Sprachvarietäten in Mitteldeutschland


Magisterarbeit, 2010

146 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS:

ÜBERBLICK

VORWORT

TEIL I:
1. EINLEITUNG: GEOGRAPHISCHE , GESELLSCHAFTLICHE UND LINGUISTISCHE EINTEILUNG DES RUHRGEBIETES
1.a Geographische Einteilung des Sprachraumes Ruhrgebiet:
1.b Soziale und gesellschaftliche Einordnung des Ruhrdeutschen:
1 .c Entwicklung der Sprache des Ruhrgebietes:
1 d Warum die Sprache der Ruhr noch keiner einstimmigen Definition unterliegt
2. DIE SUCHE NACH EINER PASSENDEN BEZEICHNUNG FÜR DIE RUHRVARIETÄT
3. EXKURS:
3.a Definition Standardsprache:
3.b Definition Umgangssprache:
3.c Definition Dialekt:
3.d Definition Regiolekt:
3. e Definition Substandard:
4. REGIONALE VARIETÄT DES RUHRGEBIETES - WAS IST EIGENTLICH RUHRDEUTSCH? REGIONALE UMGANGSSPRACHE, DIALEKT, REGIOLEKT ODER SUBSTANDARD?
4. a Um welchen Sprachtyp handelt es sich beim Ruhrdeutschen?
4.b Das Ruhrdeutsche lässt sich als Umgangssprache der Region Ruhr Einordnen
4.c Das Ruhrdeutsche ist ein Substandard
5. DIE EINORDNUNG DES RUHRDEUTSCHEN: LINGUISTISCHE CHARAKTERISTIKA
5.a Die Studie von Arend Mihm: Merkmale der Ruhrsprache, die auch in anderen REGIONEN DEUTSCHLANDS AUFTAUCHEN, SOWIE ruhrgebietsspezifische Merkmale
5.b Kurzbeschreibung auf allen relevanten systemlinguistischen Ebenen:
5.b.1 Besondere Merkmale in der Lexik
5.b.2 Besondere Merkmale in der Morphologie
5.b.3 Besondere Merkmale in der Phonetik
5.b.4 Besondere Merkmale in der Syntax
5.c Einflüsse anderer Sprachen (Kontaktsituation)
5.c.1 Einflüsse aus dem Niederdeutschen nach Studien von Arend Mihm
5.c.2 Lexikalische Einflüsse aus dem Polnischen:
5.c.3 Einflüsse auf die Lexik und Morpholgie aus dem Jiddischen
5.c.4 Einflüsse aus den Migrantensprachen und der Jugendsprache:

Teil II
1. DAS RUHRGEBIETSDEUTSCH EINE FELDFORSCHUNG
1.1 zur Datenerhebung
1.1 a Vorbereitung
1.2 Die empirische Untersuchung
1.2 a Der standardisierte Fragebogen
1.2.b Beschreibung der Aufgaben:
1.3 Ergebnissicherung der Befragung: Tabelle
2. ANALYSE DER SÄTZE UND VERGLEICH AUSGEWÄHLTER LINGUISTISCHER MERKMALE DES RUHRDEUTSCHEN MIT DEM STANDARDDEUTSCHEN UND DEM NIEDERDEUTSCHEN
3. FAZIT
4. ANHANG
5. LITERATURVERZEICHNIS
6. DANKSAGUNG

ÜBERBLICK

In meiner vorliegenden Magisterarbeit „Sprachvarietäten in Mitteldeutschland“ beschäftige ich mich mit verschiedenen Sprachvarietäten in Mitteldeutschland, wobei ich besonders auf das Niederdeutsche und das Ruhrdeutsche eingehen werde.

Ich habe dieses Thema gewählt, weil ich selber aus der Region des Ruhrgebietes stamme und ich mich schon immer für die Sprachvarietät interessiert habe.

Zunächst werde ich einen kurzen Überblick über die Besonderheiten der Sprache des Ruhrgebietes geben. Außerdem werde ich ausgewählte Unterschiede des Ruhrdeutschen zum Niederdeutschen sowie Hochdeutschen, mithilfe eines standardisierten Fragebogens herausarbeiten. Weiterhin möchte ich mithilfe des Fragebogens herausfinden, inwieweit sich die Ruhrsprache innerhalb ihrer eigenständigen Varietät in den letzten Jahrzehnten verändert hat.

Zunächst folgt ein kurzer Einblick in die Region an der Ruhr mit Beispielen aus der Geographie, Wirtschaft und Gesellschaft.

VORWORT

„Zwischen Rhein und Weser das Herz der Welt
hier bist du keine Nummer keiner sieht auf dein Geld
eine grüne Oase zwischen Kohle und Stahl
wenn wir zusammen feiern ist uns alles egal

Ihr habt mich gefangen und das gnadenlos
aus euren Krallen komm ich nicht mehr los
ich atme tief durch und denke "egal"
euer Herz ist aus Gold eure Seele aus Stahl

Ihr seid das Ruhrgebiet die Droge die mich süchtig macht
das hätt ich nie gedacht komm von euch nicht mehr los
ihr seid das Ruhrgebiet die Droge die mich aufrecht hält
wo nur die Freundschaft zählt - ihr seid das Ruhrgebiet
und das Ruhrgebiet bin ich.“

(http://www.elyrics.net/read/w/wolfgang-petry-lyrics/ruhrgebiet-lyrics.html)

So sang in den 90er Jahren ein gewisser Wolfgang Petry seine Hymne an die Region an der Ruhr.

Rheinisch- Westfälischer Industriebezirk, Rheinisch-Westfälisches

Industriegebiet, Ruhrkohlenbezirk oder Ruhrkohlenrevier (Brockhaus Enzyklopädie, 1973, S. 218), das waren lange Zeit die Bezeichnungen für die Ruhrregion. Der Begriff Ruhrgebiet hingegen galt eigentlich nur für den Einzugsbereich direkt an der Ruhr. Um 1930 entstand dann genau der Name Ruhrgebiet, den wir heute benutzen, der aber trotzdem nicht der einzige gängige Begriff ist. So gibt es außerdem Namen, wie Revier oder des Bergbaus wegen, Kohlenpott, Ruhrpott oder aber die Kurzform Pott, welche aus dem Niederdeutschen von Pütt, für Bergbau kommt.

Das Ruhrgebiet: dreckig, regnerisch, mitunter hässlich und vor allem ein Gebiet in Deutschland, dass von der Industrie beherrscht wird, in dem es kaum Grünflächen gibt und dessen Menschen vermutlich alle im Bergbau gearbeitet haben. Kurz, das Ruhrgebiet wird durchaus das eine oder andere Mal mit den

Begriffen () kulturlos, sprachlos- und nun auch noch arbeitslos (...) gleichgesetzt (Ehlich et al.1995 S.5). Diesen Vorurteilen möchte ich mit meiner Arbeit gerne etwas entgegen bringen.

Im Ruhrgebiet gibt es mit der Universität Bochum eine der größten Universitäten (32.000 Studenten) in ganz Deutschland. Daneben sind die Unis Essen- Duisburg, Dortmund und zahlreiche Fachhochschulen vertreten. Diese Möglichkeiten haben die Grundlage dafür gegeben, dass auch in wissenschaftlicher Perspektive das Ruhrgebiet eine neue Aufmerksamkeit erfährt. Hier sind es vor allen Dingen die sprachlichen Verhältnisse der Region, die interessant sind (Ehlich, 1995, S.4) und auf die ich hier eingehen möchte.

In dieser wissenschaftlichen Arbeit möchte ich gerne die regionale Varietät der Ruhr auf linguistischer Ebene erläutern. Außerdem soll ein Vergleich zum Niederdeutschen und Standarddeutschen herausgearbeitet werden.

