Kulturelle Werte im Wandel

Ambivalente Betrachtungen der Moderne bei Anthony Giddens und Richard Sennett


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Anthony Giddens
1.1 Reflexive Moderne
1.2 Globalisierung

2 Richard Sennett
2.1 Flexibler Kapitalismus
2.2 Charakter

3 Vergleichende Analyse
3.1 Gemeinsamkeiten
3.2 Unterschiede

4 Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

Einleitung

Wenn die Soziologie sich mit dem inhaltlichen Begriff der Moderne, ihren Ursachen und Konsequenzen beschäftigt, müssen mehrere Fragen gestellt werden, die der Komplexität gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen Rechnung tragen. Bedeutsamer Weise nimmt der Kapitalismus dabei als führende Marktform einen besonderen Platz ein, wenn es darum geht, eine Antwort auf die Lebensführung moderner Gesellschaftlichen zu finden. Es muss gefragt werden, inwiefern kulturelle Lebensgrundlagen zur Etablierung kapitalistischer Grundzüge beigetragen haben und ihre Entstehung bedingten.

In rekursivem Zusammenhang damit scheint aber noch viel interessanter zu sein, welche Einflüsse die kapitalistische Wirtschaftsweise auf die gegenwärtigen Lebensformen hat. In welcher Relation prägen die Grundzüge eines weitgreifenden Kapitalismus die kulturellen Elemente einer sich darin bewegenden Gesellschaft? Welche Grade an zwangsläufiger Prägung gegenüber der Kultur muss der kapitalistischen Wirtschaftsweise zugestanden werden? Und an welchen Stellen kann von einer sich unabhängig ereignenden kulturellen Lebensgestaltung gesprochen werden?

Verschiedene Soziologen der Gegenwart haben aus speziellen Positionen heraus sich diesem Fragenkomplex genähert und dabei breit gefächerte Sichtweisen auf die Risiken und Chancen der Moderne geliefert. Ziel der vorliegenden Hausarbeit wird deshalb sein Anthony Giddens und Richard Sennett in ihren Hauptthesen zur Moderne zu beleuchten. In Bezug auf ein Thema des Seminars, inwiefern der Kapitalismus die Kultur unserer heutigen Gesellschaft vorgibt und vereinnahmt, sollen dann ihre Aussagen unter interessierenden Gesichtspunkten vergleichend erörtert werden.

Den Hauptteil bilden die Vorstellung der einzelnen Theorien, ihre Bewertungen der Eingangsfrage und ihre Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede. In der Schlussbetrachtung werden würdigende Kritikpunkte zusammengefasst und dabei auf mögliche Schwachstellen in der Argumentationsstruktur der Theorien angedeutet.

1 Anthony Giddens

Anthony Giddens als Vertreter der modernen britischen Soziologie gehört zu den wenigen, international anerkannten Theoretikern, die sich in vielschichtiger Weise mit der Bedeutung der Modernisierung und Globalisierung auseinander gesetzt haben[1]. Da für ihn der Beginn der Moderne oft mit dem der Globalisierung einhergeht und beide Prozesse einen bedeutungsvollen Einfluss auf die Identität der Individuen ausüben, sollen sie in diesem Kapitel als Haupttheoreme Giddens' Theorie behandelt werden. Um die gesamtgesellschaftliche Entwicklungstendenz in den letzten Jahrzehnten nachzuvollziehen, wird es zunächst erforderlich sein sich Giddens Begriff der Reflexiven Moderne vor Augen zu führen[2].

1.1 Reflexive Moderne

Die Reflexive Moderne – auch unter Post-, Spät- oder Hochmoderne bekannt – ist als verschärfte Gesellschaftsentwicklung der Moderne zu verstehen. Hervorgerufen durch eine Radikalisierung der Potentiale der ersten Moderne[3] ist sie durch drei wesentliche Merkmale gekennzeichnet. Die raum-zeitliche Verschiebung, die Entbettung sozialer Systeme sowie Tätigkeiten und die reflexive Beschäftigung des Verhaltens sind jene Elemente, die die überkommenen Verhältnisse auflösen und neu verketten[4].

