Deine allereigenste Enge - Radikale Individualität und Freiheit in Paul Celans Meridian


Magisterarbeit, 2003

101 Seiten, Note: N.N.


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Ι. Eine Interpretation
Ι.1 Die ‚Kunst’ Zusammenfassung Ι.1
Ι.2 Die ‚Dichtung’ Zusammenfassung Ι.2

ΙΙ. Vertiefung der gewonnenen Aspekte
ΙΙ.1 Einleitung
ΙΙ.2 Das Datum
ΙΙ.3 Die Künstlichkeit der ‚Kunst’
ΙΙ.4 Das Eigenste und das ‚Andere’
ΙΙ.5 Körperlichkeit und Personalität
ΙΙ.6 Sinn als ‚Richtung’
ΙΙ.7 Das Phänomenale der Bilder und die Herrschaft des ‚Gedichts’

Bibliographie

Einleitung

In dieser Arbeit mache ich den Versuch, Paul Celans Büchner-Preis-Rede „Der Meridian“ im Hinblick auf einen einzigen Schwerpunkt zu interpretieren: den des Zusammenhangs von radikaler Individualität und Freiheit. Dabei gehe ich wie folgt vor:

Im ersten Kapitel des Teils Ι. versuche ich durch möglichst genaue Lektüre, alles zur ‚Kunst’ Gesagte zu diskutieren und begrifflich so eindeutig wie möglich zu fassen. In linearer Folge wird dabei jeder Abschnitt der Rede Schritt für Schritt zitiert und interpretiert.

Da Celan seinen Begriff von ‚Kunst’ durch eine Auseinandersetzung mit Georg Büchners Schriften gewinnt, wird auch dieser Auseinandersetzung mit Büchners Werk und dessen Interpretation durch Celan viel Platz eingeräumt. Eine Zusammenfassung schließt dieses erste Kapitel ab.

Im zweiten Kapitel des Teils Ι. verfahre ich in gleicher Weise mit allem zur ‚Dichtung’ Gesagten. Hier werden alle noch unberücksichtigten Abschnitte des Meridian besprochen, sodass bis zum Ende des Teils Ι. die Rede einmal vollständig zitiert vorliegt.

Am Ende von Teil Ι. erweisen sich ‚Dringlichkeit’, ‚Geschichtlichkeit’, ‚Körperlichkeit’ und ‚Individualität’ als die Bestimmungen der ‚Dichtung’, von der Celan in der Poetik des Meridian spricht. Auch dieses Kapitel wird durch eine Zusammenfassung abgeschlossen.

Der Teil ΙΙ. versteht sich als eine Vertiefung der gewonnenen Aspekte. Dort werde ich in großem Umfang auf die Vorstufen, Entwürfe und Materialien der Tübinger Ausgabe des Meridian eingehen, um gegebenenfalls die Ergebnisse aus Teil Ι. durch neue Perspektiven zu erweitern. Wo nötig, werden bereits zitierte Abschnitte des Meridian erneut aufgeführt.

Die Kapitel des Teils ΙΙ. sollen der Diskussion der obigen Bestimmungen dienen: Kapitel ΙΙ.2 („Das Datum“) und Kapitel ΙΙ.3 („Die Künstlichkeit der ‚Kunst’“) versuchen die Klärung der Frage: Warum sind die Aspekte ‚Dringlichkeit’ und ‚Geschichtlichkeit’ so eminent wichtig in Celans Poetik ? Kapitel ΙΙ.4 („Das Eigenste und das ‚Andere’“) bildet das Herzstück der gesamten Untersuchung; in ihm geht es gewissermaßen um eine Rechtfertigung des Titels der Arbeit. Schließlich dienen die Kapitel ΙΙ.5 („Körperlichkeit und Personalität“), ΙΙ.6 („Sinn als ‚Richtung’“) und ΙΙ.7 („Das Phänomenale der Bilder und die Herrschaft des ‚Gedichts’“) der Diskussion dessen, was die ‚körperliche’ Dimension der ‚Dichtung’ Celans sein könnte. Darüberhinaus wird dort erörtert, was die Bestimmungen ‚Körperlichkeit’, ‚Kreatürlichkeit’ und ‚Gegenständlichkeit’ im Rahmen einer ‚Poetik der Individuation’ leisten können.

Meine Abschlußthese ist, dass Celan speziell durch seine Überlegungen zur ‚Körperlichkeit’ des ‚Gedichts’ und durch die Einbettung seiner Poetik in den Kontext der Phänomenologie eine Theorie sprachlicher Absolutheit jenseits von Mallarmé zu entwerfen versucht.

Auf ein Schlußkapitel habe ich verzichtet, da ich ohnehin häufig Ergebnisse rekapituliere und deshalb glaube, eine erneute Zusammenfasung würde eine gebetsmühlenartige Wirkung haben. Noch ein Wort zur Bibliographie: Die Liste der zitierten Sekundärliteratur ist relativ kurz, da viele der einschlägigen Aufsätze meiner Meinung nach an zwei Dingen kranken: Sie setzen sich zu wenig mit dem Text auseinander, oder sie erzählen den Text lediglich nach. Die gesichtete, aber nicht zitierte Sekundärliteratur wird dennoch separat aufgeführt. Darunter sind viele Titel, die mir bei der Auseinandersetzung mit dem Meridian sehr geholfen haben.

Ι . Eine Interpretation

Ι .1 Die ‚Kunst’

Ein mit dem Georg-Büchner-Preis Geehrter ist gehalten, Leben und Werk des Namenspatrons in seine Dankrede miteinzubeziehen. Celan folgt dieser Tradition und stellt bereits unmittelbar nach der Anrede an die „[...] Damen und Herren“[1] eine Verbindung her zum sogenannten ‚Kunstgespräch’[2] aus Dantons Tod:

„Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, ein marionettenhaftes, jambisch-fünffüßiges und – diese Eigenschaft ist auch, durch den Hinweis auf Pygmalion und sein Geschöpf, mythologisch belegt – kinderloses Wesen.

