Chinesische Strategeme

Eine Einführung


Studienarbeit, 2010

32 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 - Einleitung
1.1. Einleitung
1.2. Ziel der Arbeit
1.3. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

2 - Kulturelle Grundlagen Deutschland & China
2.1. Begriffe & Bedeutung / Verstandnis 1
2.1.1. Strategie
2.1.2. List
2.1.3. Strategem
2.1.4. Moulue
2.2. Begriffe & Bedeutung / Verstandnis 2:
2.2.1. Zeit
2.2.2. Krise

3 - Strategeme / Stratageme
3.1. Liste der 36 heute bekannten Strategeme nach Prof. von Senger
3.2. Grundkategorien / Arten der Strategeme:
3.2.1. Simulation
3.2.2. Dissimulation
3.2.2. Information
3.2.4. Ausmunzung
3.2.5. Flucht
3.2.6. Hybride Strategeme
3.2.7. Strategem-Verkettung
3.3. Transfer & Erscheinungsformen
3.3.1. in der Alltagskultur
3.3.2. im Kontext von Geschaftstatgigkeiten

4 - Personliches Fazit

5 - Literatur und Quellen
5.1. Literatur
5.2. Nachschlagewerke
5.3. Internet
5.2. Rohdaten der Google-Untersuchung

Verwendete Abkurzungen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 - Einleitung

1.1. Einleitung

Die geografische Region des heutigen China beheimatet eine Kultur, die rund 3000 (mancherorts wird auch 5000 erwahnt) Jahre uberdauerte und einen Zusammenhang von Beginn bis heute aufweist (Sprache, Schrift, Literatur). Auf diese Konsistenz sind viele Chinesen stolz und sie ist auch etwas Besonderes. Den Menschen dort ging es durch die Geschichte hindurch mal besser und mal schlechter. Sie erlebten blutige Kampfe und Unterdruckung, genossen im Vergleich zu Europa teilweise schon fruh technische Fortschritte und meist konnten die Chinesen ihre Ziele im Alltagleben auf gewohnliche Weise kaum erreichen (S.126, Lanfen 2008). Das Kustengebiet war wegen seiner Fruchtbarkeit immer dicht besiedelt.

Auch Europa hat eine lange Geschichte und die Menschen hier erlebten ebenfalls viel Ungemach und Schones - und trotzdem ist die chinesische Kultur anders. Sie unterscheidet sich grundlegend von der Europaischen. Sei es das andere Verstandnis der Zeit (Linearitat vs. Zirkularitat), die unterschiedliche Art zu schreiben (26 Buchstaben vs. ca. 50'000 Bildzeichen) oder die Art zu sprechen (Chinesisch kennt keine Konjugation). Psychologisch gesehen beeinflussen (oder bilden) die Sprache und die Sozialisierung das Denken der Menschen und das Denken fuhrt zum Handeln - und so begegnen sich Europaer und Chinesen als vollig unterschiedliche Menschen. Geht es beispielsweise um eine gemeinsame Zusammenarbeit, spielen kulturelle Einflussfaktoren eine grosse Rolle. Die zunehmende Beschaftigung mit interkultureller Kommunikation liess das gegenseitige Verstandnis in der kurzeren Vergangenheit sicher wachsen und brachte einander naher. Ein in Europa aber noch wenig bekanntes Phanomen beeinflusst die Zusammenarbeit wahrscheinlich noch weit starker: die List. In Europa wird sie meist verteufelt und in China mit Weisheit gleichgesetzt.

1.2. Ziel der Arbeit

Ziel dieser Arbeit ist eine einfuhrende Darstellung der chinesischen Listen. Dies auch mit einem Blick auf das unterschiedliche Verstandnis in Bezug auf die Perspektive der Strategieentwicklung im Managementbereich.

