Fälle betreffend.[55] Im ersten Fall begünstigt der Zufall zwar das Ziel, garantiert die Umsetzung aber noch nicht. Im zweiten Fall schafft der Zufall eine Situation, aus der die Figuren in der Lage sind, aus sich selbst heraus und durch zweckmäßige Aktivität in der gegebenen günstigen Situation zum Ziel zu kommen. In der dritten Spielart wird der Zufall übermächtig, zum definitiven Zufall. Die Figuren sind handlungsunfähig und nur der Zufall entscheidet über ihr Gelingen oder Scheitern.[56]

Auffallend bei Dürrenmatt ist, dass, wer im Werk Dürrenmatts vom Zufall begünstigt ist, in aller Regel seine Ziele erfolgreich erreicht; wem dieses Glück nicht zuteil wird, gelangt durch den ungünstigen Zufall nicht nur in Bedrängnis oder Gefahr, sondern die drohende Katastrophe wird fast immer Wirklichkeit.

Daneben unterscheidet Ulrich Profitlich zwischen unwahrscheinlichen Zufällen, die in ihrer Natur „spektakulär“, unglaubwürdig“, „offenkundig“ und „störend“ sind, und wahrscheinlichen Zufällen, die „der statischen Norm entsprechen“.[57] Erst genannte Gruppe hält Ulrich Profitlich für die wichtigere und sieht in ihr die eigentliche Kunst des Dramatikers den „Zufall möglichst wirksam einzusetzen“.[58] Damit verweist er besonders auf den qualitativen Wert der Zufälle im Werk Dürrenmatts, die „weniger durch ihre Menge, als durch ihren spezifischen Charakter auffällig“ sind.[59] Der Autor bestreitet den qualitativen Wert keineswegs, verweist darüber hinaus aber auch auf den quantitativen Wert, den auch die nachfolgende Interpretation belegen wird.[60]

Ján Jambor unterscheidet zwischen zwei Zufalls-Kategorien. Im ersten Fall handelt es sich um den „Zufall als Mittel des Handlungsverlaufs“, wobei er innerhalb dieser Gruppe noch einmal zwischen der thematischen und kompositorischen Ebene differenziert. Auf der ersten Ebene geht es darum, die Zufälle als solche zu erkennen. Auf der zweiten Ebene um die Funktion, die die Zufälle innerhalb des inneren Aufbaus des Textes erfüllen.[61] Dabei kann der Zufall Handlungsauslöser (die Handlung zustanden kommen lassen oder als Übergang von Exposition zur Kollision funktionieren), Handlungskatalysator (Mittel zur Handlungsakzeleration oder -Retardation, Tension oder Detension) oder Mittel zu Katastrophe, zur bestmöglichen oder „schlimmstmöglichen Wendung“ sein.[62]

Der zweite Fall der Zufallsbestimmung nach Ján Jambor ist der „Zufall als Bestandteil der Gedankenwelt der Figuren und der Äußerung des Erzählers“.[63]

Um diese Unterscheidung in die Untersuchung einfließen zu lassen, ist es vonnöten eine konsequente Handlungsverlaufsanalyse vorzunehmen: Also eine Segmentierung der Handlung und Überprüfung dieser nach oben definiertem Sinn.

Wie bereits im Vorangegangenen herausgestellt werden konnte, ergibt sich für Dürrenmatt die dramatische Handlung aus der Begegnung von Figuren. Darüber hinaus hält er in den „ 21 Punkten zu den Physikern “ fest: „Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen.[64] Demzufolge leuchtet es ein, auf der thematischen Ebene des Textes den Figuren und der gegenseitigen Beziehung zwischen Zufall und Figuren besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Ulrich Profitlich findet insgesamt vier Maximen, oder „Allgemeinaussagen über die Gesetzlichkeiten ihres [der Zufälle] Auftretens“, in denen er diese wechselseitige Beziehung definiert.[65] Dass dies aber nicht ohne weiteres gelingt, wird sich in der späteren Analyse der Romane zeigen. Vorwegnehmend kann aber schon darauf verwiesen werden, dass die Übereinstimmung mit dieser Klassifikation am höchsten in „ Das Versprechen “ ist.

