Der Körper (in) der Sprache

Zum Verhältnis von Wahrnehmung und Körper in den medienästhetischen Schriften Walter Benjamin´s


Seminararbeit, 2009

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Benjamin´s Kunstwerkaufsatz
2.1 Das „auratische Kunstwerk“
2.2 Die veränderte Wahrnehmung: das „Optisch-Unbewusste“

3 Das „mimetische Vermögen“: der Körper (in) der Sprache
3.1 Leib und Körper

4. Schlussteil und Perspektiven

5 Quellenangaben

Primärliteratur

Sekundärliteratur

1 Einleitung

Die Wiedergabe der Realität hat kaum noch etwas mit der Realität zu tun. Dieser Satz von Berthold Brecht sei hier an den Anfang gestellt, da er in verschiedener Hinsicht als Bezugspunkt der vorliegenden Arbeit verstanden werden kann. In ihm steckt ein Vorwurf verborgen, der im vergangen Jahrhundert häufiger von Kunsttheoretikern gemacht worden ist, nämlich dass die Realität in das Funktionale und Fragmentarische gerutscht sei und sich nun nicht mehr abbilden lasse. Jedoch ist es nicht nur die Realität, die sich gewandelt hat, sondern auch die Mittel ihrer Darstellung. Es sollte außerdem die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass es sich anders herum verhält, dass sich die Realität ihrer Darstellung angenähert hat und dass die Wiedergabe von Realität, tatsächlich mehr Einfluss auf die Realität hat, als Brecht es hier vermutete. Es mag stimmen, dass sich durch den Verlust von Ideologien die Realität in gewisser Weise in Funktionalität und fragmentarische Strukturen verschoben hat, doch verhält es sich nicht auch so, dass wir in eine Wahrnehmungswelt hineingeboren werden, die diesen Umstand noch zusätzlich begünstigt? „Die einzige Antwort ist offenbar, daß wir nur diejenige Realität erfahren können, die uns noch zur Verfügung steht.“[1] Doch was genau ist es, was uns noch zur Verfügung steht? Was wird wahrgenommen und welcher Teil dessen wandert in unseren eigenen Ausdruck der Realität hinein bzw. wird verinnerlicht?

Walter Benjamin geht in seinen medien- und kunsttheoretischen Texten, die er in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts verfasste, auf diese Fragen ein. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen stehen dabei immer die Begriffe von Wahrnehmung und dem Körper (in) der Sprache. Seine Untersuchungsgegenstände im Zusammenhang mit der Wiedergabe von Realität waren dabei vor allem der Film und die Fotografie. In dieser Arbeit wird vor allem auf den „Kunstwerkaufsatz“ Bezug genommen, in welchem Benjamin sich speziell mit dem Film und einer durch Filmrezeption veränderten Wahrnehmung auseinander setzt. Wie wir im Folgenden sehen werden, erkennt Benjamin in dem Film den Auslöser für das, was er als das Optisch-Unbewusste bezeichnet und was seither einen erheblichen Einfluss auf unsere Wahrnehmungswelt ausübt. Durch den Film wurde die (gewohnheitsmäßige) Rezeption von bisher unbekannten Perspektiven, und das auch noch in bisher nie da gewesener Ablaufgeschwindigkeit ermöglicht, was zu einer veränderten Wahrnehmung führte. Siegfried Kracauer schreibt dem Film ein vergleichbares Potential zu:

„Indem der Film die physische Realität wiedergibt und durchforscht, legt er eine Welt frei, die niemals zuvor zu sehen war, eine Welt, die sich dem Blick so entzieht wie Poes gestohlener Brief, der nicht gefunden werden kann, weil er in jedermanns Reichweite liegt. Gemeint ist hiermit […] unsere gewöhnliche physische Umwelt selber. So merkwürdig es klingt: Straßen, Gesichter, Bahnhöfe usw., die doch vor unseren Augen liegen, sind bisher weitgehend unsichtbar geblieben.“[2]