1.3. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

1988 veroffentlichte der Schweizer Sinologieprofessor Harro von Senger erstmals im deutschsprachigen Raum eine Liste mit 36 Strategemen (chinesische Listen). Die Grundlage meiner Arbeit sind diese Veroffentlichungen der chinesischen Listen von Harro von Senger und Veroffentlichungen, die sich auf seine Schriften beziehen (das sind, wenn auch in Teilen, die meisten). Ich bin mir bewusst, dass es andere Ansatze und Interpretationen gibt (z.B. Tung&Tung: „More Than 36 Stratagems: A Systematic Classification Based on Basic Behaviours" oder Chao-Hsiu

Chen: „Lachelnde List. 108 Erfolgs-Strategeme aus dem alten China“). Wichtig erscheint mir aber auch eine Erlauterung der Unterschiede der zusammenhangenden Grundbegriffe und die Klarung derer. Von Senger ist promovierter Jurist und arbeitete akribisch an der Ubersetzung und der Systematisierung der Listen (Arten, Kategorien, Zuordnung). Ich gehe hier von einer seriosen und tiefgreifenden Arbeit aus - was nicht bei allen Autoren der Fall zu sein scheint. Die Kontroverse beginnt mit der Deutung, Auslegung und Anwendung der Strategeme, bzw. der Entwicklung von geeigneten Gegenmassnahmen - und hier sind sich auch Chinesen mehr uneinig als einig, denn das Feld der Anwendung erstreckt sich von der Privatperson und dem kleinen Mann bis hin zum Staatsprasidenten (Mao Zedong und Deng Xiaoping waren grosse und belesene Strategen). Und mir scheint, es gibt einige Pramissen, uber die wenig Klarheit vorhanden ist, die aber das Verstandnis vor allem der Europaer fur die Chinesen erheblich verbessern wurden. Die Angst vor der «gelben Gefahr» geistert (grassiert!) zunehmend durch die Presselandschaft und die steigende Anzahl von Buchern uber die chinesische List tragt da kaum zu einer Abnahme dieser Angst bei.

2 - Kulturelle Grundlagen Deutschland & China

Wir im Westen sind gewohnt, uns als die dynamischen, Geschichte machenden, entwickelten und modernen Nationen anzusehen und den Rest der Welt als statisch, unterwentwickelt und traditionell. Wir gehen seit dem 18. Jahrhundert von einer positionellen Uberlegenheit des Westens aus und der Orient (nahen, mittleren und fernen Osten) war alles, was der Westen nicht war: despotisch, unfahig zur Demokratie und bevolkert mit gerissenen und grausamen Lugnern (S.108, Breidenbach 2000). Die europaische Identitat formte sich seither vor allem durch die Abgrenzung alldessen. Das Fremde sei dadurch ein Mythos, der den Europaern lange diente, um sich selbst wieder in den Griff zu bekommen (S.22, Duala M’bedy 1977).

Doch auch in China (was wir heute geografisch anerkennen), also im fernen Osten, sah man vor allem sich selbst. Bereits der Name «Reich der Mitte» (Zhonghua Renmin Gongheguo) weist darauf hin, dass man in China annahm, der Nabel der Welt zu sein. Das heutige China hatte nie hegemoniale Anspruche (von Tibet und Sinkiang abgesehen, die fruher einmal zum Qin-Reich gehorten, 200 v. Chr.) und Chinesen monieren heute, das Konzept des Sinozentrismus sei nur zwecks antichinesischer Stimmung geschaffen worden. So musste Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch das chinesische Selbstverstandnis mit Opium unterwandern, was aufgrund des darauffolgenden kaiserlichen Verbots zum ersten Opiumkrieg fuhrte. Europa und China schauen sich also auf etwa gleicher Hohe in die Augen, wenn auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts kurzzeitig die Waffengewalt der Europaer starker war.