Insgesamt handelt es sich um vier Maximen. Im ersten Fall werden an der Verwirklichung ihrer Ziele vor allem diejenigen Figuren gehindert, mit denen der Leser am meisten sympathisiert und die als Protagonisten fungieren, während nach der zweiten Maxime Antagonisten oder indifferente Personen vom Zufall profitieren oder es gar keinen Nutznießer gibt. Die dritte Maxime behandelt den Fall, dass Personen, die nicht übermäßig planmäßig vorgehen, mal hinderlich, mal förderlich den Zufällen ausgesetzt sind, während Perfektionisten fast ausschließlich am Zufall scheitern. Zuletzt macht Ulrich Profitlich aus, dass, je größer die Opferbereitschaft der Figuren ist, je bedingungsloser und radikaler sie vorgehen, sie genauso vom Zufall ruiniert werden, wie die planmäßig Vorgehenden.[66]

Ähnlich wie Ulrich Profitlich findet auch Ján Jambor eine Typologisierung, in der er wie folgt unterscheidet: a) Die Figur steht außerhalb der Macht des Zufalls, ist also von ihm ausgenommen, b) die Figur selbst verkörpert den Zufall, indem sie zu dessen Allegorie wird, c) die Figur ist durch den Zufall betroffen, im positiven, wie im negativen Sinne oder d) die Figur ist dem Zufall ausgeliefert.[67]

Darüber hinaus kann man feststellen, dass die Figuren im Bereich der Aktion entweder eine aktive Stellung gegenüber dem Zufall einnehmen, d.h. die Figuren verwalten den Zufall, sie können ihn einkalkulieren, eliminieren oder selbst scheinbare Zufälle herausarbeiten, oder ein passive Stellung einnehmen, so dass sie auf dessen Eintreten hoffen und nur noch als Nutznießer oder Opfer des Zufalls funktionieren.

Als „Bestandteil der Gedankenwelt der Figuren und der Äußerungen des Erzählers“, wird der Zufall auf sprachlicher Ebene vermittelt, nämlich durch die Weltanschauungen der Personen. Dabei unterscheidet man zwischen Figuren die a) dem Zufall die entscheidende Rolle in der Welt und im menschlichen Leben zuordnen, b) die unfähig sind die entscheidende Rolle des Zufalls zu akzeptieren, c) die Figur über- oder unterschätzt den Zufall und d) die die das Wahrscheinliche bevorzugen und den Zufall angemessen einschätzen.[68]

Neben der großen Anzahl an Figuren in den Texten Dürrenmatts, die bewusst über den Zufall reflektieren oder implizit nachdenken, gibt es auch jenen Teil der Figuren, die lediglich im Bereich der Aktion und nicht der Kontemplation angesiedelt sind.

Abschließend sei noch drauf verwiesen, dass zwar auf sprachlicher Ebene des Textes die Verwendung des Wortes Zufall und dessen Synonyme in der Untersuchung Priorität hat, dass aber nicht jeder sprachlich thematisierte Zufall ein solcher sein muss und andererseits nicht jeder sprachlich unerwähnte ausgeschlossen werden darf. Deswegen macht es Sinn, erneut in Anlehnung an Ján Jambor, folgende Unterscheidung, mit einhergehender Begriffsdefinition zu treffen.

Erstens der „nur thematisierte Zufall“, der zwar zum Gegenstand der Darstellung, jedoch nicht von einer der Figuren oder dem Erzähler benannt wird. Er ist zwar getarnt, jedoch per Definition von Zufällen in epischen Texten ausmachbar. Zweitens der „gekennzeichnete Zufall“. Er entspricht der Definition von epischen Zufällen und wird von einer der Personen gekennzeichnet. Drittens der „scheinbare Zufall“, dieser wird zwar vom Erzähler oder den Figuren als solcher gekennzeichnet, entpuppt sich aber als planvolles Handeln der Figuren. Viertens „akzentuierte Zufall“, der sogar noch sprachlich in seiner besonderen Funktion hervorgehoben wird.

Aufgrund der entwickelten theoretischen Basis soll nun in den folgenden Kapiteln eine dezidierte Analyse der drei Romane erfolgen.

[...]


[1] Datierung bezieht sich auf die erste Buchausgabe. Die später zitierten Ausgaben sind andere spätere Editionen.

[2] Hartmut Kircher: S.200

[3] Ján Jambor: S.15

[4] Bei der enormen Fülle an Veröffentlichungen über das gesamte Werk Dürrenmatts, ist dies natürlich nur eine sehr begrenzte, auf die Zufallsproblematik beschränkte Sichtung des Forschungsstandes. Studien die zwar Dürrenmatts Kriminalerzählungen, nicht aber die Zufallsproblematik berücksichtigen wurden nicht miteinbezogen, wenngleich sie aber teilweise im Literaturverzeichnis aufgeführt wurden.