TEIL I:

1. EINLEITUNG: GEOGRAPHISCHE , GESELLSCHAFTLICHE UND LINGUISTISCHE EINTEILUNG DES RUHRGEBIETES

Das Ruhrgebiet ist mit über 5 Millionen Einwohnern nach Paris, Moskau, Greater London und Istanbul das fünftgrößte Ballungsgebiet Europas.

Auf einer Karte betrachtet könnte man das Ruhrgebiet für eine einzige Metropole halten, da es teilweise keine erkennbaren Grenzen zwischen den einzelnen Städten gibt.

Quelle: http://lexikon.calsky.eom/de/txt/r/ru/ruhrgebiet.php

Im ersten Kapitel werde ich zunächst einen Überblick über die geographische, soziale sowie linguistische Einteilung geben, damit klar wird, von welchem Gebiet im weiteren Verlauf meiner Arbeit die Rede ist.

1.a Geographische Einteilung des Sprachraumes Ruhrgebiet:

Wenn von Ruhrdeutsch gesprochen wird, sollte zunächst geklärt sein, welches Gebiet den eigentlichen Sprachraum dieser Varietät geographisch umfasst: Das Ruhrgebiet ist geographisch gesehen mit 5,6 Millionen Einwohnern und einer Fläche von etwa 4.435 Quadratkilometern der größte Wirtschaftsraum Deutschlands und der drittgrößte Europas. Die Besonderheit dieses Gebietes ist, dass es aus einer breiten Anzahl von Großstädten besteht. Die Städtelinie zieht sich von Osten hin in den Rhein-Ruhrraum bis in das südliche Rheingebiet. So reicht die Region im Norden bis nach Haltern, die südlichen Grenzstädte sind durch Mühlheim, Essen, Schwelm und Hagen begrenzt, während es im Westen bis Geldern reicht und im Osten die Stadt Hamm die Grenze zieht (Deege, 1973, S.1).

Zum heutigen Ruhrgebiet gehören die Städte Essen, Bochum, Bottrop, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Hagen , Hamm, Herne, Mühlheim an der Ruhr, Oberhausen, sowie Recklinghausen, Unna, Wesel und der Ennepe- Ruhr Kreis.

Das gesamte Ruhrgebiet liegt nördlich der Benrather Linie, welche den Übergang der hochdeutschen Dialekte zu den niederdeutschen Dialekten deutlich macht. Wenn man das Ruhrgebiet also auf dialektal geographischer Linie einteilen will, lässt sich erkennen, dass es komplett auf niederdeutschem Sprachgebiet liegt.

Durch die Region an der Ruhr verlaufen außerdem weitere Sprachgrenzen:

() Das östliche Ruhrgebiet fällt in den Großraum des Westniederdeutschen, das Westliche in den des Niederfränkischen. Diese mundartlichen Großräume sind wiederum unterteilt in die Einzugsbereiche der jeweiligen Dialekte, dies ist im westniederdeutschen Raum das Westfälische im niederländischen Gebiet das Niederrheinische. (...)

(Fekeley-Lepszy, 1983, S.44)

Abb1: Siedlungsstruktur Ruhrgebiet. (übernommen aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Ruhrgebiet)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.b Soziale und gesellschaftliche Einordnung des Ruhrdeutschen:

In der Soziolinguistik werden die Sprachvarianten durch ein high (hoch) und low (niedrig) charakterisiert, wenn man von high spricht, ist der sozial höhere Status des Sprechers gemeint und gleichzeitig wird auch die Sprachform höher eingestuft. Die niedriger eingestufte Sprachform impliziert auch gleichzeitig einen niedriger eingestuften Status des Sprechers, sowohl auf sozialer, als auch auf sprachlicher Ebene.

Die Sprecher benutzen die Ruhrvarietät noch heute, wie auch Sprecher anderer Sprachvarietäten, um eine größere emotionale Nähe zur Sprache herzustellen. Man kann also annehmen, dass das Ruhrdeutsche nicht in offiziellen Situationen gebraucht wird. Ob dem wirklich so ist, möchte ich gerne in meiner zum Ruhrdeutschen verfassten Befragung herausfinden, die im zweiten Teil der Arbeit behandelt wird.

Wie bei anderen Varietäten, wird der Substandard oftmals mit den unteren sozialen Schichten in Verbindung gesetzt. Auch wenn, wie bereits in der Forschung von Steinig (Steinig, 1976) herausgefunden wurde, der Substandard ebenfalls von bildungsnahen Schichten gebraucht wird. Jedoch kann angenommen werden, dass mit einer höheren Schulbildung auch ein besseres Bewusstsein über die Nutzung der Sprache vorhanden ist. So denken Sprecher mit universitärem Abschluss wahrscheinlich nicht, dass das Substantiv Blagen für Kinder durchaus im standarddeutschen Sprachgebrauch vertreten ist.

Neben dem Faktor der schulischen Bildung und der Erziehung im Elternhaus spielt sicherlich auch die Bereitschaft die Sprachvarietät zu gebrauchen und die Sympathie ihr gegenüber eine große Rolle. Diesbezüglich hat sich in den letzten Jahren einiges verändert. Im Ruhrgebiet kam es immer wieder zum Strukturwandel. Der gesamte Ballungsraum sollte aus wirtschaftlicher Sichtweise aufgewertet werden. Und auch der Freizeitwert sollte gesteigert werden. Immer mehr Grün- und Erholungsflächen entstanden und somit hat auch für die Benutzer der Varietät eine größere Re-Identifizierung mit dem Ruhrgebiet und der Sprachvarietät stattgefunden. Es ist doch möglich, dass es manche Sprecher nicht als sozial angemessen angesehen haben aus der Region des rußigen Kohlenpotts zu kommen und somit vor allem die höher gebildeteren Schichten zunächst versucht haben, das Standarddeutsche anstatt das Ruhrdeutsche zu gebrauchen. Daraufhin kam es aber ab den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zu einer Aufwertung der Region. Das Ruhrdeutsche hat somit wieder an Prestige gewonnen (Mihm, 1984). Insgesamt lässt sich sagen, dass einerseits die Entwicklungen in Industrie und Wirtschaft andererseits aber auch die persönliche Einstellung und Identifikation mit der Sprachvarietät zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Varietät führen können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2: Hauptdialektgrenzen im Rhein-Ruhr-Gebiet

1.c Entwicklung der Sprache des Ruhrgebietes:

Insbesondere das Niederdeutsche wurde ab ca. 1350 als Sprache des Volkes im öffentlichen sowie privaten Bereich genutzt (Mihm, 1984, S.38). Im 17. Jahrhundert gab es allerdings bereits eine Reduzierung des Niederdeutschen

Gebrauchs, so wurde in der Familie weiterhin Niederdeutsch gesprochen, im öffentlichen Bereich allerdings wurde immer mehr das Hochdeutsche gebraucht.

Jedoch gab es natürlich eine ungleiche Verteilung zwischen dem Gebrauch des Niederdeutschen und dem des Hochdeutschen. Durch einen gesellschaftlich gehobeneren Status und dem damit in Verbindung zu bringenden Bildungsstand, kam die bedeutende Gesellschaftsschicht schneller in Verbindung mit dem Hochdeutschen als sozial niedriger anzuordnende Gruppen der Gesellschaft. Die Annahme,wie bereits oben erwähnt, dass der Bildungsstand eine große Rolle spielt, kann man in der heutigen Zeit ebenfalls beobachten, da eine dialektale Spracheinfärbung höchstwahrscheinlich eher Sprechern mit geringem Bildungsstand zugeordnet wird.