2.1. Begriffe & Bedeutung / Verstandnis 1

2.1.1. Strategie

Strategen waren fruher Heeresfuhrer, denn „stratos“ heisst „Heer“ und „agein“ heisst „fuhren“ auf Griechisch. Strategie und die Auffassung derer ist so im Westen heute stark mit der griechischen Kriegsfuhrung (ca. 1200 v.Chr.) und der (Natur)Wissenschaft verbunden und beides zeigt bis heute Einfluss auf das westliche Denken (S.14, Jia Hanhan 2007). Das heute vorherrschende klassische westliche Konzept der Managementtheorie hat seine Wurzeln bei Frederick Taylor (Prozessteuerung & ..Scientific Management", 1895) und Henri Fayol (Funktionen des Managements, 1916), beides Ingenieure und Naturwissenschafter. 1928 kam mit der Spieltheorie von John von Neumann ein mathematischer Ansatz hinzu, der ab den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts einen enormen Boom erlebte. Viele Okonomen betrachten heute die Spieltheorie als formale Sprache der okonomischen Theorie (S.1, Holler 2009). Gegenstand der Spieltheorie ist die Analyse von strategischen Entscheidungssituationen (u.a. mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen). Den eigentlichen Keim fur das strategische Management legte Alfred Chandler mit seinem 1969 erschienen Werk .Strategy and Structure" (Chandler, 1969). Fur viele Manager war ab dann der Satz «Structure follows Strategy» massgebend bei der Gestaltung der Organisationsstruktur.

Das Verstandnis fur Strategie in China (Osten) hat seine Wurzeln vor ca. 2500 Jahren zu Zeiten des Ubergangs der Fruhlings- und Herbstannalen bzw. der Zeit der streitenden Reiche (S.15, Jia Hanhan 2007). Der wichtigste und fruhste Stratege chinesischer Herkunft war zweifelsohne General Sunzi, der das Buch der zwolf listigen Wege verfasste, das bis heute in China ein Standardwerk ist. Sunzi nahm die damals vorherrschenden philosophischen Schulen (Konfuzius, Laotse und Mencius) als Grundlage fur seine Militarstrategien und verkorpert so mit seinem Gedankengut die Philosophie des Krieges. Sunzi wird hingegen falschlicherweise als Urheber mit den 36 Strategemen verknupft (S.25, von Senger 2004). In der chinesischen Philosophie sind drei Begriffe, bzw. Prinzipien von zentraler Bedeutung (S.18, Jia Hanhan 2007):

1) die Transformation (Yin & Yang)

2) das Prinzip des Dao (der schopferische Weg)

3) Wu Wei (das Prinzip des Nicht-handelns)

Durch das Gleichgewicht von Yin und Yang entsteht Harmonie - und diese ist den Chinesen sehr wichtig. Aus den beiden Polaritaten entsteht das Dao, der Fluss des Lebens, standig in Bewegung und in Wandlung. Und aus dem Dao resultiert dann der dritte Aspekt, der fur Sunzi besonders wichtig war: das Nicht-handeln. Durch Nicht-handeln kommt man am ehesten zur Wirkung und in die gewunschte Richtung (S.123, Jullien 1999). Das ostliche Verstandnis von Strategie verkorpert also vorallem philosophische Gedanken des Dualismus/Universismus und des Taoismus. Die Idee dahinter funktioniert zufolge als Weisheit (das Zeichen «Ji» bedeutet im Chinesischen zugleich Weisheit und List) und Weisheit ist eine der konfuzianischen Kardinaltugenden (S.39, von Senger 2000). Um Weisheit geht es dann auch auf dem Schlachtfeld (siehe Wurzeln Europa): «[..] der Gipfel strategischer Leistung ist der Sieg ohne Waffengewalt. [..] Sunzi sprach: Den Feind ohne Waffengewalt zu unterwerfen ist das hochste der Geschicklichkeit.» (S.16, Gao Yuan 1995). Also kann Sunzis Arbeit und die Auffassung von Strategie im Osten als Abspaltung der Philosophie verstanden werden, mehr als (sanfte) Weltanschauung denn gewaltbetonte Kriegstechnik.

2.1.2. List

List ist etwas allgemein menschliches und der Katalog der 36 Listen (Strategeme) ist uberregional, uberzeitlich und an kein Gesellschaftssystem oder Nation gebunden (S.64, von Senger 2001). Um die Listen (Strategeme) zu verstehen, braucht es keine Vorbildung und es ist schnell jedem klar, um was es geht. Die Ursprunge der List liegen laut Droscher in den Instinkten, die dem Kampf (der Tiere) um’s Uberleben dienten (S.33, von Senger 2001). So bekommt die List eine Farbung als Mittel zur Begegnung der eigenen Ohnmacht, bzw. zur Erhaltung der Handlungsfahigkeit, die das eigene Uberleben sichert.