Vor dem Hintergrund der Kunstrezeption erkennt Benjamin eine Wahrnehmungsentwicklung, weg von der Kontemplation, hin zur Zerstreuung und setzt dies in Zusammenhang mit einem veränderten Körperbewusstsein. Benjamin arbeitet hier mit einem bipolaren Begriffspaar, wenn er Kontemplation und Zerstreuung einander gegenüberstellt. Wie im Verlauf dieser Ausarbeitung zu sehen sein wird, arbeitet Benjamin immer wieder mit dieser Form von opponierenden Begriffspaaren. In Zerstreuung und Gewohnheit, als Form der Kunstrezeption, erkennt Benjamin Ausdruck und Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung, in welcher der „[…] Sinn für das Gleichartige in der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.“[3] Gleichzeitig versteht er diese Form der Rezeption auch als eine Möglichkeit und vergleicht sie etwa mit der Kunstrezeption der Architektur. Die Architektur wird ebenso in gewohnheitsmäßiger Weise wahrgenommen und nicht primär als Kunstgegenstand verstanden, sondern als etwas, das sich vor allem durch seinen Gebrauchswert definiert und auf diese Weise einen bedeutenden, obgleich unbewussten Einfluss auf unsere Wahrnehmung hat. Eine gewohnheitsmäßige Rezeption durch die Massen, löst die kontemplative Rezeption des Einzel-Kunstwerkes ab. Im Falle des Films vergleicht Benjamin diesen mit dem Theater und sieht in der Inszenierung eines Theaterstückes vor Publikum noch eine „Kunstleistung“, wohingegen der Film durch die technischen Mittel, vor allem der Montage, bestimmt ist, wodurch bereits seine Rezeption bestimmt wird. Nach Benjamins Ansicht entsteht bei der Filmrezeption eine Ohnmachtsituation, da nicht in das Geschehen, das der Wirklichkeit zum verwechseln ähnlich sieht, eingegriffen werden kann.

Die einzelnen Begriffe, die wir den medienästhetischen Texten Walter Benjamins entnehmen können, wie die Wahrnehmung, das Optisch-Unbewusste und vor allem die Bedeutung des Körpers (oder Leibs), verstanden als Sprache im Sinne einer kulturspezifischen Ausdrucksform, bilden den Mittelpunkt der Betrachtungen dieser Arbeit. Dabei soll versucht werden, die Benjaminschen Begriffe und Vorstellungen in einen sinnvollen Zusammenhang mit dem Begriff des „Körpergedächtnisses“ zu setzen. Der Begriff des Körpergedächtnisses versteht den menschlichen Körper als einen Gedächtnisort, in dem sozial und kulturell determinierte Körpertechniken als implizites Wissen gespeichert werden.[4] Dieser Begriff kann, wie im Folgenden dargestellt, als eine Parallele zu Benjamins Begriff des Leibs verstanden werden. Der Begriff der Körpertechniken oder der Habitus, stellt eine Art Sammelbegriff für jedwede Form des Körper (in) der Sprache dar, wie beispielsweise die Stellung von Händen und Fingern, Einschlaftechniken, oder auch verschiedene Bewegungen des Körpers zu rituellen Handlungen, wie beispielsweise bei Begrüßungsformeln verschiedener Kulturkreise. Auf der Grundlage der medienästhetischen Theorien Walter Benjamins wird im Folgenden der Versuch unternommen die möglichen Zusammenhänge und Wechselwirkungen der genannten Kategorien von Wahrnehmung, Kunstrezeption, Realität und dem Körper (in) der Sprache darzustellen. Der Film soll nicht nur aufgrund der bearbeiteten Quellen, oder aufgrund seines großen Einflusses auf heutige Wahrnehmungswelten als wichtigstes Beispiel genutzt werden, sondern, weil er darüber hinaus als Archiv moderner Bewegungs- und Körperkulturen betrachtet werden kann und somit nicht nur als Untersuchungsgegenstand, sondern auch als Dokument fungiert.