Mit der folgenden Beschreibung wird der Umriss des Gebietes klar, um dessen Sprache es im weiteren Verlauf meiner Arbeit gehen wird:

Bis zum 20. Jahrhundert war das Niederdeutsche das dominierende Sprachsystem in der Region an der Ruhr. (Mihm, 1984, S.39). Die Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Auswirkungen auf den Sprachgebrauch im Ruhrgebiet. Zunächst einmal setzte in der Region sehr schnell ein Wandel von der Landwirtschaft zur Industrie hin ein. Durch den industriellen Aufschwung wanderten Gastarbeiter aus dem Osten Europas ein, mit welchen sich auch das Verhältnis zu alten Sitten und Bräuchen veränderte. Es gab eine Art kulturelle Revolution, mit der soziale, sowie sprachliche Einflüsse einhergingen. Es kam zur Wendung von der Dorfgemeinschaft mit informellem Kommunikationsgefüge hin zur städtischen Anonymität und Isolation (Hallenberger,1990). Durch die wechselnden Lebens- und Umweltbedingungen gab es schließlich Auswirkungen auf das althergebrachte Sprachsystem.

Der Germanist Dirk Hallenberger formuliert hierzu:

Die niederdeutschen Dialekte erlebten im Ruhrgebiet seit der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunderts einen rapide einsetzenden Prestigeverlust und begannen für die

Sprecher, mehr noch für die Zugezogenen, stark an Bedeutung zu verlieren. Die

Mundart der Alteingesessenen erwies sich als Verständigungsmittel mit den vielen neuen sesshaft Gewordenen als unzulänglich.

(Hallenberger, 1990, S.76)

Durch den Umschwung wurde das heutige Standarddeutsche zur Verkehrssprache.

Nachdem nun die Hochsprache zur prestigeträchtigen Standardsprache wurde und eben auch von Migranten, der Arbeitsbevölkerung, der Industrie als auch in der Landwirtschaft gesprochen wurde, verlor die Sprachfärbung des Niederdeutschen ihren Gebrauch (nach 1900) und es entwickelte sich das Ruhrgebietsdeutsch, welches als Sprache im Alltag seinen Einzug fand und wodurch es zu Änderungen in den systemlinguistischen Bereichen kam.

Jedoch fand während des Umschwungs vom primären zum sekundären Sektor, der Wortschatz aus den Bereichen Technik, Natur oder Sozialwissenschaften im Niederdeutschen keinen angemessenen Ausdruck, da kaum Hochdeutsch gesprochen wurde.

Desweiteren zogen im Zeitraum der Industrialisierung einige Niederfränkisch sprechende Gruppen zu, die einen niedrigeren Gesellschaftsstatus zu verzeichnen hatten und somit beschränkte sich der Gebrauch des Dialektes immer mehr auf diese Gruppe.

Mihm äußert sich zur Entwicklung des Ruhrdeutschen folgendermaßen:

(...) Schließlich ist die letzte Entwicklungsphase des Ruhrdeutschen dadurch gekennzeichnet, dass fast alle Bürger, wenn sie wollen, hochdeutsch sprechen können und die Schule keine Bedrohung der Hochsprache mehr befürchtet. Dadurch übernahm das Hochdeutsche die Funktion einer Alternativsprache, vergleichbar mit den alten Dialekten anderer Regionen. Es dient in der Familie, unter Freunden und Bekannten als Verständigungsmittel, indem sich Unmittelbarkeit und Anteilnahme direkt zum Ausdruck bringen lassen, und gilt im natürlichen Umgang als natürlich und ungezwungen (...)

(Mihm zitiert in Heinz H. Menge, in: Ehlich, 1995,S.36)

Die Entwicklung des Ruhrdeutschen hat sich natürlich in Zeiten der Globalisierung über die nationalen Grenzen hinaus verändert. Heute sind weitreichende sprachliche Einflüsse zu verzeichnen.

1d Warum die Sprache der Ruhr noch keiner einstimmigen Definition unterliegt

Nicht nur geographisch gesehen weist der größte Ballungsraum Deutschlands Besonderheiten auf, sondern, wie gerade erläutert, stellt sich auch aus linguistischer Sicht die Sprache des Ruhrgebietes als einzigartig heraus. Auch deshalb, weil die Varietät lange Zeit gar nicht genauer betrachtet wurde. So stellt der Linguist Udo Thies in einem Aufsatz im Jahre 1985 (S. 108) fest, dass das Ruhrgebiet bei linguistischen Untersuchungen als weißer Fleck vertreten ist. Das bedeutet, dass diese Varietät in der Linguistik bis dato vernachlässigt wurde, was wohl daran liegen könnte, dass sich Sprachforscher lange Zeit mit älteren und ausgeprägteren Dialekten beschäftigt haben. So wurde das Ruhrgebiet als Sprachraum insgesamt in der Dialektforschung nicht als eigenständiges Gebiet behandelt: (...) zumeist wird die sprachliche Region Ruhrgebiet in den westfälischen Sprachraum integriert, ohne auch zu erwähnen, dass sich hier längst eine eigene Sprachform gebildet hat (Fekeley- Lepsey, 1983, S.43).

2. Die Suche nach einer passenden Bezeichnung für die Ruhrvarietät

Jeder Dialekt beispielsweise hat einen Namen, von bayrisch, über schwäbisch bis hin zu alemannisch. Für die Varietät des Ruhrgebietes erweist sich die Namenswahl allerdings als schwierig. Udo Thies hat eine Studie durchgeführt, deren Ziel es unter anderem war, eine konkrete Namensgebung für die Ruhrvarietät zu finden. Zur Auswahl standen Namen wie Slang, Mischmasch, Dialekt, Umgangssprache, Kumpelsprache oder auch Ruhrgebietsplatt. Keiner dieser Begriffe wurde aber von denen in der Studie befragten Probanden als einheitlicher Terminus gebraucht (Thies, 1985, S. 110).

Mithilfe der nachfolgend vorgestellten Definitionen werde ich versuchen zu erörtern, in welche Kategorie sich das Ruhrdeutsche einordnen lässt.

3. Exkurs:

Definition von Standardsprache, Dialekt, Regiolekt,
Umgangssprache und Substandard

Zunächst werde ich hier klären, unter welchen Kriterien sich Standardsprache, Dialekt, Regiolekt, Umgangssprache und Substandard einteilen lassen. Danach werde ich versuchen, diese Einteilungen auf das Ruhrdeutsche zu übertragen.

3. a Definition Standardsprache:

Wenn man die regionale Varietät des Ruhrgebietes, also das Ruhrdeutsche und die Standardsprache des Hochdeutschen miteinander vergleichen will, so muss zunächst festgelegt werden, was genau unter Standardsprache oder auch der Hochsprache verstanden wird. Dazu eine sprachwissenschaftliche Definition von Bußmann (2002,S.648):

Standardsprache ist eine (...) seit den 70 er Jahren in Deutschland übliche deskriptive Bezeichnung für die historisch legitimierte, überregionale, mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittel- bzw. Oberschicht; in diesem Sinn synonyme Verwendung mit der (wertenden) Bezeichnung „Hochsprache“. Eine Standardsprache ist weiterhin ein Modell, dass in Grammatiken und Wörterbüchern kodifiziert ist und dem sich Sprecher und Schreiber mehr oder weniger annähern (Haase, 1999, S.11-25).

Die Standardsprache ermöglicht außerdem sprachliche Kommunikation zwischen Menschen in allen Lebensbereichen und besitzt das höchste gesellschaftliche Prestige, da Sprecher in ihr das Ideal der Sprachrichtigkeit und den Ausdruck von Bildung sehen (Schmidt, 2004, S.164).

Demnach steht die Standardvarietät, in diesem Fall das Standarddeutsch im Gegensatz zu anderen Varietäten, wie Dialekten oder Regiolekten und unterliegt einer bestimmten Norm, welche durch die deutsche Grammatik und Wörterbücher festgelegt ist.

3. b Definition Umgangssprache:

Desweiteren kann man Untergliederungen in Umgangssprachen festlegen.