[5] vgl. zur Entstehungsgeschichte: Peter Spycher: S.124 & Gerhard Knapp, 1993: S.39

[6] Friedrich Dürrenmatt 1954: S.131

[7] Friedrich Dürrenmatt 1993: S.85

[8] Franz-Josef Wetz: S.27

[9] z.B. dtv- Lexikon/ Neues Universallexikon, Lingen

[10] Das neue Taschenlexikon: Band 19/ S.83

[11] Herman Lübbe: S.142

[12] Franz-Josef Wetz: S.28

[13] Michael Makropoulos: S.64

[14] Heinrich Scheppers, 1963: S.901-914 & Heinrich Scheppers 1965: S. 326-250

[15] Wlodzimierz Bialik: S.3

[16]Die Rolle des Zufalls in Shakespeares Meistertragödien “ (1923)

[17]Der Zufall und die Theorie des tragischen Handlungsablaufes bei Aristoteles “ (1965)

[18]Der Begriff des Hasard bei Paul Valéry. Theorie und dichterische Praxis. “ (1969)

[19]Der Zufall und ich. Zum Begriff des Zufalls in den Novellen Heinrich von Kleist. “ (1961)

[20]Kaspar, der Fremde und der Zufall. Literarische Aspekte der Entfremdung“ (1969)

[21] Ernst Nef: S.5

[22] ebd.: S.7

[23] ebd.: S.111

[24] Wlozimierz Bialik: S.12

[25] Erich Köhler: Kapitel 1/ „Das Ende der Providenz“, S.16-43

[26] ebd. S.44

[27] ebd. S.166

[28] Ernst Nef: S.116

[29] Erich Köhler: S.98

[30] ebd. S.116

[31] Wlodzimierz Bialik: S.14

[32] Klaus-Detlef Müller: S.667

[33] dtv Lexikon 20: S.302

[34] dtv Lexikon 19: S.50

[35] Ján Jambor: S.126

[36] Metzler Lexikon- Literatur: S.831

[37] dtv Lexikon 1: S.104

[38] Edgar Marsch: S.249- 254

[39] Thorsten Roelecke: S.53-66

[40] Friedrich Dürrenmatt, 1954: S.119

[41] Friedrich Dürrenmatts Stück „Achterloo“ nimmt als erstes und einziges Stück Bezug zur Zeitgeschichte.

[42] Friedrich Dürrenmatt, 1954: S.121

[43] Theater ist keine mimetische Wiedergabe der Realität, sondern Bühnenwirklichkeit als Modell der Wirklichkeit – Parallele zum epischen Theater Brechts.

[44] Friedrich Dürrenmatt, 1962: S.193

[45] Ebd.

[46] Ebd.

[47] Friedrich Dürrenmatt

[48] Martin Burkard: S.41

[49] Friedrich Dürrenmatt, 1954: S.123

[50] Martin Burkard: S.45

[51] Friedrich Dürrenmatt, 1962: S.193

[52] dtv-lexikon 9: S.296

[53] Jürgen Kost: S.127

[54] Ulrich Profitlich: S.263

[55] ebd.

[56] ebd. S.263-265

[57] Ulrich Profitlich: S.276

[58] Anspielung auf: „Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen.“, Friedrich Dürrenmatt 1962: S.193

[59] Ulrich Profitlich: S.262

[60] Ulrich Profitlich: S.266 & Ján Jambor: S.140

[61] Ján Jambor: S.143/ 144

[62] Friedrich Dürrenmatt, 1962: S.193

[63] Ján Jambor: S.143/ 144

[64] Friedrich Dürrenmatt, 1962: S.193

[65] Ulrich Profitlich: S.272

[66] Ulrich Profitlich: S.272-273

[67] Ján Jambor: S.146

[68] Ján Jambor: S.147

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Der Zufall in den Kriminalerzählungen Dürrenmatts
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
2,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
94
Katalognummer
V149638
ISBN (eBook)
9783640608294
ISBN (Buch)
9783640608133
Dateigröße
846 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kriminalerzählung, Der Richter und sein Henker, Zufall, Der Verdacht, Das Versprechen, Kriminalroman, Dürrenmatt, Magisterarbeit
Arbeit zitieren
Magistra Artium Catrin Altzschner (Autor:in), 2009, Der Zufall in den Kriminalerzählungen Dürrenmatts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149638

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