2 Benjamin´s Kunstwerkaufsatz

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/1939) ist einer der bedeutendsten Aufsätze Walter Benjamins. Dieser Text, der auch als der „Kunstwerkaufsatz“ bekannt ist, beschäftigt sich speziell mit dem Medium Film. Benjamin stellt in dieser Arbeit zum einen die Frage nach der Reproduzierbarkeit zeitgenössischer Kunstwerke und zum anderen schließt sich hieran die Frage an, ob die neuen Medien wie Film (und auch Fotografie) die menschliche Wahrnehmung verändern können. Benjamins Arbeit beginnt zunächst mit einer historischen Übersicht, über die Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, welche Benjamins Auffassung nach, „[…] grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen [sind]“[5]. Benjamin führt verschiedene Beispiele vergangener Zeiten an, wie beispielsweise die Bronzegusstechniken der Antike oder die Holzschnitttechnik des Mittelalters. Allerdings macht Benjamin eine Unterscheidung zwischen dem Verfahren der „manuellen“ und dem der „technischen“ Reproduktion. Obwohl Benjamin die genannten Beispiele aus der Vergangenheit bereits der technischen Reproduktion zuordnet, sieht er den ersten großen Schritt hin zur technischen Reproduktion von Kunstwerken erst mit der Einführung des Buchdruckes Mitte des 15. Jahrhunderts, sowie der Entwicklung der Lithographie, dem Steindruckverfahren zur Vervielfältigung von Graphiken. Bereits in der Reproduktionstechnik der Lithographie entdeckt Benjamin, dass Potential, Einfluss auf die Kunstrezeption und die Wahrnehmungsformen der Gesellschaft zu nehmen, worin sie aber bald durch die Innovation der Fotografie überholt werden sollte:

„Die Graphik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Steindrucks durch die Photographie überflügelt. Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickende Auge allein zufielen.“

Benjamin hat sich in seinen medienästhetischen Texten, vornehmlich in dem Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie (1931), auch intensiv mit dem Thema der Fotografie beschäftigt. Aufgrund des begrenzten Umfanges dieser Arbeit, bleibt der Fokus hier auf dem Medium Film, in welchem Benjamin nicht nur das größte Potential zur Verbreitung neuer Wahrnehmungsgewohnheiten ausmacht, sondern auch die Frage stellt, inwieweit die „neuen“ Medien zu einer Wandlung des Kunstbegriffs geführt haben. Benjamins Blick auf den Wandel des Kunstbegriffes durch die Entdeckungen neuer technischer Verfahren (und zwar nicht nur jene der Reproduktion) wird schon zu Beginn des Kunstwerkaufsatzes klar erkennbar, wenn er seiner Arbeit ein Zitat von Paul Valéry voranstellt, in dem genau diese Zukunftsperspektive ihren Ausdruck findet:

„[…] Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind. Man muss sich darauf gefasst machen, daß so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.“[6]

[...]


[1] Kracauer, Siegfried: „Erfahrung und ihr Material“ (1960), aus: Albersmeier, Franz-Josef: „Texte zur Theorie des Films“, Verlag Reclam, 5.Auflage, Stuttgart 2003 S.236

[2] Kracauer, Siegfried: „Erfahrung und ihr Material“ (1960), aus: Albersmeier, Franz-Josef: „Texte zur Theorie des Films“, Verlag Reclam, 5.Auflage, Stuttgart 2003 S.238

[3] Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, aus: Benjamin, Walter: „Medienästhetische Schriften“, Verlag Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1.Auflg.,Frankfurt a.M. 2002, S. 354

[4] Vgl. Baxmann, Inge: „Der Körper als Gedächtnisort“, aus: Cramer, Franz Anton: „Deutungsräume. Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne.“, München 2008, S. 15f.

[5] Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, aus: Benjamin, Walter: „Medienästhetische Schriften“, Verlag Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1.Auflg.,Frankfurt a.M. 2002, S. 352

[6] Valéry, Paul: „Piéces sur l´art, Paris [o.J.], S. 103, aus : Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, aus: Benjamin, Walter: „Medienästhetische Schriften“, Verlag Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1.Auflg.,Frankfurt a.M. 2002, S. 351

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Der Körper (in) der Sprache
Untertitel
Zum Verhältnis von Wahrnehmung und Körper in den medienästhetischen Schriften Walter Benjamin´s
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Theaterwissenschaft)
Veranstaltung
FS Sinneswissen und Kulturgeschichtsschreibung
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
19
Katalognummer
V148798
ISBN (eBook)
9783640594177
ISBN (Buch)
9783640593880
Dateigröße
498 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Walter Benjamin, Wahrnehmungstrategien, Sehgewohnehiten
Arbeit zitieren
Ralf Beckendorf (Autor:in), 2009, Der Körper (in) der Sprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148798

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