In dieser Gestalt bildet sie den Gegenstand einer Unterhaltung, die in einem Zimmer, also nicht in der Conciergerie stattfindet, einer Unterhaltung, die, das spüren wir, endlos fortgesetzt werden könnte, wenn nichts dazwischenkäme.

Es kommt etwas dazwischen.“[3]

In Büchners Drama Dantons Tod lauten die von Celan zitierten Worte des Revolutionärs Camille Desmoulins wie folgt :

„Ich sage Euch, wenn sie nicht Alles in hölzernen Kopien bekommen, verzettelt in Theatern, Konzerten und Kunstausstellungen, so haben sie weder Augen noch Ohren dafür. Schnitzt einer eine Marionette, wo man den Strick hereinhängen sieht, an dem sie gezerrt wird und deren Gelenke bei jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen, welch ein Charakter, welche Konsequenz! Nimmt Einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich 3 Akte hindurch herumquälen, bis es sich zuletzt verheiratet oder sich totschießt – ein Ideal! Fiedelt Einer eine Oper, welche das Schweben und Senken im menschlichen Gemüt wiedergibt wie eine Tonpfeife mit Wasser die Nachtigall – ach die Kunst!

Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: ach, die erbärmliche Wirklichkeit!

Sie vergessen ihren Herrgott über seinen schlechten Kopisten. Von der Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick neu gebiert, hören und sehen sie nichts. Sie gehen in’s Theater, lesen Gedichte und Romane, schneiden den Fratzen darin die Gesichter nach und sagen zu Gottes Geschöpfen: wie gewöhnlich! Die Griechen wußten, was sie sagten, wenn sie erzählten Pygmalions Statue sei wohl lebendig geworden, habe aber keine Kinder bekommen.“[4]

Der Spott des Deputierten gilt dem überhöhten Idealismus der Kunstperiode, dem er die Niederungen des menschlichen Lebens, die „Wirklichkeit“, entgegenhält.[5] Es ist das Kunstverständnis Büchners, das sich in diesen Zeilen ausspricht; in seinen Briefen finden sich fast gleichlautende Invektiven gegen Metaphysik und Idealismus, deren Verkennung realer Geschichte und kreatürlicher Natur er scharf verurteilt:

„Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müsste mit verbundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen könnte, und müßte über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Göthe und Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller.“[6]

In zwei weiteren Briefen kritisiert Büchner die Lebensferne spekulativer Theorien:

„Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philosophie; ich lerne die Armseligkeit des menschlichen Geistes wieder von einer neuen Seite kennen. Meinetwegen! Wenn man sich nur einbilden könnte, die Löcher in unseren Hosen seien Palastfenster, so könnte man schon wie ein König leben, so aber friert man erbärmlich. [...].“[7]

„Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie, die Kunstsprache ist abscheulich, ich meine für menschliche Dinge müsse man auch menschliche Ausdrücke finden; doch das stört mich nicht, ich lache über meine Narrheit und meine es gäbe im Grund genommen doch nichts als taube Nüsse zu knacken.“[8]

Zusammengefasst richten sich diese Angriffe Büchners und seines Camille gegen jede Theorie und Ästhetik, die über ihrem Formwillen und ihrer Tendenz zur Idealisierung die natürlichen Bedingungen des menschlichen Lebens vergisst oder verdrängt. Den Gegenpol zu einer solchen ‚Kunst’ bildet dabei vor allem die Natur.

Wie geht nun Celan mit den von ihm zitierten Büchner-Worten um?

Die Attribute der ‚Kunst’, die Marionettenhaftigkeit, die jambische Fünffüßigkeit und die Kinderlosigkeit, führt er an, ohne sie in eine spezifische Perspektive zu rücken. Erst in der Beschreibung ihres Kontextes setzt er persönliche Schwerpunkte und hebt drei Dinge hervor: Sie fungiere als Teil einer „Unterhaltung“, ihr Schauplatz sei ein „Zimmer“ (und ausdrücklich nicht die „Conciergerie“, das Gefängnis auf der Ile de la Cité), und, „wenn nichts dazwischenkäme“, könnte diese Unterhaltung „endlos fortgesetzt werden“. Das „Dazwischengekommene“[9] wird sich später als die Verhaftung der Revolutionäre und ihre Guillotinierung erweisen. Die hier herausgestellten Gegensätze sind die von Belanglosigkeit und realer Bedrohung („Unterhaltung“ und „Zimmer“ versus Exekution und Gefängnis), und von der Zeitlosigkeit der ‚Kunst‘ und der Endlichkeit des Lebens. Hatte Büchner der ‚Kunst’ die Geschichte und vor allem die Natur entgegengesetzt, macht Celan hier deutlich, welche Dimension - seiner Ansicht nach - der ‚Kunst’ vor allem fehlt: konkrete Geschichtlichkeit.[10] Für ihn ist Geschichte das, was ‚draußen’, in der Welt (und nicht in einem „Zimmer“) stattfindet und das, was das endliche Leben unmittelbar und existentiell[11] betrifft und angeht und dessen Dringlichkeit die einer bloßen „Unterhaltung“ übersteigt. Im Verhältnis zur Geschichte ist ‚Kunst’ für den Einzelnen Nebensache.

