Raum schaffend (zusammen)

Idiorhythmische Heterotopien des realen Raumes als Ausdruck von Leben wollen (zusammen) in Laurent Chétouanes Tanzstück #4


Seminararbeit, 2010

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. „Raum schaffend (zusammen)“
2.1. Eine Vermutung über die Intention des Tanzstück #4
2.2. Roland Barthes' Phantasma des idiorhythmischen Lebens
2.3. Das sichtbare und das unsichtbare: imaginierte Raumöffnungen im Tanzstück #4
2.4. Raum schaffend (zusammen): Heterotoper Raum von zusammen leben wollen, als Produkt idiomer Raumvorstellungen

3. Zusammenfassung

Quellverzeichnis

„Tanzstück #4: leben wollen (zusammen)“ ist eine Produktion von Laurent Chetouane unter Zusammenarbeit mit Maison de la Culture d'Amiens, Tanzquartier Wien,

PACT Zollverein Essen und den Sophiensaelen Berlin. Die Inszenierung hatte am 13. November 2009 in den Sophiensaelen seine Uraufführung.

1. Einleitung

Leben wollen (zusammen): Die Frage nach der eigenen Gegenwärtigkeit und Zugehörigkeit in eine Gemeinschaft, in einer Zeit, in der Individualität ein unantastbares Gut für Jeden geworden ist, scheint aktueller denn je. Der französische Choreograph Laurent Chetouane widmet sich dieser Frage in seiner Produktion „Tanzstück #4: leben wollen (zusammen)“[1]. Der Schwerpunkt dieser Aufführungsanalyse ist, festzustellen, wie sich der Aufführungsraum des Tanzstück #4 gestalten kann, indem verschiedene Individuen aufeinander treffen: Wie wirken sie mit ihren Aktionen auf seine Gestaltung ein und inwieweit ist dies wiederum Ausdruck von Gemeinschaft.

Die Arbeit wendet sich dazu einführend der vom Autor vertretenen, dem Tanzstück #4 zu Grunde liegenden, Intention zu, wie sie empfunden wird und versucht damit, Chetouanes Bezug auf die Vorlesung von Roland Barthes, „Wie zusammen leben“[2], zu verdeutlichen. Insbesondere wird auf Barthes' Phantasma des idiorhythmischen Lebens verwiesen, aus dem ein eigenes Begriffsvokabular entwickelt wird, dass hilft, ein Verständnis für Individuum innerhalb einer Gemeinschaft zu erhalten. Folgen wird eine exemplarische Beschreibung der wahrgenommenen Darstellung von Idiorhythmie im Tanzstück #4.

Die Betrachtung konzentriert sich in der vorliegenden Arbeit auf die Gestaltung und Wahrnehmung von Raumöffnungen innerhalb eines realen Raumes. So versucht die Analyse schließlich die Frage zu beantworten, inwieweit diese individuell produzierten Öffnungen des realen Raumes, Ausdruck eines heterotop gestalteten Raum sein können, Raum von zusammen leben (wollen). Hierzu werden die verwendeten Termini jeweils erläutert.

Grundlage der Aufführungsanalyse bilden die Aufführungen des Tanzstückes #4 vom 13. und 14. November 2009 in den Sophiensaelen, Berlin.

2. „Raum schaffend (zusammen)“

2.1. Eine Vermutung über die Intention des Tanzstück #4

„Das Objekt in sich finden, die Instruktion, sie hören, ihr folgen, sie transformieren,
Subjekt sein, eine Instruktion, Objekt wieder werden “[3]

Laurent Chetouane verfolgt seit einigen Jahren die Entwicklung einer eigenen Form­sprache der Bewegung. Seine Suche ist dabei geprägt von dem Versuch des Ausdruckes einer leiblichen Präsenz, die sich selbst ständig reflektiert und ihrer Verkörperung bewusst wird. Gemeinsam mit fünf Tänzern arbeitete der Choreograph am Tanzstück #4. In einer Gruppe wie dieser, wird die Suche nach diesem Ausdruck zu einer Herausforderung, da mehrere, sich selber immer ihrer eigenen Präsenz in Zeit und Raum versichernden Individuen, eine gemeinschaftliche Form derer versuchen müssen, zu gestalten.