Die unter makrosoziologischem Gesichtspunkt zu betrachtende Trennung von Raum und Zeit bezeichnet Giddens als „time-space-distantiation“. Sie beinhaltet die im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung wachsende Entfernung sozialer Praktiken von lokalen und temporalen Fixpunkten. Diese Praktiken werden inzwischen über immense Distanzen hinweg reproduziert und bewirken eine unabsehbare Kette von unintendierten Handlungsfolgen[5]. So erweisen sich die hochentwickelten Kommunikationstechnologien, angefangen bei der Ablösung der Sonnenuhr durch die mechanische Uhr, sowie erweiterte Interaktionsmöglichkeiten als Katalysatoren. Mithilfe dieser werden nun mehr die „leeren“, standardisierten Orte und Plätze trotz unerkennbarer Bedingungen durch entfernt existierende Einflüsse geprägt und mitgestaltet. Nicht weniger wichtig als die weitverbreitete Zeitstrukturierung sind ebenso die entstehenden „symbolische Systeme“ und „Expertensysteme“ als Bedingung für den Prozess der Entbettung sozialer Systeme[6]. Das Herausheben sozialer Beziehungen und die Neustrukturierung über raum-zeitliche Entfernungen hinweg wird durch jene „abstrakten Systeme“ in einer Art begünstigt, die ein tiefgreifendes Vertrauen voraussetzt. Dieses bezieht sich, wenn gleich vom Einzelnen nur partiell abverlangt, vor allem auf technische Grundlegungen der Moderne, die von einer Mehrzahl genutzt werden.

Gegensätzlich dazu aber stellen die permanente Reflexion und Beobachtung die Sicherheit bringenden Wissensbereiche in Frage[7]. Die reflexive Aneignung von Wissen verschiebt damit den Stellenwert des praktischen Bewusstseins im Verhältnis zum diskursiven Bewusstsein. Denn ausgehend von der mikrosoziologischen Perspektive wird die Struktur des Akteurs und des Selbst durch sein Streben nach ontologischer Sicherheit beeinflusst. Jedoch durch eine Enttraditionalisierung oder Posttraditionalität, wie Giddens sie beschreibt, entleeren sich Sinnelemente von ihren vorhergehenden Grundlagen[8]. Diese stehen im Zeichen einer „hergestellten“ Unsicherheit. Der Status von Traditionen hat sich auf tiefgreifende Weise gewandelt, ohne dem Traditionenbezug einer Gesellschaft von Grund auf abträglich zu sein. Neue Stellungen in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern, innerhalb einer Familie oder in der örtlichen Gemeinschaft stehen geradezu für ein sogenanntes reembedding sozialer Beziehungen.[9] Diese werden um so nötiger, je mehr sich die heutige Gesellschaft dem Begriff des Risikos bewusst wird. Denn durch die Herausbildung der modernen Industrialisierung ist der Begriff unweigerlich zum Schlagwort von zukunftsorientierten Handeln avanciert. Mit Blick auf die Zukunft und deren Möglichkeiten, begreift sich die moderne Gesellschaft zu Recht als Risikogesellschaft[10], in der Kalkulation, logisches Denken, rationales Handeln und abgewägte Entscheidungen als strukturelle Elemente der Selbstbestimmung vorherrschen. Giddens unterscheidet den modernen von dem vormodernen Kapitalismus insofern, als dass erst in der Moderne die Form und der Inhalt eines „hergestellten“ Risikos - in Gegensatz zu einem äußeren Risiko - aufkamen.[11]