Als Umgangssprache wird die (...) Sprechweise des täglichen Lebens, im Unterschied zur Hochsprache angesehen (...). (Brockhaus Enzyklopädie 1973, S.216). Die regionalen Umgangssprachen übernehmen in einem bestimmten Maß die Funktion der Dialekte, wobei bei der Umgangssprache soziale Faktoren eine große Rolle spielen und die Umgangssprache im Schriftdeutschen ebenso wenig wie die Dialekte gebraucht wird. Umgangssprache bedeutet für die Sprecher ein größeres Maß an Freiheit, da dieser Teil der Sprache nicht so stark normiert ist, wie das standardisierte Hochdeutsche.

Die Umgangssprache hat ihre Funktion also in der Alltagssprache, im mündlichen Gebrauch. Eine regionale Umgangssprache lässt sich, da sie nur schwach dosierte Systemhaftigkeit besitzt, zwischen der Standardsprache und dem Dialekt einordnen (Braun, 1998, S.28).

Umgangssprachen bewegen sich also zwischen den Dialekten und der Standardsprache, manchmal eher an den Dialekt angelehnt (auf dem Land) und manchmal eher an die Standardsprache angelehnt (eher in Großstädten zu beobachten) (Braun, 1998, S.25). Die folgenden Beispiele sollen die Umgangssprache des Ruhrgebietes verdeutlichen:

Jetz hör doch auf den Emil immer zu piesacken → (hdt. ärgern)

Is der Alex immer noch am poofen? → (hdt. am schlafen)

Warum prokelst du jetz in der Wand da rum? → (hdt. bohrst du?)

(Vgl.Küpper,1987)

Im Vergleich dazu ist die schwäbische Umgangssprache stärker an den Dialekt angelehnt:

Ich geh g'schwend zu Paule. → (hdt. Ich geh schnell zu Paul.) Kommen Se noch rauf, Se störe iberhaubt net.

→ (hdt. Kommen Sie noch hinauf, Sie stören überhaupt nicht.)

Waisch, du bisch ein Käpsele. → (hdt. Weisst du, du bist ein kluges Köpfchen)

(Fischer,1950)

Bei den Beispielen erkennt der Leser sofort, dass sich die Umgangssprache des Schwäbischen an den schwäbischen Dialekt anlehnt. Im ersten Satz wird geschwind verkürzt zu g'schwind, wobei der Schwalaut entfällt. Im zweiten Satz wird das Personalpronomen Sie zu Se, was auch im schwäbischen Dialekt auftritt. Der Umlaut /ue/ wird im Schwäbischen als Vokal /i/ ausgesprochen, wie bei iberhaupt nicht. Und der Negationspartikel nicht wird im Süddeutschen Raum typischerweise zu net. Im dritten Satz erkennt man ein weiteres Merkmal des Schwäbischen, /st/ wird eigentlich nie ausgesprochen, sondern zu /sch/ (waisch), und ein aus der Lexik entnommener Terminus ist das Substantiv Käpsele, was soviel, wie kluger Kopf bedeutet, hier mit der typischen Diminutivendung /- le/ des süddeutschen Raumes. Bei den Beispielen handelt sich um die Umgangssprache des Schwäbischen, da nur einige dialektale Merkmale auftreten, im Dialekt würde der erste Satz hingegen i gang no g'schwindzom Paule, heißen (Fischer, 1950).

3.c Definition Dialekt:

Im Gegensatz dazu findet man zum Dialekt folgende Definition:

Der Dialekt gilt als eine sprachliche Varietät mit begrenzter räumlicher Geltung im Gegensatz zur überdachenden Standardsprache. Der Dialekt ist (...) regional gebunden in diesem Sinne, dass die regionale Verbreitung dieses Systems nicht das Gebrauchssystem eines anderen Systems überlappt, und keine Schriftlichkeit bzw. Standardisierung im Sinne offiziell normierter, orthographischer und grammtischer Regeln aufweist.

(Bussmann, 2002, S.162)

Es kann festgehalten werden, dass ein Dialekt oder auch bedeutungsgleich die Mundart immer komplementär zu einer Einheitssprache ist, auch wird die Bezeichnung Dialekt auf eine sprachliche Normierung bezogen. Der Dialekt an sich hat immer eine geringere Reichweite als die Standardsprache oder

Einheitssprache. Die Geltung des Dialekts ist also regional begrenzt. Auf vielen Ebenen der Linguistik hat ein Dialekt ausgeprägte Merkmale entwickelt, so findet man Unterschiede zur Hochsprache in Ausprägungen des Dialektes in der Phonologie, der Morphologie, Syntax, Semantik oder auch der Lexik. Durch diese Eigenständigkeit in der Linguistik kann der Dialekt als autonome Sprachausprägung angesehen werden und grenzt sich somit von der Umgangssprache ab.

Ein grundlegendes Merkmal des Dialektes ist sicherlich auch das Abweichen von der Aussprachenorm des hochdeutschen Standards. Das bedeutet, dass der Dialekt voraussetzt, dass es eine Hochsprache gibt, zu der er sich abgrenzt. Außerdem wird er beinahe ausschließlich in mündlicher Form benutzt, außer bei illustrativen Beispielen, welche die bestimmte Dialektform verschriftlicht wiedergeben. Haase (1999, S.12) hierzu:

Als Dialekt wird dasjenige Sprachsystem bezeichnet, das in einer Diglossiesituation zur vertrauten, informellen mündlichen Kommunikation innerhalb der lokalen (bäuerlichen) Sprachgemeinschaft benutzt wird.

Schmidt (2004, S. 160) beschreibt in Die Geschichte der deutschen Sprache, dass der Dialekt die älteste der regionalen Varietäten ist. Der Dialekt ist ein regional, sozial und funktional relativ begrenztes Kommunikationsmittel und territorial vielfach differenziert (Schmidt, 2004, S.160).

3.d Definition Regiolekt:

Im Unterschied zum Dialekt lässt sich der Regiolekt definieren als eine dialektal geprägte und regional verbreitete Umgangssprache. Von der Standardsprache unterscheidet sich der Regiolekt durch ein Substrat aus verschiedenen Dialekten, die in der jeweiligen Region gesprochen werden. Im Gegensatz zum Dialekt sind beim Regiolekt aber die meisten linguistischen Merkmale in Grammatik Lexik und Aussprache vereinfacht und stärker an die Standardsprache angepasst (Scholten, 1988, S.14).

Der Regiolekt als Nonstandard besitzt kodifizierte Regeln und habitualisierte, usuelle Regeln, die als Nonstandard gelten.Nonstandard ist also primär nicht gekennzeichnet durch Regellosigkeit, Fehler, sondern durch Regeln, die keinen Eingang in Standardgrammatiken finden.

(Henn- Memmesheimer, S.341, 1986)

3.e Definition Substandard:

Als Substandard hingegen versteht man nach Bloomfield (1933, S.7) folgendes:

The nonstandard language can be divided (...) Into substandard speech, intelligible at least, though not uniform, throughout the country, and local dialect, which differs from place to place to such an extent that speakers living from distance apart may fail to understand each other Substandard speech belongs to the lower middle class- to the more ambitious small tradesfolk, mechanics, or city workmen, and the local dialects are spoken by the peasants and the poorest people of the towns.

Nach der in den 30 er Jahren des letzten Jahrhunderts entstandenen Definition von Bloomfield unterscheidet sich der Substandard von den Dialekten vor allem durch die ihm angehörige regionale und soziale Verteilung. Während der Dialekt ortspezifisch ist, hat der Substandard einen größeren Geltungsbereich und stellt nach Bloomfield die Hauptvarietät der mittleren Bevölkerungsschicht dar. Allerdings gilt der Substandard eher als negativ bewertete Sprachform, die Fehler in der Grammatik aufweist. Der Substandard besitzt nach Bloomfield eigene kodifizierte Regeln, wie die Standardsprache.

4. REGIONALE VARIETÄT DES RUHRGEBIETES - WAS IST EIGENTLICH RUHRDEUTSCH? REGIONALE UMGANGSSPRACHE, DIALEKT, REGIOLEKT ODER SUBSTANDARD?

Im weiteren Verlauf der Arbeit möchte ich gerne näher auf die Unterschiede zwischen den einzelnen linguistischen Einordnungskategorien der Ruhrgebietssprache eingehen und mithilfe der eben erläuterten Definitionen argumentieren, unter welcher Kategorie die Sprache der Ruhr einzuordnen ist. Der Schwerpunkt der nächsten Kapitel liegt zunächst in einer beschreibenden Darstellung der Sprache des Ruhrgebietes. Hier soll die Frage geklärt werden, welche linguistischen Einflussfaktoren eine Rolle spielen bei der Entstehung der Ruhrvarietät. Beispielsweise werden grammatische Merkmale aus dem Niederdeutschen übernommen, worauf ich im Verlauf meiner Arbeit näher eingehen werde.

Die Varietät werde ich außerdem anhand von einem sprachlichen Beispiel aus der Literatur darstellen und näher untersuchen, wobei ich hier Merkmale in Phonetik, Lexik, sowie Syntax und Morphologie erläutern möchte. Außerdem werde ich im zweiten Teil der Arbeit in einem Vergleich des Standarddeutschen sowie des Niederdeutschen mit der Sprache des Ruhrgebietes in Form einer Feldforschung herausarbeiten, wie die Unterschiede aussehen, wobei auf die prägnantesten Unterschiede genauer eingegangen wird.

Nach der Linguistin Dr. Eva Lipowski der Uni Essen handelt es sich bei der Ruhrsprache um einen Substandard des Deutschen (persönliches Gespräch vom 20.05.2008). Das bedeutet, wie bereits oben erklärt, dass es sich bei der Ruhrvarietät um eine Sprachform handelt, die als ein untergeordnetes System der Standardsprache einzuordnen ist, und nicht als Dialekt gilt. Andere Sprachwissenschaftler weichen von dieser These ab und teilen das Ruhrdeutsche als Regiolekt ein.

Nun möchte ich mithilfe der diversen Argumentationen der Sprachforscher Stellung dazu nehmen, welcher These die Sprache des Ruhrgebietes am ehesten entspricht.

Heinz H. Menge (1985, S.196) ist wie Dr. Lipowski der Meinung, dass das Ruhrdeutsche kein Dialekt ist. Zum Verhältnis des Ruhrdeutschen und dem Dialekt äußert er sich folgendermaßen:

(...) Da in der deutschen Dialektologie mit Dialekt und dem Synonym Mundart in der Regel die autochthone (im Ruhrgebiet also niederdeutsche) gesprochene Sprache gemeint ist, soll die heute im Ruhrgebiet gesprochene Sprache nicht Dialekt genannt werden (...).

Der Meinung von Menge schließe ich mich an, weil das Ruhrdeutsche eben nur in Auszügen linguistische Gemeinsamkeiten mit dem Niederdeutschen aufweist und daraus eine eigene Varietät entwickelt hat, die aber eben nicht das Niederdeutsche ist. Und nicht Dialekt genannt werden kann. So soll die Sprache der Ruhr auch nicht, wie oftmals gebräuchlich als Ruhrplatt bezeichnet werden, da die Einordnung Platt ausschließlich für die Mundarten des Niederdeutschen gilt (Menge,1985, S.197).

4. a Um welchen Sprachtyp handelt es sich beim Ruhrdeutschen?

Um welchen Sprachtyp handelt es sich nun beim Ruhrdeutschen? Und wie hat sich das Ruhrdeutsche entwickelt?

Wenn man nach den im ersten Kapitel vorgestellten Definitionen geht, so lässt sich doch eindeutig erkennen, dass es sich beim Ruhrdeutschen nicht um die Hoch- und somit Standardsprache des Deutschen handelt, da das Ruhrdeutsche nicht, wie die Definition von Standardsprache bei Bußmann (2002, S. 648) zu finden ist, als eine legitimierte, überregionale, mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittel- bzw. Oberschicht () gilt.

Das Ruhrdeutsche wird nur mündlich gebraucht und verfügt weder über ein normiertes grammatisches System, noch über eine Verschriftlichung.

Dass es sich bei der Sprache an der Ruhr, um einen Regiolekt handelt, wie Henn-Memmesheimer (1986, S.341) in seiner These behauptet, dem kann insofern zugestimmt werden, dass im Gegensatz zum Dialekt beim Regiolekt die meisten Merkmale der systemlinguistischen Bereiche (z. B. Aussprache, Wortschatz) stärker an die Hochsprache angepasst sind. Diese Merkmale treffen auf die Sprache der Ruhr zu, wie ich auch im weiteren Teil der Arbeit an einem literarischen Beispiel verdeutlichen werde.

Als nächstes muss untersucht werden, ob sich das Ruhrdeutsche in die Kategorie Umgangssprache einteilen lässt. Diese hat nach Schmidt (2004, S.163) als regionaltypische Varietät je nach Region ihren Platz in einem spezifischen Bereich des Spektrums zwischen den kleinräumig gegliederten Dialekten und der übergreifenden Standardsprache.

Hierzu möchte ich gerne kurz das diatoptische Modell der Umgangssprachen von Jürgen Eichhoff erläutern:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Abb.: Diatoptisches Modell der Umgangssprachen in Deutschland von Eichhoff, In Ehlich, 1995,S.20)

Nach Eichhoffs Modell gibt es zwischen der Standardsprache, die im gesamten deutschen Sprachraum vertreten ist und den Dialekten, noch einen weiteren Varietätentyp, der von Eichhoff als städtische Umgangssprache bezeichnet wird. Dieser dritte Varietätentyp verteilt sich im Gegensatz zu den Dialekten großräumiger über das Sprachgebiet und lässt sich in einer Abstufungsform finden, welche dadurch gekennzeichnet ist, dass die süddeutschen Umgangssprachen mehr den Dialektformen ähneln und die norddeutschen Sprachformen sich eher an dem Standarddeutschen orientieren. Für das Ruhrdeutsche gilt hier, dass es sich eher im Kontext der Umgangssprachen aus Norddeutschland einordnen lässt, die wiederum im Zusammenhang mit ihren mittel- und süddeutschen Entsprechungen zu verstehen sind. Allerdings gibt Eichhoff zu bedenken, dass die inhaltliche sowie äußerliche Abgrenzung der regionalen Umgangssprache problematisch ist. Die meisten Merkmale, wie Kontraktionen zwischen unterschiedlichen Wortarten, oder der Wegfall des

Schwalautes sind so großräumig verteilt, dass ihre Begrenzungen gerade Areale durchschneiden, die aufgrund anderer Kriterien als zusammengehörig erscheinen (Eichhoff in Ehlich, 1995, S.25).

Schmidt (2004, S.163) beschreibt weiterhin, dass bereits um 1900 diese Varietät der mündlichen Kommunikation (die Umgangssprache) das am häufigsten verwendetete Kommunikationsmittel gewesen sei (...), bedeutet, dass bereits im letzten Jahrhundert die Umgangssprache prominenter war als beispielsweise die Standardsprache oder die Dialekte. Hierzu argumentiert ebenfalls Mattheier (1986, S32), dass sich die Umgangssprachen seit Beginn des 19. Jahrhunderts stärker ausgebreitet haben und vor allem in den Großstädten und industriellen Ballungsgebieten die ursprüngliche Rolle der Dialekte als Primärsprache übernommen haben.

Die Umgangssprache bietet also eine jeweilige regionale Kompromissform zwischen den unterschiedlichen Dialekten, die die Zugewanderten mitgebracht haben und der Standardsprache des Hochdeutschen (Schmidt, 2004 S. 163). Schmidt erklärt weiter, dass Umgangssprachen sich entwickelt haben, vor allem durch die Herausbildung der Standardsprache und diese von Beginn an eine vielfache Schichtung aufgewiesen haben.