In einem Gespräch mit Studenten der Theaterwissenschaft beschrieb Chetouane den Probenprozess zu Tanzstück #4 als chaotisch, schmerzhaft und krisenhaft, als sei das eigenreflexive Dasein eines Jeden, innerhalb einer Gruppe utopisch[4]. In dem Zu­sammenhang stellt sich die Frage, wie Gemeinschaft an sich funktionieren kann. Im selben Gespräch machte er im Übrigen deutlich, dass der Subtitel des Stückes, „leben wollen (zusammen)“, erst im Probenverlauf entstanden ist[5]. In diesem Titel ist bereits ein Widerspruch versteckt: Das leben wollen ist ein ureigenes Bedürfnis eines jeden Individuums. Leben wollen heißt, sich in Freiheit und Individualität zu entfalten. Zusammen steht dazu in Widerspruch, sagt doch ein altes Sprichwort, dass die eigene Freiheit da aufhört, wo die des anderen beginnt. Dieser Widerspruch wird im weiteren Verlauf der Arbeit wieder aufgenommen und ausgeführt werden.

Chetouane hat bereits in vielen seiner Produktionen Bezüge zu literarischen und philosophischen Schriften gezogen. So bezieht er sich in Tanzstück #4 auf eine Vorlesung von Roland Barthes aus dem Jahre 1976 mit dem Titel „Comment vivre ensemble“ (auf deutsch: Wie zusammen leben)[6]. Barthes bietet in dieser ein eigenes Konzept des Miteinander mehrerer Individuen, das idiorhythmische Leben, jenes für den Choreographen schließlich Grundlage für die Suche nach einer solchen Gemeinschaft in Tanzstück #4 geworden ist.

Nachdem Barthes' Theorie kurz erläutert und folgend daraus ein Vokabular gebildet werden soll, konzentriert sich die Betrachtung mit Hilfe dessen zunehmend auf die Gestaltung von Raum in der Aufführung, um daran exemplarisch festzustellen, dass dies ein Ausdruck von idiorhythmischer Gemeinschaft ist im Sinne Chetouanes ist.

2.2. Roland Barthes' Phantasma des idiorhythmischen Lebens

“Phantasma der idiorhythmischen Gruppe:
nimmt die Idee des Zusammenlebens als Homöostase auf, als beständige Erhaltung der
puren Lust an der Geselligkeit.”[7]

Roland Barthes Vorlesung „Comment vivre ensemble“ behandelte die Suche nach einer Gesellschafts- oder Gemeinschaftsform, in der ein Zusammenleben verschiedener Individuen ohne Verlust individueller Freiheiten möglich sei. In dem Zusammenhang beschrieb er sein Phantasma von einer idiorhythmischen Gruppe. Idiorhythmik setzt sich aus den griechischen Wörtern idioma (Eigenart)und rhythmos (Regelmaß) zu­sammen und macht somit den widersprüchlichen Zusammenhang von Individuum im Sinne von Eigenart(-ig) und Gemeinschaft als Produkt des Rhythmus von mehreren Individuen deutlich. Laurent Chetouane beschrieb den Zusammenhang bildlich, indem er den Tänzer an sich mit Sternen am Himmel verglich: So könne jeder Stern indi­viduell betrachtet, gleichsam aber in unterschiedlichen Figuration wie Sternbilder ge­sehen werden. Der einzelne Stern sei dabei nur innerhalb einer Konstellation int­o eressant[8].

Es wird für diese Analyse das Idiom als Gestalt individuellem Eigenseins definiert, idiom als Eigen, im Sinne von seiner Eigen, und der Idiorhythmus als Regelmaß des Aufeinandertreffens mehrerer Idiome.