Die Konnotation der List war in der Vergangenheit und ist noch immer sehr unterschiedlich, geografisch und zeitlich gesehen. Bereits die Bibel erwahnte positive wie negative Beispiele. Aus moral-theologischer Sicht aber steht die List diametral der Gerechtigkeit gegenuber, was wohl zur negativen Bewertung fuhrte (S.11, Klewer 2008). Die Deutsche «List» lasst sich aber auf den Verbalstamm «lais» (wissen, lernen, erkennen) zuruckfuhren und bedeutet ursprunglich Geschicklichkeit (S.10, Klewer 2008). Das Herkunftsworterbuch von Duden vermerkt folgende Bedeutung: «List [..] bedeutet ursprunglich Wissen und bezog sich auf die Techniken der Jagdausubung und des Kampfes, auf magische Fahigkeiten und auf handwerkliche Kunstfertigkeiten. Allmahlich entwickelte List einen negativen Nebensinn und wurde im Sinne von Trick, geschickte Tauschung und Ranke gebrauchlich, beachte die Zusammenhange Arglist und Hinterlist». Der Brockhaus fuhrt unter „List und Tucke“ folgende Erklarung: «Die umgangssprachliche Wendung ist im Sinne von „mit viel Geschick und Schlaue“ gebrauchlich: Mit List und Tucke hatten die Feuerwehrleute den Wellensittich wieder in den Kafig gebracht.». Die Wertung ist also nicht von vorneherein negativ, sondern wandelte sich im Laufe der Zeit. Nimmt man die beiden oben genannten Deutungen zusammen und schaut auf das Beispiel vom Wellensittich, so gerat die List von der Erklarung und Interpretation her stark in die Nahe der Hypnose (=eingeengter Fokus, veranderte Aufmerksamkeit, Zuwendung zur Quelle (Hypnotiseur/Listanwender), reduziertes Bewusstsein) (S.48, Marks 2007). Umgangssprachlich wird List heute im Westen breit verstanden, meist negativ konnotiert. Haufig gebrauchte Synonyme sind: Kunstgriff, Finte, Coup, Augenwischerei, Schlaumeierei, Masche, Bluff und deren mehr.

In China kommt der List eine andere Bedeutung zu und hat zugleich unterschiedliche Entsprechungen. Es kommt stark auf den Kontext an, in welchem das Wort heute gebraucht wird. So kann List als Strategem, Plan, Kriegskunst, Schachzug oder Kunstgriff ubersetzt und verstanden werden. List hat auch vom Zeichen her eine Doppelbedeutung und steht fur List und zugleich fur

Weisheit (siehe Grafik unten). So strahlt die List in China im Glorienschein der Weisheit.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Kalligraphie: Chen Wentian (Shanghai) / Quelle: http://www.36strategeme.ch/

Dies macht es fur den Westen schwierig, den verschlagenen Menschen vom offenen, fairen und weisen Mann zu unterscheiden. Das kann vor allem im Geschaftskontext aber von grosser Bedeutung sein, denn die langfristigen Folgen einer Listanwendung konnen (wenn uberhaupt) erst sehr spat wieder ruckgangig gemacht werden (S.60 von Senger 2001). Die List wird historisch gesehen auch in der chinesischen Utopie «Da tong» (grosse Gemeinschaft) erwahnt und dort ebenfalls positiv wie negativ erwahnt. Der 2000 Jahre alte Text von Konfuzius uber die Aufzeichnung der Riten schildert eine heile und gerechte Welt ohne Sorgen. Der ideale Staat ist in dieser Utopie «frei von List» (S.19, von Senger 2001). So gesehen ist die List den Chinesen nur ein Mittel zum Zweck und fur den Ubergang zu «da tong» gedacht. Das Zeitalter ohne List ist noch zu erreichen. Der grosse Unterschied zum Westen liegt in der Auffasung der Welt an sich: in China wird im Dualismus die Welt von Yin und Yang beherrscht, den beiden Urkraften. Yin und Yang sind nicht zwei Pole, die sich ausschliessen, sondern Zustande, die voneinander abhangen und sich gegenseitig einschliessen. (siehe Grafik unten):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dies spiegelt eine andere Denkart wider, die weniger an Wertungen und Oppositionen gebunden ist. Im Dualismus kann eine Welt ohne List nicht ohne eine Welt mit List existieren. So bleibt das listfreie «Da tong» eine Utopie und wird mit unserem Paradies (Jenseits) vergleichbar.