Die nächste Verbindung, die Celan zu Büchners Werk herstellt, ist die zu „Wozzeck“[12]:

„Die Kunst kommt wieder. Sie kommt in einer anderen Dichtung Georg Büchners wieder, im ‚Wozzeck’, unter anderen, namenlosen Leuten und – wenn ich ein auf ‚Dantons Tod’ gemünztes Wort Moritz Heimanns diesen Weg gehen lassen darf – bei noch ‚fahlerem Gewitterlicht’. Dieselbe Kunst tritt, auch in dieser ganz anderen Zeit, wieder auf den Plan, von einem Marktschreier präsentiert, nicht mehr, wie während jener Unterhaltung, auf die ‚glühende’, ‚brausende’ und ‚leuchtende’ Schöpfung beziehbar, sondern neben der Kreatur und dem ‚Nix’, das diese Kreatur ‚anhat’, - die Kunst erscheint diesmal in Affengestalt, aber es ist dieselbe, an ‚Rock und Hosen’ haben wir sie sogleich wiedererkannt.“[13]

Celan zitiert aus den Worten des Ausrufers einer Jahrmarktbude:

„Meine Herren. Meine Herren! Sehn Sie die Kreatur, wie sie Gott gemacht hat, nix, gar nix. Sehen Sie jetzt die Kunst, geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein Säbel! Ho! Mach Kompliment! So bist brav. Gib Kuß! (Er trompetet.) Michl ist musikalisch. Meine Herren, meine Damen, hier sind zu sehn das astronomische Pferd und die kleine Kanaillevogele, sind Liebling von alle Potentate Europas und Mitglied von alle gelehrte Sozietät; weissage de Leute Alles, wie alt, wieviel Kinder, was für Krankheit, schießt Pistol los, stellt sich auf ei Bein. Alles Erziehung, haben eine viehische Vernunft, oder vielmehr eine ganze vernünftige Viehigkeit, ist kei viehdummes Individuum wie viel Person, das verehrliche Publikum abgerechnet. Herein. Es wird sein die räpräsentation, das commencement vom commencement wird sogleich nehm sein Anfang.

Sehn sie die Fortschritte der Zivilisation. Alles schreitet fort, ei Pferd, ei Aff, ei Kanaillevogel. Der Aff ist schon ei Soldat, s’ist noch nit viel, unterst Stuf von menschliche Geschlecht! Die räpräsentation anfangen! Man mackt Anfang von Anfang. Es wird sogleich sein das commencement von commencement.[14]

In dieser Verhöhnung des Tierischen – der ohnmächtige Affe wird vorgeführt und in Kleider gezwängt – wird gleichzeitig die „Vernunft“ des Menschen verspottet, dessen „Kunst“ - Kleidung, Institutionen, Wissenschaft, Militär – ihn seine eigene natürliche Verfasstheit zwar gerne vergessen lässt, die aber diese Kreatürlichkeit nicht aufhebt. Wie schon in Dantons Tod bedeutet „Kunst“ hier für Büchner die Verleugnung der Natur. Celan verändert diesen Schwerpunkt, den Antagonismus von „Kunst“ und „Kreatur“, nicht, doch hebt er wiederum, darin von Büchner abweichend, bestimmte Aspekte hervor. Er betont die Anonymität der Sphäre, in welcher die ‚Kunst’ erscheint, ihre fehlende Identität und der mit ihr Auftretenden: „unter anderen, namenlosen Leuten“. Direkt im Anschluss daran zitiert er ein Wort Moritz Heimanns über Dantons Tod und nennt den Zitierten mit vollem Namen, womit er die Namenlosigkeit der Kunst und ihres Kontextes gleich wieder durchbricht; der Namenlosigkeit stellt er die Namhaftigkeit entgegen.[15] Auch findet sich ein weiterer Kontrast, der das Motiv der Zeitlosigkeit, der „endlosen“ ‚Kunst’ in der Unterhaltung aus Dantons Tod, wieder aufgreift: „Dieselbe Kunst“ trete auf, obwohl wir uns in einer „ganz anderen Zeit“ befänden. Für Celan markiert diese Unwandelbarkeit den ungeschichtlichen Charakter der ‚Kunst’: sie reagiert nicht auf die Gegenwart - auf keine Gegenwart.

Was dann in dem zitierten Absatz folgt, ist einigermaßen verwirrend: Celan merkt an, dass die ‚Kunst’ nun nicht mehr auf die „’glühende’, ‚’brausende’ und ‚leuchtende’ Schöpfung“ „beziehbar“ sei, sondern „neben der Kreatur“ auftrete „und dem ‚Nix’, das diese Kreatur ‚anhat’“. Die Worte Camilles über die „Schöpfung“ galten jedoch der Natur, die ja der ‚Kunst’ gerade entgegengesetzt war. Warum wird nun suggeriert, die ‚Kunst’ sei auf die Attribute der Natur bezogen gewesen?

Wir erhalten Aufschluss hierüber durch eine genaue Analyse der ‚Kunst’ in ihrer Beziehung zur „Affengestalt“. Es heißt ausdrücklich, dass die ‚Kunst’ „neben der Kreatur“ erscheine und nicht etwa als Kreatur. Das bedeutet, dass, obwohl die ‚Kunst’ in „Affengestalt“ auftritt, nicht der Affe die ‚Kunst’ symbolisiert, sondern die Kleidung, in die man ihn gesteckt hat: „[...] an ‚Rock und Hosen’ haben wir sie sogleich wiedererkannt.“ Die Kleidung überdeckt hier das „Nix“, die Nacktheit der Kreatur. Für die obige Frage bedeutet dies: So, wie sich die ’Kunst’ in Dantons Tod zur „Schöpfung“ verhält (auf sie „beziehbar“ ist), verhalten sich „Rock und Hosen“ in Wozzeck zur „Kreatur“. Celan hebt an der zitierten Szene hervor, dass ‚Kunst’ personale Identität, Geschichtlichkeit und Kreatürlichkeit auslöscht.

Die Auseinandersetzung mit Büchners Werk geht weiter:

„Und sie kommt – die Kunst – auch mit einer dritten Dichtung Büchners zu uns, mit ‚Leonce und Lena’, Zeit und Beleuchtung sind hier nicht wiederzuerkennen, wir sind ja ‚auf der Flucht ins Paradies’, ‚alle Uhren und Kalender’ sollen bald ‚zerschlagen’ bzw. ‚verboten’ werden, - aber kurz vorher werden noch ‚zwei Personen beiderlei Geschlechts’ vorgeführt, ‚zwei weltberühmte Automaten sind angekommen’, und ein Mensch, der von sich verkündigt, daß er vielleicht der dritte und merkwürdigste von den beiden’ sei, fordert uns, ‚mit schnarrendem Ton’, dazu auf, zu bestaunen, was wir vor Augen haben: ‚Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern!’

Die Kunst erscheint hier mit größerer Begleitung als bisher, aber, das springt in die Augen, sie ist unter ihresgleichen, es ist dieselbe Kunst, die Kunst, die wir schon kennen. – Valerio, das ist nur ein anderer Name für den Ausrufer.“[16]

An diesem Absatz ist interessant, dass Celan, anders als bei Dantons Tod und Wozzeck, nicht die Worte einer einzigen Figur einer zusammenhängenden Stelle zitiert, sondern die Aussagen zweier Sprecher zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten zusammenzieht. Die darin sichtbare subjektive Wahl erleichtert es, die Perspektive Celans zu ermitteln, in die er die Büchnersche Kunstkritik rückt. Zuerst erscheinen die Worte Leonces:

„Ei Lena, ich glaube das war die Flucht in das Paradies. Ich bin betrogen.“[17]

Dann zitiert Celan Worte Leonces, die dieser einige Zeit später spricht:

„Nu, Lena, siehst Du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir damit anfangen? Wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fräcke anziehen und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen und uns mit dem Mikroskop daneben setzen? Oder hast Du Verlangen nach einer Drehorgel auf der milchweiße ästhetische Spitzmäuse herumhuschen? Wollen wir ein Theater bauen? (Lena lehnt sich an ihn und schüttelt den Kopf.) Aber ich weiß besser was Du willst, wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, daß es keinen Winter mehr gibt[, und wir] uns im Sommer bis Ischia und Capri hinauf d[e]stillieren, und wir das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeeren stecken.“[18]

Schließlich baut Celan Aussagen Valerios in seine Rede ein, die weit vor denen Leonces liegen:

„Aber eigentlich wollte ich einer hohen und geehrten Gesellschaft verkündigen, daß hiemit die zwei weltberühmten Automaten angekommen sind und daß ich vielleicht der dritte und merkwürdigste von beiden bin, wenn ich eigentlich selbst recht wüßte, wer ich wäre, worüber man übrigens sich nicht wundern dürfte, da ich selbst gar nichts von dem weiß, was ich rede, ja auch nicht einmal weiß, daß ich es nicht weiß, so daß es höchst wahrscheinlich ist, daß man mich nur so reden läßt, und es eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche sind, die das Alles sagen. (Mit schnarrendem Ton.) Sehen Sie hier meine Herren und Damen, zwei Personen beiderlei Geschlechts, ein Männchen und ein Weibchen, einen Herr[n] und eine Dame. Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern. Jede hat eine feine, feine Feder von Rubin unter dem Nagel der kleinen Zehe am rechten Fuß, man drückt ein klein wenig und die Mechanik läuft volle funfzig Jahre. Diese Personen sind so vollkommen gearbeitet, daß man sie von anderen Menschen gar nicht unterscheiden könnte, wenn man nicht wüßte, daß sie bloße Pappdeckel sind, man könnte sie eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen. Sie sind sehr edel, denn sie sprechen hochdeutsch. Sie sind sehr moralisch, denn sie stehen auf den Glockenschlag auf, essen auf den Glockenschlag zu Mittag, und gehen auf den Glockenschlag zu Bett, auch haben sie [eine] gute Verdauung, was beweist, daß sie ein gutes Gewissen haben. [Sie haben ein feines sittliches Gefühl, denn die Dame hat gar kein Wort für den Begriff Beinkleider, und dem Herrn ist es rein unmöglich, hinter einem Frauenzimmer eine Treppe hinauf oder vor ihm hinunterzugehen.] Sie sind sehr gebildet, denn die Dame singt alle neuen Opern und der Herr trägt Manschetten. Geben Sie Acht, meine Herren und Damen, sie sind jetzt in einem interessanten St[a]dium, der Mechanismus der Liebe fängt an sich zu äußern, der Herr hat der Dame schon einigemal den Shawl getragen, die Dame hat schon einigemal die Augen verdreht und gen Himmel geblickt. Beide haben schon geflüstert: Glaube, Liebe, Hoffnung! beide sehen bereits ganz akkordiert aus, es fehlt nur noch das einzige Wörtchen: Amen.“[19]

Diese Zeilen Büchners sind eine Satire sowohl auf die Dekadenz des feudalen Hofstaats (vor allem in Leonces Worten), als auch auf den Bildungsdünkel und das Vornehmtun der bürgerlichen Kultur. Auch diese Angriffe gehen auf den Gegensatz von Kunst und Natur zurück: „Kunst“ scheint hier für all jene Kulturleistungen zu stehen, deren Formalismus (darin dem Ungefomten, der Natur, entgegengesetzt) alles Körperliche vergessen machen will; dieser Adel jedoch wird fragwürdig, wenn sogar Automaten Musterbeispiele von Anstand, Bildung und Etikette abgeben können.

Celans Interesse an gerade dieser Dramenszene erklärt sich aus dem Motiv der ‚Zeitlosigkeit’: Die Zeitmessung und -dokumentation soll abgeschaftt, „Uhren und Kalender“ „zerschlagen“ und „verboten“ werden und ein vorgeschichtlicher Zustand durch eine „Flucht ins Paradies“ entstehen. Die beiden Zitate Leonces, die in Büchners Drama nichts miteinander zu tun haben, werden hier durch Celan zusammengezogen und zu Bestimmungen von Ahistorizität ‚verdichtet’.

Die Worte Valerios erfahren keine so deutliche Interpretation, sie werden nicht komponiert, da sie aus einem einzigen Figurenauftritt stammen. Doch innerhalb dieses Zitats konzentriert Celan sich auf den Umstand, dass ein Name, „Valerio“, keine wirkliche Beziehung zu seinem Träger aufweist, da er hier etwas zeitlich Unspezifisches bezeichne, das schon in „Wozzeck“ aufgetreten war: Das Marktschreierische im Umfeld der Schaubuden: „- Valerio, das ist nur ein anderer Name für den Ausrufer.“ Obwohl also „Zeit und Beleuchtung [...] hier nicht wiederzuerkennen [sind]“, trägt Valerios Auftritt diesen veränderten Umständen nicht Rechnung: „[...] es ist dieselbe Kunst, die Kunst, die wir schon kennen.“[20]

In dieser Perspektive erweisen sich Zeitlosigkeit und fehlende personale Identität erneut als die Bestimmungen der ‚Kunst’. Hinzu kommt das Moment des Maschinellen und Seelenlosen, wie es uns im „Mechanismus“ und dem „schnarrenden Ton“ der „Automaten“ begegnet.[21]

Im Meridian folgt ein Abschnitt, der keine direkten Büchner-Zitate enthält:

„Die Kunst, meine Damen und Herren, ist, mit allem zu ihr Gehörenden und noch Hinzukommenden, auch ein Problem, und zwar, wie man sieht, ein verwandlungsfähiges, zäh- und langlebiges, will sagen ewiges.

Ein Problem, das einem Sterblichen, Camille, und einem nur von seinem Tode her zu Verstehenden, Danton, Worte und Worte aneinanderzureihen erlaubt. Von der Kunst ist gut reden.“[22]

Auch hier konzentriert sich Celan auf drei bereits bekannte Aspekte der ‚Kunst’: ihre nicht vorhandene Zeitdimension, d.h., die der „Sterblichkeit“ des Menschen entrückte ‚Ewigkeit’, ihren Mangel an personaler Identität (die Aneinanderreihung von „Worten“ orientiert sich an einem überindividuellen Formprinzip), und schließlich auf ihre Belanglosigkeit, denn wovon „gut reden“ ist, erfordert nicht den Einsatz der gesamten Person.[23]

Einiges, was später unter dem Begriff der Dichtung behandelt wird, überspringend, wird die Entwicklung der Rede weiter verfolgt. Celan kehrt zurück zu Dantons Tod:

„Das während der Unterhaltung Dazwischengekommene greift rücksichtslos durch, es gelangt mit uns auf den Revolutionsplatz, ‚die Wagen kommen angefahren und halten’. Die Mitgefahrenen sind da, vollzählig, Danton, Camille, die anderen. Sie alle haben, auch hier, Worte, kunstreiche Worte, sie bringen sie an den Mann, es ist, Büchner braucht hier mitunter nur zu zitieren, vom gemeinsamen In-den-Tod-gehen die Rede, Fabre will sogar ‚doppelt’ sterben können, jeder ist auf der Höhe, - nur ein paar Stimmen, ‚einige’ – namenlose- ‚Stimmen’, finden, daß das alles ‚schon einmal dagewesen und langweilig’ sei.“[24]

„Kunstreich“ zu sein, bedeutet auch hier, sich eines bereits bestehenden Kanons – eines rhetorischen Arsenals und seiner Redeformen – zu bedienen. Die Redewendungen, in denen Celan darüber spricht („an den Mann bringen“ und „auf der Höhe sein“), sind selbst Beispiele dieser Rhetorik. Im Zusammenhang mit den für Celan so wichtigen Motiven der Geschichtlichkeit und Identität ist der Hinweis interessant, dass „Büchner [...] hier mitunter nur zu zitieren [braucht]“ . Dies meint die Tatsache, dass er für die Gestaltung der Figurenrede in Dantons Tod auf eine Vielzahl von Sachtexten und historischen Quellen zurückgegriffen hat, so z.B. auf Heinrich Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und Louis-AdolpheThiers’ Histoire de la R é volution Fran ç aise.[25] War das Verfahren der Zitatmontage für Büchner jedoch Garant historischer Authentizität, wird für Celan dieses in Zeit und Raum Festgestellte durch die Formelhaftigkeit des Gesagten stark abgewertet. Unter genau umgekehrten Vorzeichen wiederholt sich dies im Beispiel des „Gegenworts“ von Lucile, das im Zusammenhang mit der Dichtung für Celan so wichtig wird, und das gerade nicht historisch ist:

„Ihr Wahnsinn und ihre Selbstauslieferung an die Justiz sind Erfindung B.[üchner]s.“[26]

Der Aspekt der (fehlenden) Personalität wird nochmals bedeutsam durch Celans Hinweis auf die „namenlose[n] Stimmen“, die, genau wie in Wozzeck, im Umkreis der ‚Kunst’ erscheinen. Auch die ‚Zeitlosigkeit’ der ‚Kunst’ kehrt hier wieder: Ihre ahistorische Monotonie führt die Zuschauer zu dem Befund, es sei „alles ‚schon einmal dagewesen langweilig’“. Celan fährt fort:

„Und hier, wo alles zu Ende geht, in den langen Augenblicken, da Camille – nein, nicht er, nicht er selbst, sondern ein Mitgefahrener -, da dieser Camille theatralisch – fast möchte man sagen: jambisch – einen Tod stirbt, den wir erst zwei Szenen später, von einem ihm fremden – einem ihm so nahen – Wort her, als den seinen empfinden können, als rings um Camille Pathos und Sentenz den Triumph von ‚Puppe’ und ‚Draht’ bestätigen, da ist Lucile, die Kunstblinde, dieselbe Lucile, für die Sprache etwas Personhaftes und Wahrnehmbares hat, noch einmal da, mit ihrem plötzlichen ‚Es lebe der König!’

Nach allen auf der Tribüne (es ist das Blutgerüst) gesprochenen Worten – welch ein Wort!

Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den ‚Draht’ zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den ‚Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte’ bückt, es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt.“[27]

Das Motiv der Entindividualisierung wird hier wieder aufgegriffen. Die Person Camille verschwindet hinter ihrer pathetischen Rhetorik und wird namenlos: „ein Mitgefahrener“.

Ein „ihm fremdes Wort“ kann ihm deshalb „nah“ sein, weil das „Gegenwort“ Luciles jede Verbindung zu „Pathos“ und „Sentenz“ gekappt hat. Weil sie als Person und nicht als Rhetor auftritt, wird auch der ‚Gegenstand’ ihrer Liebe, Camille, als Person erkennbar. Das Wort ist ihm (dem Redner) fremd, weil es ihm (der endlichen Kreatur) nahe ist.[28] Die Marionettenmetaphorik Celans geht zurück auf ein Zitat aus Dantons Tod. Danton, sich an die von ihm mitverantworteten ‚Septembermorde’ erinnernd, hadert mit seinem Gewissen:

Julie: Du hast das Vaterland gerettet.

Danton: Ja das hab’ ich. Das war Notwehr, wir mußten. Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muss ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt. Es muß, das war dies Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns lügt, stiehlt und mordet?

Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen.

Jetzt bin ich ruhig.“[29]

Büchner zitiert hier sich selbst; es handelt sich um eine Stelle aus dem, wie die Forschung ihn nennt, ‚Fatalismusbrief’ an seine Verlobte:

[...] „Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muß ist eines von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, - ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen“ [...][30]

Im Meridian werden die Zitate der Dramenszene und des Briefes zusammengezogen. Lag der Schwerpunkt bei Büchner noch auf dem „Fatalismus der Geschichte“, dem Gedanken der Vorherbestimmung und der unentrinnbaren Schuld, wird diese metaphysische Heteronomie im Meridian umgewandelt in eine Selbstentfremdung, die aus dem entindividualisierenden Redegestus der „Mitgefahrenen“ resultiert: „Pathos und Sentenz“ bestätigen den „Triumph von „Puppe“ und „Draht“.[31] Gemeinsam mit dem „Jambischen“ und „Theatralischen“ , den „kunstreichen Worten“, bilden sie die Bestimmungen der ‚Kunst’.[32]

Celan stellt in seiner Auseinandersetzung mit der ‚Kunst’ eine weitere Verbindung zu Büchners Werk her:

„’- ach die Kunst!’ Ich bin, Sie sehen es, an diesem Wort Camilles hängengeblieben.

Man kann, ich bin mir dessen durchaus bewußt, dieses Wort so oder so lesen, man kann verschiedene Akzente setzen: den Akut des Heutigen, den Gravis des Historischen – auch Literaturhistorischen -, den Zirkumflex – ein Dehnungszeichen des – des Ewigen.

Ich setze – mir bleibt keine andere Wahl -, ich setze den Akut.

Die Kunst – ‚ach, die Kunst’: sie besitzt, neben ihrer Verwandlungsfähigkeit, auch die Gabe der Ubiquität - : sie ist auch im ‚Lenz’ wiederzufinden, auch hier – ich erlaube mir, das zu betonen -, wie in ‚Dantons Tod’, als Episode.“[33]

Aus den drei Perspektiven Gegenwart, Vergangenheit und Zeitlosigkeit, wählt Celan die Perspektive der Gegenwart – den „Akut“. Damit ist ihm die Beschäftigung mit der ‚Kunst’ ein aktuelles Anliegen, dessen Dringlichkeit aus dem Jetzt stammt und nicht aus dem Wunsch nach einer historischen Begriffsbildung oder nach der Fortführung eines äonenalten Menschheitsgesprächs. Diese Wahl ist alternativlos, sie hätte nicht anders ausfallen können, weshalb sie unmittelbar mit der Person Paul Celan zusammenzuhängen scheint: „ - mir bleibt keine andere Wahl -“[34]

Die Metamorphosen der ‚Kunst’ sind äußerlich, sie verwandelt sich, doch ist sie überall die gleiche. Der Zusammenhang von „Ubiquität“ und „Verwandlungsfähigkeit“ zeigt, dass Celan auch hier, in Büchners Lenz, der Geschichtsindifferenz der ‚Kunst’ besondere Bedeutung beimisst. Auch das Motiv der relativen Belanglosigkeit der ‚Kunst’ erscheint wieder: sie ist „Episode“, bloßes Zwischenspiel und kurzzeitige Unterbrechung oder Ausgrenzung einer viel umfassenderen Sphäre.

Wie die ‚Kunst’ im Rahmen einer „literaturhistorischen“ Betrachtung behandelt werden könnte, geht aus dem folgenden Beleg hervor:

„’Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung: man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete...’

‚Das Gefühl, dass, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen...’

Ich habe hier nur zwei Sätze herausgegriffen, mein in bezug auf den Gravis schlechtes Gewissen verbietet es mir, Sie nicht sogleich darauf aufmerksam zu machen, - diese Stelle hat, vor allem anderen, literaturhistorische Relevanz, man muß sie mit der schon zitierten Unterhaltung in ‚Dantons Tod’ zusammenzulesen wissen, hier findet Büchners ästhetische Konzeption ihren Ausdruck, von hier aus gelangt man, das Lenz-Fragment Büchners verlassend, zu Reinhold Lenz, dem Verfasser der ‚Anmerkungen zum Theater’, und über ihn, den historischen Lenz also, weiter zurück zu dem literarisch so ergiebigen ‚Elargissez l’Art’ Merciers, diese Stelle eröffnet Ausblicke, hier ist der Naturalismus, hier ist Gerhart Hauptmann vorweggenommen, hier sind auch die sozialen und politischen Wurzeln der Büchnerschen Dichtung zu suchen und zu finden.“[35]

Celan verweist – wohl mit einem Hauch von Ironie - auf sein „schlechtes Gewissen“, welches ihm auftrage, in dieser Feierstunde wenigstens ein bisschen Literaturgeschichte[36] zu bieten – ein Bekenntnis, das anmutet wie eine nicht ganz ernstgemeinte Wiedergutmachung für die enttäuschten Erwartungen der anwesenden Kunstenthusiasten. Wichtig im Zusammenhang mit den bereits bekannten Aspekten der Geschichtlichkeit und personalen Identität ist Celans Anmerkung, dass die Literarizität der Figur „Lenz“ transzendiert und die Historizität der Person Jakob Michael Reinhold Lenz erkennbar wird.

Der Hinweis auf die „literaturhistorische Relevanz“, die diese Stelle „vor allem anderen hat“, bereitet schon den Durchgang zu einem Motiv vor, dessen Relevanz die bloßer Literaturgeschichte übersteigt:

„Meine Damen und Herren, daß ich das nicht unerwähnt lasse, beruhigt zwar, wenn auch nur vorübergehend, mein Gewissen, es zeigt Ihnen aber zugleich auch, und damit beunruhigt es mein Gewissen aufs neue,- es zeigt Ihnen, daß ich von etwas nicht loskomme, das mir mit der Kunst zusammenzuhängen scheint.

Ich suche es auch hier, im ‚Lenz’, - ich erlaube mir, Sie darauf hinzuweisen.

Lenz, also Büchner, hat, ‚ach, die Kunst’, sehr verächtliche Worte für den ‚Idealismus’ und dessen ‚Holzpuppen’. Er setzt, und hier folgen die unvergeßlichen Zeilen über das ‚Leben des Geringsten’, die ‚Zuckungen’, die ‚Andeutungen’, das ‚ganz feine, kaum bemerkte Mienenspiel’,

- er setzt ihnen das Natürliche und Kreatürliche entgegen.“ [...][37]

Im Kontext lautet die von Celan zitierte Stelle aus Büchners Lenz so:

„[...] die idealistische Periode fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widersprach heftig. Er sagte: Die Dichter von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch seien sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, dass Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegnet es uns nur selten, in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Göthe manchmal entgegen. Alles Übrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute können auch keinen Hundsstall zeichnen. Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bermerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im ‚Hofmeister’ und den ‚Soldaten’. Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muss. Man muß nur Aug und Ohren dafür haben“ [...][38]

[...]


[1] Der Meridian wird zitiert nach der Ausgabe Paul Celan. Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Nachwort von Beda Allemann. (1970) . S.131-149. Hier: S.133. (in der Folge zitiert als ‘M’ mit Seitenangabe).

[2] Das Celan bezeichnenderweise nicht “Gespräch” nennt, sondern “Unterhaltung”. Das “Gespräch’”wird in seiner Terminologie später der Ort einer “Begegnung”, deren Voraussetzungen ganz andere sind als die einer “Unterhaltung”.

[3] M 133

[4] Dantons Tod, 2.Akt, 3.Szene . Zitiert wird nach Georg Büchner. Werke und Briefe (Münchner Ausgabe). (2001). S.67-135. Hier: S.95f. (In der Folge zitiert als GB mit Seitenangabe).

[5] Marlies Janz weist mit Blick auf die “glühende”, “brausende” und “leuchtende” Schöpfung darauf hin, “daß Büchners Materialismus, sein Begriff von Natur, theologisch fundiert” sei. Diese Fundierung sei für die Position Celans im Meridian nicht unbedingt relevant im Gegensatz zu seinem späteren Selbstverständnis in der Niemandsrose. S. dies.: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. (1976). S.100.

[6] Brief an die Familie, Straßburg, 28. Juli 1835. GB, S.306.

[7] Brief an Gutzkow, Straßburg, 1835. GB, S.311f.

[8] Brief an August Stoeber, Darmstadt, 9.Dezember 1833. GB, S.284.

[9] M 134

[10] Zusätzlich gehört Celans Thema, die “Kunst”, der Vergangenheit an: “[…] Sie erinnern sich […]”. Dadurch fehlt ihr die Dringlichkeit, das zur unmittelbaren Gegenwart gehörende ‘Akute’.

[11] Wie ‘Geschichtlichkeit’ muss auch dieser Begriff ganz konkret verstanden werden: als das physische und psychische Leben betreffend.

[12] Celan behält die Schreibweise “Wozzeck” bei, die auf einem Lesefehler des ersten Büchner-Herausgebers Karl Emil Franzos beruht. Diese Form der Solidarität wird am Ende der Rede noch einmal, und dann ganz ausdrücklich bekräftigt.

[13] M 134

[14] Woyzeck, 3.Szene. GB, Lesefassung S.233-257. Hier: S.237.

[15] Gleichzeitig lässt er ein “Wort” einen “Weg gehen”. Mit dieser Sprechweise klingt zum ersten Mal die für den Meridian so wichtige “Weg- und Bewegungsmetaphorik” an. Siehe dazu: Tobias Döring : Der Meridian der Neuen Welt. Derek Walcotts poetologisches Echo auf Paul Celan, in: Celan-Jahrbuch 7 (1997/98). (1999). S.197-223. Hier: S.222.

[16] M 133f.

[17] Leonce und Lena, 3. Akt, 3.Szene. GB, S.159-190.Hier: S.188.

[18] ebd., S.189.

[19] ebd., S.186f.

[20] Das jambische Versmaß dieses Satzes betont formal den Aussagegehalt, indem es das Formprinzip der ‘Kunst’ demonstriert.

[21] Im 19. Jahrhundert gehörte der Aspekt des Maschinellen noch zur allgemeinen Bedeutung des Begriffs Kunst: “Endlich wird Kunst auch für eine ‘künstliche Vorrichtung’ gebraucht, so besonders im Bergbau für eine zum Heben verwendete Maschine, wonach dann allgemein Wasserkunst, wofür zuweilen auch einfaches Kunst”, in: Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. Bearbeitet von Werner Betz. (1966). Artikel “Kunst”, S.375. Für Büchner ist also die Assoziation von Kunst mit Maschinerie etwas Selbstverständliches. Celan hingegen muss diesen Aspekt in die heutige Bedeutung des Begriffs erst wieder einführen.

[22] M 134

[23] Celan verwendet hier eine allgemeine, sprichwortartige Redewendung (“davon ist gut reden”) und unterstreicht damit erneut die Abwesenheit von Individualität im Diskurs der ‘Kunst’.

[24] M 134f.

[25] “Etwa ‘ein Sechstel’ […] des Textes montierte B. aus wörtlich oder leicht abgeändert übernommenen Zitaten, um ihm so eine größere Authentizität und Unmittelbarkeit zu geben.”: Anhang, GB,S.367-770.Hier: S.485.

[26] ebd. S.499.

[27] M 135

[28] Die Dialektik von ‘Fremdheit’ und ‘Nähe’ wird später zu einem Kernbestandteil der Rede.

[29] Dantons Tod, 2.Akt, 5.Szene, GB, S.99f.

[30] Brief von Büchner, Gießen, um den 9.-12. März 1834. GB, S.288.

[31] In der Marionettenmetaphorik erscheint mir das Moment der Selbstentfremdung stärker zu sein, als das der Fremdbestimmung, denn auch bei “Medusenhaupt” und “Automat” (s.u.) betont Celan die “Unheimlichkeit” der ‘Kunst’, ohne sie ausdrücklich zum Glied einer Subjekt-Objekt-Relation zu machen. Liegt der Schwerpunkt auf einer Sphäre allein, dominiert das Moment “Ich-Ferne”, wie bei Lenz.

[32] Die Unfreiheit der ‘Kunst’ und die “Freiheit” des “Gegenwortes”, das sich vor den “Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte” nicht mehr “bückt” , werden im Kapitel zur ‚Dichtung’ ausführlicher berücksichtigt.

[33] M 136

[34] Das Motiv der Notwendigkeit kehrt später wieder, wenn Celan sagt, er sei “aus eigenen, wenn auch nicht freien Stücken zu Büchner gegangen”, was “wohl in der Luft” liege “ – in der Luft, die wir zu atmen haben”. M 138.

[35] M 136f.

[36] Die Ästhetik des ‘Elargissez l’Art’, die Lenz, Büchner und Hauptmann vereint, beschreibt M.N.Rosanow, der im Meridian namentlich genannt und zitiert wird, in seiner Lenz-Monographie wie folgt: “Mercier fordert die Befreiung der Kunst aus den Fesseln der engbegrenzten Standesanschauungen und ihre Einführung in das große Gebiet der Volksinteressen, Fragen und Sympathien. Sein Kriegsruf lautet: ‘Elargissez l’Art!’. Dieses Prinzip führt zu einer Änderung der Anschauung über den Inhalt der Kunst, über die Auswahl des geeigneten Stoffes und über die Ausführungsmethoden. Die Kunst muß sich dem Leben anschließen und mit dessen realen, täglichen Aufgaben rechnen; sie muss das darstellen, was alle vor Augen haben, und sich nicht einen Schritt von der Wirklichkeit entfernen. So gelangt Mercier dazu, Realismus in der Kunst zu fordern, eilt in dieser Beziehung seiner Zeit weit voraus und erscheint als Vorläufer der jetzigen realistischen Schule.” In: M.N.Rosanow . Jakob M.R. Lenz, der Dichter der Sturm-und Drangperiode. Sein Leben und seine Werk, vom Verfasser autorisierte und durchgesehene Übersetzung, deutsch von C. von Guetschow, Leipzig 1909, S.131 . Zitiert nach: Der Meridian. Tübinger Ausgabe. Anhang S.226. (vollständige Bibliographie s.u.).

[37] M 137

[38] Lenz, GB, S.144.

Ende der Leseprobe aus 101 Seiten

Details

Titel
Deine allereigenste Enge - Radikale Individualität und Freiheit in Paul Celans Meridian
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)
Note
N.N.
Autor
Jahr
2003
Seiten
101
Katalognummer
V14919
ISBN (eBook)
9783638201933
Dateigröße
677 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Besonderheiten: Intensive Auseinandersetzung mit den "Vorstufen, Entwürfen und Materialien" der "Tübinger Ausgabe", Verbindung zu Claude Levi-Strauss,Verbindung zur Phänomenologie Edmund Husserls.
Schlagworte
Deine, Enge, Radikale, Individualität, Freiheit, Paul, Celans, Meridian
Arbeit zitieren
Thomas Stachel (Autor:in), 2003, Deine allereigenste Enge - Radikale Individualität und Freiheit in Paul Celans Meridian, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14919

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