Eine vom Autor erinnerte Szene in Tanzstück #4 hilft, die Idiorhythmie an sich exemplarisch zu verdeutlichen: Eine Tänzerin und ein Tänzer beginnen in einen körperlichen Dialog zu treten, der ergänzt wird durch einen verbalen. Die Tänzerin vergewissert sich scheinbar durch Fragen und Gestiken, ob ihr der Tänzer zugeneigt ist und sie sich ihrer Zugehörigkeit zu ihm sicher sein kann: „do you still like me being with you?.., you still think my body is beautiful?“ u.a.. In den Bewegungen der beiden Tänzer bleibt ihr individueller Ausdruck immer präsent, während gleichzeitig das Gefühl einer Gemeinschaft aufkommt, die sich innerhalb ihrer Idee verändert.[9] So konfrontieren sie den Betrachter mit der Idee eines Paares, in der gleichzeitig individuelle Vorstellungen und Wünsche, wie dieses Paar sein sich gestalten soll, deutlich werden durch den Konflikt, der verbal und gestikulierend beschrieben wird. Folglich gibt es also einen gemeinsamen Moment, der übergeordnete Idiorhythmus des Paarseins, bestimmt durch zwei individuelle Idiome, die jeweils essentieller Teil dieses Paarseins sind, wenn sie auch unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie dieses Paarsein tatsächlich konstituiert ist.

Die Arbeit widmet sich nun der Frage, wie idiome Vorstellungen bzw. Einbildungen von Raum einen tatsächlichen Raum verändern und inwieweit dies Ausdruck von Gemeinschaft ist. Das Tanzstück #4 weist eine Vielahl von Momenten auf, in denen der reale Raum durch divers erfahrbare Imaginationen eröffnet wird. Der Betrachter wird dabei in Imaginationsprozesse einbezogen und formt diese selbst mit. Der Prozess, der entsteht, wenn ein Idiom durch seine individuelle Imagination dem Raum eine ebenso individuelle Form gibt, immer bezogen auf die Gestalt des tatsächlichen Raumes, und wie dieser Raum dann für das Idiom selbst und ihn umgebende Idiome begreifbar wird, soll nun der nächste Schwerpunkt dieser Aufführungsanalyse werden.

Um beispielhaft bestimmte Szenen und Elemente analysieren zu können, werden vorab noch die Begrffe der Raumöffnung und Imagination für den Rahmen dieser Arbeit definiert.

[...]


[1] Im weiteren Verlauf als Tanzstück #4 bezeichnet.

[2] Vgl. Barthes, Roland 2002; Vorlesung gehalten am College de France, Paris, 1976-1977.

[3] Chetouane 2008, hier S. 2-3, Z. 11-12.

[4] Vgl. Enders, Philipp 2010, hier Teil 1 27:42-28:46 min..

[5] Vgl. ebd., hier Teil 1 29:19-29:45 min..

[6] Vgl. Barthes, Roland 2002

[7] ebd., S. 99.

[8] Vgl. Enders, Philipp 2010, hier Teil II 29:06-31:10 min..

[9] Vgl. Schaupp, Thomas 2009, S. 1f.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Raum schaffend (zusammen)
Untertitel
Idiorhythmische Heterotopien des realen Raumes als Ausdruck von Leben wollen (zusammen) in Laurent Chétouanes Tanzstück #4
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Theaterwissenschaft)
Veranstaltung
Einführung in die Aufführungsanalyse
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
15
Katalognummer
V149088
ISBN (eBook)
9783640595631
ISBN (Buch)
9783640595365
Dateigröße
425 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Raum, Idiorhythmische, Heterotopien, Raumes, Ausdruck, Leben, Laurent, Chétouanes, Tanzstück
Arbeit zitieren
Thomas Schaupp (Autor:in), 2010, Raum schaffend (zusammen), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149088

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