Durch die heute verschiedenen Sichtweisen entstand ein grosser Unterschied in der Wahrnehmung von List. «Abendlander sind offensichtlich nicht fahig, hinter tausendfaltigen konkreten Listvorgangen die immer gleichen, wenigen Listtechniken zu erkennen und zu benennen» schreibt von Senger (S.19, von Senger 2001). So sind Chinesen enorm viel listsensibler und er unterscheidet vier Ebenen
der Listsensibilitat (Abendvortrag von Prof. H. von Senger im Rahmen des „China Forum Basel“, 10. Marz 2009 im Hotel Bildungszentrum21 in Basel):

Stufe 1 : Listenblindheit

Stufe 2 : Listenbewusstheit

Stufe 3 : Aktive Listanwendung von sich aus

Stufe 4 : Listanwendung unter Einbezug der Moglichkeit, dass der Gegenuber ebenfalls eine List anwendet (=u.a. praspektive Gegenmassnahmen planen und ergreifen)

Was macht die List zur List? Die List ist fur Chinesen nicht Tauschung oder Betrug - sondern das Aussergewohnliche. Schopenhauer meinte: «Die Aufgabe ist nicht, zu sehen, was noch niemand gesehen hat, sondern zu denken, was noch niemand gedacht hat, uber das, was alle sehen» (S. 29, Krogerus 2009). Sunzi vergleicht das Aussergewohnliche und das Gewohnliche mit den Tonen: «In der Musik gibt es nicht mehr als funf Tone, aber die Veranderungen [ihrer Kombinationen und Instrumente] ergeben mehr Melodien, als man sich anzuhoren vermag» (S.45, von Senger 2001). Das Nicht-Normale, Unorthodoxe, Aussergewohnliche vermag also kombiniert mit dem Gewohnlichen eine Uberraschung des Gegenubers bewirken. Die Redewendung «Chu qi zhi sheng» besagt auch «Aussergewohnliches erzeugen und so den Sieg erringen» (S.46, von Senger 2001). So gesehen unterscheidet sich der Emmentaler Bauer (die Emmentaler sind bekannt fur ihre Bauernschlaue) auch nicht gross vom Chinesen - nur das hierzulande (in der Schweiz und wohl auch in Deutschland) instinktiv-situativ unverschamt List praktiziert, aber verschamt verschwiegen wird. Friedrich Schiller schrieb dazu:

«Es ist nicht immer moglich,

Im Leben sich so kinderrein zu halten,

Wie’s unsere Stimme lehrt im Innersten.

In steter Notwehr gegen arge List

Bleibt auch das redliche Gemut nicht wahr». (S.66, von Senger 2001)

Mit unserem Innersten ist unser Gewissen gemeint - und dieses steuert unser Zugehorigkeits- empfinden zur Gruppe (S.67, Hellinger 2003). So gesehen kann man sagen, ist es dem Westen nur mit schlechtem Gewissen (und ungern) moglich, zu wachsen (Erwachsen zu werden [in der listigen Welt]). Und dieser Umstand hat Auswirkungen auf das Geschaftsgebaren unserer Manager.

2.1.3. Strategem

Strategem (oder das im Englischen oft verwendete Wort Stratagem) ist ein anderes Wort fur List und bedeutet im altgriechischen „Feldherrren-Tatigkeit“. Sextus Iulius Frontius wahlte das Wort „Stratagemata“ (Mehrzahl) fur ein Traktat im Jahre 103 n. Chr.. Die westliche Denktradition ist einerseits gepragt vom optimistischen Rationalismus, d.h. der Glaube daran, dass es eine logische Ordnung gibt, die die Welt beherrscht (S.12, Jia Hanhan 2007) und andererseits von der Erkenntnistheorie des Objektivismus, d.h. es gibt eine eindeutige Wirklichkeit der Welt die auf

Tatsachen beruht und mit rationalen Instrumentarien vollstandig beschrieben werden kann. Dies entspricht auch dem Verstandnis der Naturwissenschaften (siehe Punkt 2.1.1.). Unter diesen Apsekten entstanden dann die Werke von Macchiavelli bis Clausewitz (uber die Kriegsfuhrung). Die List (Strategeme) wird bei Clausewitz als letzter Ausweg benannt und steht daher fur eine schwache Kriegsfuhrung.

Die heute bekannten 36 Strategeme aus China gehen auf den General Tan Daoji (?-436) zuruck. Die Niederschrift (bzw. Erweiterung) erfolgte aber uber mehrere Jahrhunderte und wurde in der heutigen bekannten Form (138 Schriftzeichen) bis ins 16. Jahrhundert verfasst bzw. zusammengestellt und 1942 als Abschrift per Zufall wiederentdeckt. Die hochgradig verklausulierte (metaphorische) Form sollte den Inhalt vor Nichteingeweihten Schutzen. Die enge Verknupfung mit der Philosophie Laotses zeigt die Einfuhrung ins das Tao Te King, Laotses grosses Werk:

«Sechs mal sechs mach sechsunddreissig.

Sie Strategeme sind nach Zahlen geordnet.

Die Zahlen spiegeln sich in den Strategemen wider.

Am Beginn aller Dinge sind die Gegensatze (Yin und Yang) in Harmonie.

In dieser Harmonie liegt der Wandel begrundet.

Der Wandel der Dinge lasst sich nicht aufhalten.

Wurde man ihn zur Regel machen, ware das Ziel verfehlt.» (S.29, Magi 2009)

Die Nummer 6 (Yin, das Dunkle, der unterbrochene Strich ) steht im I Ging (dem Buch der

Wandlungen) fur Heimlichkeit, List, Leere, das Komplott und das geheime Manover (Im Gegensatz zu

Yang ). 36, also 6x6, symbolisiert somit die Gesamtheit aller moglichen strategischen

Situationen (nicht Auslegungen und Moglichkeiten!) (S.30, Magi 2009). Ein wichtiges Prinzip ist das Zusammenspiel von Leere (xu) und Fulle (Shi) auf materieller und psychischer Ebene. In der Schlacht zeigt sich das Paar xu (Illusion, Feigheit, Verteidigung, Unbeweglichkeit) und shi (voll, wirklich, Mut Kraft, Uberraschung, Uberlegenheit) in wechselseitiger Vernetztheit. So schlagt unter bestimmten Umstanden das eine in das andere um: das Schwache kann den Starken besiegen, der Feind kann zum Freund werden, das Kleine das Grosse uberwinden usw. (S.31, Magi 2009).

Jedes Strategem umfasst vier Komponenten: Es ist ein (1) bewusst, (2) mit Schlaue eingesetztes (3) Mittel, und zwar ein (4) aussergewohnliches, mit dessen Hilfe von einem Ausgangspunkt aus ein Ziel erreicht werden soll (S.11, von Senger 1999).

Strategeme definiert von Senger als Handlungs- und Wahrnehmungsmuster (der Chinesen). Diese Muster sollen die menschliche Manovrierfahigkeit, Biegsamkeit und Flexibilitat steigern und fordern. So betrachten Chinesen die Welt oft mit der „Strategembrille“ und fragen sich bei ungewohnlichen Handlungen von anderen Menschen, ob eine verborgene List dahintersteckt. Diese Sensibilitat ist im Westen (vor allem in der Wirtschaft) noch wenig entwickelt. Auf den Punkt gebracht sind Strategeme schlussendlich Lebensweisheiten, mit denen das Leben gemeistert werden kann.

[...]

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Chinesische Strategeme
Untertitel
Eine Einführung
Hochschule
Hochschule für angewandtes Management GmbH
Note
1
Autor
Jahr
2010
Seiten
32
Katalognummer
V149409
ISBN (eBook)
9783640608508
ISBN (Buch)
9783640608829
Dateigröße
600 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
China, Strategem, Strategeme, Listen, Strategie, Strategemata
Arbeit zitieren
Reto Stern (Autor:in), 2010, Chinesische Strategeme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149409

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