Was allgemein unter dem Prozess der Moderne verstanden werden kann, wird durch die führenden Merkmale – Kapitalismus, Industrialismus, militärisch stabilisierter Nationalstaat und interne Überwachungskapazitäten – angedeutet. Radikalisiert jedoch kommen diese Ausdrucksformen in der reflexiven Modernisierung zum Ausdruck[12]. Weil der Kapitalismus das dynamischste Moment ist, wird deutlich, in welchem Maße die kapitalistische Mobilisierung der kulturellen Lebensform stattfindet. Sowohl im sozialen Bereich, wenn es um die Gestaltung jeglicher Beziehungen geht, als auch in der kulturellen Dimension (Strukturierung der Freizeit) vollziehen sich die Veränderungen, die anfangs vielleicht nur mit Absichten in Bezug auf die Arbeitswelt und wirtschaftliche Produktionsweisen gedacht wurden. Letztendlich bestätigt Giddens das Bild eines erodierenden Ichs in der Gesamtsituation von Selbstreflexion und Selbstfindung. Der Fakt, dass jeder Einzelne dabei Verantwortung für individuell gewählte Entscheidungen treffen muss, wirkt dabei verstärkend und wurde durch den Risikobegriff bereits angeschnitten[13].

Die Moderne stellt sich dar als „[...] society – more technically, a complex of institutions – which unlike any preceding culture lives in the future rather than in the past[14]. Auf „technischer“ Ebene seien demnach auf die vier institutionellen Dimensionen der Moderne verwiesen, die die Diskontinuität moderner Gesellschaften begründen. Als weitere Dimension tritt an dieser Stelle die Globalisierung hinzu, die allen Momenten eine weltweite Verbreitung gibt[15].

1.2 Globalisierung

Der umfassenden Bedeutung des Begriffes nähert sich Giddens über die Betrachtung von entgegengesetzten Ansätzen. Unter den sich spaltenden Meinungen von Skeptikern und Radikalen, gelangt er zur der Auffassung, dass Globalisierung längst kein ökonomisches Phänomen mehr ist. Denn sogar auch auf politische, technologische, kulturelle und soziale und nicht zuletzt ökonomische Inhalte der Gesellschaft übt sie einen entscheidenden Einfluss aus[16]. Er beschreibt sie als „eine wahrhaft globale Veränderung des Alltags, deren Folgen überall auf der Welt auf allen Gebieten, vom [intimen Interaktionsgeflecht und] Arbeitsleben bis zur Politik, spürbar werden.“[17]

Als nicht nur ein Prozess sondern eine komplexe Reihe von Prozessen entgrenzt sie die Raum-Zeit-Verhältnisse noch radikaler und verstärkt somit unintendierte Effekte[18]. Plan- und Ordnungsfähigkeit werden von Unkalkulierbarkeit und entbetteten sozialen Praktiken weitestgehend ersetzt, so dass im Gegensatz zur klassischen Moderne durchaus von einem Bruch gesprochen werden kann. Das Selbst ebenso wie Institutionen müssen sich der Kultur des Risikos vertraut machen, wobei das Vertrauen ebenso permanent neu erarbeitet werden muss[19]. Durch die grenzüberschreitenden Finanzströme – angeleitet durch den Zweck des Kapitalismus, der Expansion – konnte die Globalisierung als strukturelles Moment, das in alle Lebensbereiche dringt, nur zwangsläufig folgen. Auf de-zentrierter Ebene nun vollzieht sich der Wandel der Expansion, wobei die wenig erkennbaren Handelsbeziehungen, wie Dienstleistungen und Finanztransaktionen, die am meisten vom Wachstum betroffenen sind[20]. Die Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen als etwa positivierendes Beispiel ist dabei nur eine Seite der Globalisierungsmünze. Denn gegensätzlich dazu verlaufen nun andere, von einen in den anderen Bereich verschobene, Ungleichheiten, die sich aus der verstärkten Vernetzung ergeben[21]. Als anschauliches Beispiel dient hier der Vergleich von Geschlechtergleichberechtigung und entstandenen Ungleichheiten zwischen stark und wenig industrialisierten Ländern seit der Moderne. Im lokalen Kontext kann von einer verbreiteten Gleichstellung von Frau und Mann gesprochen werden, wohin gegen im globalen Kontext neue Ungleichheiten zwischen den Grenzen der Länder und den Schichten von Arm und Reich sichtbar werden[22]. Die Globalisierung als Begriff scheint unterdessen schwer greifbar zu sein, weil man von ihren ungerichteten Effekten her anerkennen muss, dass sich durch die ständig wechselnden Struktur- und Handlungselementen scheinbar klare Sinnzusammenhänge nicht eindeutig begründen lassen. Dies lässt sich wohl aus dem Charakteristikum der der Globalisierung eigenen Dehnung ableiten. Lokale Ereignisse, die der Richtung von Ursachen, die sie prägten, entgegenlaufen, sind zum Beispiel lokale Nationalismen[23]. In ähnlicher Weise verhält es sich mit aufkommenden neuen Traditionen, die weniger unter diesem Begriff aber aus dem Wunsch heraus, einem kollektiven Sinngefüge anzugehören, angewandt werden. Regionalistische und fundamentalistische Bestrebungen sind von daher im selben Vorgang von Globalisierung begriffen[24].