Im Unterschied zum heimischen Dialekt (...) entsprach die Umgangssprache den Anforderungen vor allem der unteren sozialen Schichten in der Stadt, denen auch wegen des Bildungsmonopols die Voraussetzungen für das Erlernen der Standardsprache größtenteils fehlten (Schmidt, S.163). Umgangssprachen unterscheiden sich z. T. erheblich voneinander, was dadurch zustande gekommen ist, dass (...) differenzierende Faktoren u. a. die Entstehungsbedingungen der jeweiligen Stadt bzw. des industriellen Zentrums, die Herkunft und soziale Zusammensetzung der Bevölkerung, der Charakter der dominierenden Produktion und nicht zuletzt die Spezifik des Sprachraumes darstellen ( vgl. Schildt 1981,21 ; Stickel 1997 in Schmidt 2004, S.163).

4. b Das Ruhrdeutsche lässt sich als Umgangssprache der Region Ruhr einordnen

So lässt sich das Ruhrdeutsche durchaus als Umgangssprache der Region Ruhr einordnen. Denn es unterscheidet sich von den weiteren mündlichen Kommunikationsformen Deutschlands und bietet einen Kompromiss zwischen der normierten Hochsprache und dem Dialekt. Mit dem Modell von Eichhoff erklärt, lässt sich das Ruhrdeutsche als eine städtische Umgangssprache einordnen. Gebraucht in einem Ballungsgebiet, unterscheidet sich die Varietät dennoch in feinen Unterschieden zwischen den einzelnen Städten (vgl. Untersuchung Steinig, 1976) und ist dennoch im Gegensatz zu Dialekten (vgl. Schwäbisch, Bayrisch) von Sprechern anderer deutscher Varietäten zu verstehen. Die Ruhrsprache ist einerseits der Standardsprache angepasst, andererseits birgt sie aber auch Substrateinflüsse des niederdeutschen Dialektes, was ebenfalls dem Modell von Eichhoff entspricht.

Es ist also unumstritten, dass das Ruhrgebietsdeutsch als Typus einer regional ausgeprägten Umgangssprache zu verstehen ist. Mihm (1985, S.273) schreibt hierzu, dass das Ruhrdeutsche gleich den älteren Dialekten aus anderen Regionen Deutschlands die Funktion einer Komplementärvarietät übernommen hat. Was bedeutet, dass das Ruhrdeutsche zum Mittel der nicht-öffentlichen, informellen Kommunikation wurde, in dem man Vertrautheit, Solidarität und Ungezwungenheit zum Ausdruck bringen konnte (...).

Unter diesen Umständen würde das Ruhrdeutsche die Bedingungen für die Einstufung als regionale Umgangssprache erfüllen. Ferkeley- Lepsey (1983, S.28) äußert sich ähnlich: (...) Umgangssprache als Mittelding zwischen Dialekt und Hochsprache scheint eigentlich genau die passende Bezeichnung für die Ruhrgebietssprache zu sein. (...).

Trotzdem lässt sich über das Verhältnis zu den überregional verbreiteten Formen der Umgangssprachen sagen, dass das Ruhrgebietsdeutsche dennoch nicht bloß als regional begrenzte Umgangssprache einzustufen ist. Im Ruhrdeutschen lassen sich neben den umgangssprachlich bedingten Verschleifungen, Verkürzungen und syntaktischen Besonderheiten weitere Besonderheiten aufzeigen, die der Varietät den Status eines eigenen Subsystems geben. Hierbei handelt es sich um Eigenschaften, die nicht allein durch mündliche oder alltagssprachliche Verwendungsbedingungen zu erklären sind (Volmert, in: Ehlich et al. 1995, S.53).

4.c Das Ruhrdeutsche ist ein Substandard

Als nächstes soll untersucht werden, ob es sich beim Ruhrdeutschen um einen Substandard handelt. Wobei sich der Substand nach Scholten (1988, S.7) von einem lokalen Dialekt in erster Linie durch seine regionale und soziale Verteilung unterscheidet. Während der Dialekt von Ort zu Ort variiert (...), hat der Substandard einen größeren Geltungsbereich und stellt die Hauptvarietät der unteren Mittelklasse, der Kleinhändler und Arbeiter in der Stadt dar. Allerdings gilt nach Bloomfield (1967, S.50) der Substandard als sozial negative Sprachform:

Both groups of speakers, standard and non- standard, agree in calling the standard forms good or correct and non- standard forms bad, incorrect (...).

Ein für die Ruhrgebietssprache angebrachtes Argument vertritt weiterhin Fishman (1975,S.34):

(...) während Interaktionsnetzwerke von Sprechern der Standardvarietäten zweifelsohne existieren (...), ist es sehr wahrscheinlich, dass sie einerseits einen irgendwie spezialisierten Sprachgebrauch entwickeln, aber andererseits auch eine Nicht- Standardvarietät benötigen, wenn sie sich in intimeren und informelleren Arten der Interaktion bewegen wollen.

Meiner Meinung nach ist es wichtig, den Substandard aus dem Blickwinkel des Standards her zu definieren, wie es Bellmann tut, wenn er zu verstehen gibt, dass der Substandard als situativ verteilte Varietät verstanden wird (...) das heißt, der Substandard kennzeichnet eine Sprachlage im mittleren Bereich des Dialekt / Standard Kontinuums. Dabei ist für den Substandard des Ruhrgebietes zu berücksichtigen, dass die dialektalen Merkmale einem Dialekt entstammen, der heute noch in Auszügen im Sprachgebrauch der Ruhrgebietsbewohner zu finden ist (dem Niederdeutschen)(Bellmann 1983, S. 120ff).

Im Hinblick auf die erläuterten Definitionen und Thesen möchte ich mich gerne mit meiner Hypothese anschließen, dass das Ruhrdeutsche niederdeutsches Substrat aufweist und dialektale Merkmale der niederdeutschen Varietät übernommen hat. Auf der anderen Seite weicht die Grammatik aber nicht so stark vom Standarddeutschen ab, dass von einem Dialekt gesprochen werden kann. Daher schließe ich mich der Meinung von Menge, Mihm und Bellmann an, das Ruhrdeutsche als eine Untergliederung der Norm des Standarddeutschen anzusehen und im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten mit dem Niederdeutschen sehe ich die Definition des Substandards als am zutreffendsten an.

Im weiteren Verlauf der Arbeit werde ich noch näher auf die linguistischen Parallelen vom Ruhrdeutschen zum Niederdeutschen eingehen. Und weiterhin im Folgenden die typischen Charakteristika zum besseren Verständnis des Ruhrdeutschen darlegen, damit dem Leser die Charakteristika des Substandards verständlich sind.

5. DIE EINORDNUNG DES RUHRDEUTSCHEN: LINGUISTISCHE CHARAKTERISTIKA

Das Ruhrdeutsch ist seit eh und je eine lebendige und schillernde Sprache, die schneller und offener als Hochdeutsch auf Einflüsse verschiedener Art reagiert.

Damit ist es zugleich ein historischer Spiegel der Region, der hier arbeitenden Menschen und ihrer wechselvollen (Industrie-) Geschichte.

(Kannies, 1985,S.5)

Nun werde ich einige linguistische Besonderheiten des Ruhrgebietes vorstellen und mit Beispielen illustrieren.

Manche sprachwissenschaftlichen Eigenschaften der Ruhrvarietät sind in keiner anderen Region Deutschlands zu finden, wie beispielsweise der Gebrauch der Präposition bei (und Kasuswechsel): Komm ma' bei die Omma. (Komm mal zur Oma.) Andere sind identisch mit anderen Regionen. So zum Beispiel die Übergeneralisierung des Akkusativs, zumeist nach Präpositionen, welche im Ruhrgebietsdeutschen sehr markiert, dennoch aber nicht nur spezifisch für dieses Gebiet ist (...) (Mihm, 1985). Wie zum Beispiel: Mitte Kinder, anstatt Mit den Kindern. Steinig hierzu: Die Dativ-Akkusativ-Ersetzung (Akkudativ) wird man kaum als spezifisches Merkmal der Ruhrgebietssprache ansprechen. Dieser “Fehler“ taucht in vielen Großstadt- Soziolekten auf, beispielsweise im Berliner Jargon (Steinig in:Becker, 2003).

5. a Die Studie von Arend Mihm: Merkmale der Ruhrsprache, die auch in anderen Regionen Deutschlands auftauchen, sowie ruhrgebietsspezifische Merkmale

Arend Mihm hat sich intensiv mit der Sprache an der Ruhr beschäftigt, hier werde ich kurz seinen Essay und seine Erkenntnisse erläutern. Mihm beschreibt in seinem Essay Die Realität des Ruhrdeutschen, dass der Gebrauch von dat, wat, und et durchgehend auch in den Dialekten von Trier bis Greifswald vorkommt, bedeutet, eben nicht ruhrgebietstypisch ist.

Im gesamten norddeutschen Substandardgebiet gilt außerdem die Auslautverhärtung von [g] wie bei Frühling, was als [k] [fry:lIgk] ausgesprochen wird, als phonologisches Merkmal der Grundausstattung. Sowie auch die rheinische Verlaufsform mit am (am kochen sein) nicht nur im Ruhrgebiet vorzufinden ist, sondern sich sogar über das gesamtdeutsche Sprachgebiet verteilt.

Mihm erläutert weiterhin eine Studie von Hans Georg Weigt, der in drei verschieden geographischen Standorten im Ruhrgebiet eine Stichprobe entnommen hat, um herauszufinden, inwiefern sich sprachliche Merkmale in einzelnen Ortsteilen unterscheiden oder ähneln. Weigt's Stichprobe umfasst die Stadtteile Duisburg- Marborn, Duisburg-Homberg und weiterhin eine Stichprobe aus der Stadt Dortmund. Ziel war es sprachliche Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede der verschiedenen Ortspunkte näher zu bestimmen. Zu berücksichtigen war, dass es keinen typischen Dortmunder oder Duisburger Durchschnittssprecher gibt, sondern in beiden Städten je nach Schulbildung, Sprechsituation, Beruf und Alter unterschiedliche Sprachlagen verwendet werden. Soziale Parameter wurden dadurch konstant gehalten, dass von Weigt nur die Sprache der Bergleute untersucht wurde, die über 70 Jahre alt waren und auch noch zum Zeitpunkt der Untersuchung in der Zechensiedlung wohnten, in der sie aufgewachsen waren. Situative Einflüsse versuchte Weigt konstant zu halten, indem er sich während der Feldforschung selbst in den Siedlungen aufhielt und intensive persönliche Beziehungen zu den Versuchspersonen aufbaute. Weigt's Aufzeichnungen sind von Gesprächen entnommen, in denen sich Bergleute in informeller Umgebung miteinander unterhielten.

Beim Vergleich der Proben hat sich gezeigt, dass das Ruhrdeutsche keineswegs eine regional homogene Varietät darstellt und weiterhin, dass es durchaus Unterschiede zwischen dem Ruhrdeutschen des westlichen und des östlichen Ruhrgebietes gibt.

Weigt's Forschung hat ergeben, dass die Realisierung des Artikels das im Ruhrgebietsdeutschen als dat, in Duisburg- Homberg zu 98% realisiert wurde, während es in Duisburg Hamborn etwa zu 80% und in Dortmund nur zu 40% realisiert wurde.

Bei der Artikulation des auslautenden /g/, wie z.B. bei dem Substantiv Ding wurde herausgefunden, dass die Auslautverhärtung des /g/ in Homberg am wenigsten dem Standard entspricht, das Substantiv wird zu Dink.

Bei der Realisierung des /ch/ nach /r/ als ach- Laut wie bei durch erkennt man ebenfalls Differenzen zwischen den einzelnen Standpunkten. Während in Dortmund /ch/ nach /r/ fast zu 100% als ach- Laut realisiert wird, wird es in Duisburg- Homberg so nur ungefähr zu 5% realisiert und in Duisburg- Hamborn hingegen nur zu 1 % realisiert.

Trotz der Unterschiede ist Weigt der Meinung, dass das Ruhrdeutsche nicht als ein Refugium mehrerer Stadtsprachen zu verstehen ist, sondern als ein abgestuftes Kontinuum. Weigt argumentiert hier, dass die oben geschilderten Merkmale trotz der Unterschiede in Häufigkeit jedoch in allen untersuchten Ortspunkten zu finden sind (vgl. Abb.: Weigt, 1989, S.78-82).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Hinblick auf Weigt's Forschung möchte ich mich mit meiner These der Argumentation anschließen, dass das Ruhrdeutsche, wie schon erwähnt, insgesamt als Substandard zu verstehen ist, jedoch im Hinblick auf den breiten geographischen Raum, in dem es gebraucht wird, durchaus regionale Unterschiede in der Realisation des Substandards auftauchen können.

5. b Kurzbeschreibunq auf allen relevanten svstemlinquistischen Ebenen:

Merkmale in den Bereichen Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexik
verdeutlicht anhand des literarischen Beispiels „Kumpel Anton- Heisstatt
nu Immatsch, Immätsch oder Immitsch?“

Im Folgenden möchte ich die Sprache der Ruhr, das Ruhrdeutsche, oder das Ruhrgebietsdeutsch (die Bezeichnungen werden gleichgesetzt) und dessen linguistische Merkmale an einem literarischen Beispiel verdeutlichen. Ich habe hier ein Beispiel aus der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, aus den 50er Jahren des Autoren Wilhelm Herbert Koch gewählt. In den Werken von Koch geht es um Kumpel Anton und seinen Freund Cervinski. Die beiden

Bergbauarbeiter sind unter Tage beschäftigt und schildern sich gegenseitig ihre Alltagserlebnisse. Stets mit starken Einflüssen aus der Bergmannssprache.

Der Autor Wilhelm Herbert Koch kann als Gründer oder Entdecker des linguistischen Humors im Ruhrgebiet angesehen werden. Im Jahre 1954 wird in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung das erste Erlebnis von Kumpel Anton veröffentlicht und daraufhin folgten 1500 weitere Artikel über den Bergbauarbeiter. Da genau der Bergbau typisch ist für diesen Ballungsraum, halte ich es für sinnvoll, die linguistischen Auffälligkeiten auch an diesem Beispiel zu verdeutlichen. Kumpel Anton ist ein fiktiver Bewohner des Ruhrgebietes, allerdings weiß der Leser nicht, in welcher Stadt jener Kumpel Anton lebt.

In dem Artikel geht es mir dabei nicht um den Inhalt des literarischen Werkes, sondern um die Sprache, die verwendet wird.

Heisstatt nu Immatsch, Immätsch oder Immitsch ? „ Anton“, sachtä Cervinski für mich,

„Heisstatt nu Immatsch,Immätsch oder Immitsch?“

„Watt“ sarich, “watt soll watt heissen?

Bei dich fängt wohl der Frühling am brausen?“

„Nix Frühlink, Anton“, sachtä Cervinski,

„Aber wenn son Treudeutschen

Wie den bayrischen Minister Huber, Anton,

Wenn dä schon im Fernsehn so spricht, dann mussta ja woll watt dransein.

Anton und ich happ den Backhaus sein Bruder gefraacht,

Den mitti Roprodukten und datt Heizöl,

Wattat is, Immatsch, Immätsch oder Immitsch.

„Tja, Ämmil“, sachter für mich,

„Wennze datt genau übersezzen tuus, dann heisstatt aimfach sofiel

Wie eem datteiner ausse Wäsche kuckt.

Aber, Ämmil, wir fonne Hai Ssossaiti,

Wir müssen datt anders sehn, Ämmil.

Kumma, ich interessier mich den Deubel für Fussball,

Aber ich muss dahin, wegen die Pause.

Inne Pause fängta Lautsprecher am kwatschen,

Den Ball stifftete die Heizölfirma Backhaus,

Sie wissen, mit Backhaus friert man nich,

Ämmil, dann kuckense mich alle an,

Ämmil, un denn datt richtige Immitsch!

Nich dattich datt wegen die Reklame tu, sondern nur wegen mein grosses Herz für den Sport.

Oder wennich hier mit euch Skat spieln tu,

Ämmil, un falier n pa Runden,

Dann kommtet widder auf datt Immitsch an,

Wazzolen die Leute denken?

Na, beim Skat lässter sich nich lumpen,

Tunwer auch datt Taumfutter bei ihm kaufen.

Kannze sehn, Ämmil, wennze aima Bei die Prommenenz gehörss,

Oppte Immatsch, Immätsch, oder Immitsch sachs,

Bloss ohne datt aukomm tuuse nich mehr!“

(Wilhelm Herbert Koch,1989: S.78.f)

5.b.1 Besondere Merkmale in der Lexik

Der Wortschatz des Ruhrgebietes ist sehr umfangreich, in den verschiedenen Städten gibt es diverse Unterschiede im Wortgebrauch.

Es treten einige Termini auf, die spezifisch für diese Region sind, und die aus dem Niederdeutschen herzuleiten sind:

Das Verb babbeln, von dem es unterschiedliche Varianten gibt, wie brabbeln, sabbeln, sabbern, kommt ursprünglich aus dem Lateinischen (babelare) was schließlich als die niederdeutsche Variante von reden, sich unterhalten übernommen wurde. Dementsprechend wird der Mund im Ruhrdeutschen als Babbel oder Sabbel bezeichnet (Paulun, 1974,S.10).

Das Kind wird im Niederdeutschen mit Balch beschrieben, der Ausdruck ist ebenfalls oftmals im Ruhrdeutschen zu finden (Paulun, 1974, S.16).

Die Flasche, lat. Buticula, hat ihre Entsprechung im Platt als auch im Ruhrdeutschen als Buddel gefunden. Auch gibt es sowohl auf Niederdeutsch als auf Ruhrdeutsch das gleichbedeutende Substantiv Pulle (Paulun, 1974,S.20).

Mit dem Adverb dösig (nd.) wird jemand im Ruhrgebiet beschrieben, der etwas dümmlich ist, das Verb dösen hingegen entspricht dem hochdeutschen Verb einschlafen (Paulun, 1974,S.18).

Auch dem Niederdeutschen entnommen ist das Substantiv Gedöns, was dem hochdeutschen Geschrei entspricht (Paulun, 1974,S.30).

Das Verb kiecken (kiecken, keek, gekeekt) entspricht der hochdeutschen Form von gucken, guckt, geguckt und ist ebenfalls aus dem Niederdeutschen entlehnt (Paulun, 1974, S.40).

Weiterhin bezeichnet der ruhrdeutsche Sprecher ein Gespräch als Klöntje und das dazugehörige Verb heißt klönen (Paulun, 1974,S.40).

Ein weiterer Terminus, der aus niederdeutschem Substrat stammt, ist Pantinen, was auf Niederdeutsch auch Trendschohn und auf Hochdeutsch Pantoffeln bedeutet (Paulun,1974,S. 56).

Ebenfalls aus dem Niederdeutschen entnommen ist das Substantiv, Plörren, auch Plürr, Plirr, Ples, oder Plör, was auf Hochdeutsch Sachen oder Dinge heißt (Paulun, 1974,S.59).

Dies sind einige Beispiele aus der Lexik des Ruhrdeutschen, die aus dem Niederdeutschen abzuleiten sind. Natürlich ließe sich diese Liste noch weiterführen, aber um einen kurzen Einblick zu erhalten, soll das vorgestellte Vokabular genügen.

5.b.2 Besondere Merkmale in der Morphologie

An dieser Stelle möchte ich gerne genauer differenzieren, inwieweit sich linguistische Merkmale des Ruhrdeutschen im Bereich der Morphologie erkennen lassen.

1. Der Sprecher im Ruhrgebiet fügt bei der Pluralbildung des Substantivs beispielsweise ein /s/ hinzu, wo aber der Pluralmarkierer /-er/ oder /-en/ ausreichend wären, beziehungsweise der Plural dem Singular entsprechendest. So beispielsweise bei:

- Häusers
- Gärtens
- Kinders
- Fensters

2. Desweiteren taucht bei der Pluralbildung auf /-e/ wie bei Stöcke, der Plural auf /- er/ auf wie bei:

- Stöcker

3. Eine weitere Auffälligkeit, die ich auch bei mir persönlich beobachtet habe, ist die Bildung der 1. Person Singular Präsens Aktiv (paradigmatischer Ausgleich). Aus Ich gebe dir das Handtuch, wird:

- Ich gib dir das Handtuch. anstatt (vgl. gebe)
- Ich nimm das schon! anstatt (vgl. nehme)

Hier kommt es zu einem paradigmatischen Ausgleich, bedeutet, dass innerhalb des Verb-Paradigmas ein Stammwechsel auftaucht. Die Präsens Formen von nehmen und geben wären:

- ich nehme / gebe
- du nimmst / gibst →
- er/sie/es nimmt / gibt
- wir nehmen / geben
- ihr nehmt / gebt
- sie nehmen / geben

Hier hat der Stammwechsel zugunsten des Vokals in der 2. oder 3. Person Singular stattgefunden und wird somit zu ich nimm bzw. ich gib. Also wird die Endung der normalen Verbflexion in der zweiten Person Singular (-st) einfach weggelassen.

4. Weiterhin kommt es im Ruhrdeutschen oftmals zur Elision von Vokalen. Zu einem starken Schwund neigt das wortfinale /e/. So entstehen in der ersten Person Singular unter anderem folgende Formen:

- ich kenn', ich glaub', ich hab'.

Sowohl im Präsens als auch im Präteritum tritt der Schwund des schwachtonigen /e/ vor enklitischen und nach proklitischen Pronomen auf (Scholten, 1988, S.93). Es handelt sich um einen Schwadrop wie bei:

- Diktate schreib ich auch gerne.
- Mußt ich zweihundert Maak dafür bezahlen.
- Ich wollt da nich son Streit.
- Ich überleech mir dat noch.

Im Präteritum ist die Elision von /e/ bei proklitischer Pronomenstellung zwar bei Hilfsverben besonders auffällig, trotzdem sind auch substandardliche Aussprachen in Verbindung mit einem Vollverb möglich, wie bei:

- Ich wusst nicht, was ich machen sollte.

Und ebenso :

- Er wusst nicht, was er machen sollte.

Der Ausfall des /e/ ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass Vollverben in der gesprochenen Sprache eher im Perfekt als im Präteritum benutzt werden. Es ist wahrscheinlicher, dass ein Sprecher Ich hab mich hingesetzt, als Ich setzte mich hin, sagt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 146 Seiten

Details

Titel
Sprachvarietäten in Mitteldeutschland
Hochschule
Universität Konstanz  (Linguistik)
Note
2,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
146
Katalognummer
V149107
ISBN (eBook)
9783640600625
ISBN (Buch)
9783640600823
Dateigröße
8103 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ruhrdeutsch, Ruhrpott, Ruhrgebiet, Ruhrgebietsdeutsch
Arbeit zitieren
Katja Reinhardt (Autor:in), 2010, Sprachvarietäten in Mitteldeutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149107

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