[...]


[1] Vgl. Lamla 2003: 11; Reckwitz 2007: 311

[2] Vgl. Giddens, Pierson 1998: 14

[3] Vgl. Giddens 1995b: 11

[4] Vgl. Weik 1998: 173

[5] Vgl. Reckwitz 2007: 325

[6] Vgl. Giddens 1995b: 28ff.

[7] Vgl. Weik 1998: 173

[8] Vgl. Reckwitz 2007: 325ff.

[9] Vgl. Beck/Giddens/Lash 1996: 9, 13

[10] Analog dazu betrachten lässt sich der Risikobegriff von Ulrich Beck, wenn gleich Unterscheidungen in der inhaltlichen Bestimmung gemacht werden müssen. Auch findet sich für Giddens 'Postmoderne' die ähnliche Formulierung „Zweite Moderne“. Vgl. Beck/Giddens/Lash 1996: 22, 40

[11] Vgl. Giddens 2001: 33ff.

[12] Auch hier lassen sich entscheidende Ähnlichkeiten zu Beck feststellen. Beck erarbeitet allerdings die Auswirkungen auf die „individualisierte Form hochmoderner Subjekte“ noch präziser. Vgl. Reckwitz 2007: 333

[13] Vgl. Reckwitz 2007: 325ff.

[14] Giddens, Pierson 1998: 94

[15] Vgl. Weik 1998: 173

[16] Vgl. Giddens 2001: 21ff.

[17] Giddens 2001: 24

[18] Vgl. Giddens 2001: 24

[19] Vgl. Reckwitz 2007: 326

[20] Vgl. Beck/Gidden/Lash 1996: 115

[21] Vgl. Lamla 2003: 105ff.

[22] Vgl. Giddens 2001: 23ff.

[23] Vgl. Giddens 1995b: 85

[24] Vgl. ebd.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Kulturelle Werte im Wandel
Untertitel
Ambivalente Betrachtungen der Moderne bei Anthony Giddens und Richard Sennett
Hochschule
Universität Erfurt  (Staatswissenschaftliche Fakultät)
Veranstaltung
Kapitalismus als Kultur - Märkte und Formen der Lebensführung
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
21
Katalognummer
V149045
ISBN (eBook)
9783640787692
ISBN (Buch)
9783640788118
Dateigröße
530 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kultur, Lebensweise, Wirtschaft, Giddens, Sennett, Werte, Wandel, Moderne
Arbeit zitieren
Larissa Voigt (Autor:in), 2010, Kulturelle Werte im Wandel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149045

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Kulturelle Werte im Wandel



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden