Johann Gottlieb Fichte: „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ von 1797/98

Der transzendentale Idealismus als einzige stringente Alternative zum Dogmatismus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

67 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die Metaphysik Fichtes als Gegenposition zum Spinozanischen System
1.1 Entgegenstellung des Idealismus
1.2 Intellektuelle Anschauung und Wahrheitsgeltung des Idealismus
1.3 Selbstsetzung des Ich
1.4 Entgegensetzung eines Nicht-Ich
1.5 Synthese von Setzung und Entgegensetzung im Ich

2. Kritik bezüglich des transzendentalen Idealismus Fichtes
2.1 Vorwurf der vitiösen Zirkelhaftigkeit des Selbstbewußtseins
2.1.1 Darstellung der vitiösen Zirkelhaftigkeit des Selbstbewußtseins
2.1.2 Immer-schon-bei-sich-gewesen-Sein des Selbstbewußtseins
2.2 Vorwurf des verkehrten Spinozismus
2.2.1 Darstellung des verkehrten Spinozismus
2.2.2 Bereits-aufgebrochen-Sein jeglichen An-sich
2.3 Vorwurf des Subjektivismus
2.3.1 Darstellung des Subjektivismus
2.3.2 Immer-schon-bei-den-Dingen-gewesen-Sein des Selbstbewußtseins
2.4 Vorwurf der Isolation des Selbstbewußtseins
2.4.1 Darstellung der Isolation des Selbstbewußtseins
2.4.2 Soziale Bedingtheit des Selbstbewußtseins
2.5 Vorwurf der Verfehlung menschlicher Selbsterfahrung
2.5.1 Darstellung der Verfehlung menschlicher Selbsterfahrung
2.5.2 Drei unterscheidbare Seiten des einen Selbstbewußtseins in Willensfreiheit
2.6 Vorwurf der Verfehlung der Personalität des Absoluten
2.6.1 Darstellung der Verfehlung der Personalität des Absoluten
2.6.2 Neukonzeption der Personalität ausgehend vom Absoluten

Literaturverzeichnis

1. Die Metaphysik Fichtes als Gegenposition zum Spinozanischen System

1.1 Entgegenstellung des Idealismus

In der „Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre“ seiner Schrift „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ von 1797/98 legt Fichte dar, was er als die Aufgabe der Philosophie ansieht: den Grund aller äußeren und inneren Erfahrung angeben. 1 Dieser Grund aller Erfahrung muß außerhalb der Erfahrung liegen. 2 Wenn also die Philosophie durch Freiheit des Denkens das unterscheidet, was in aller Erfahrung immer schon verbunden ist, so erhebt sie sich damit aus der Erfahrung. Unterschieden werden mit Hilfe der Philosophie zum einen das Ding, nach dem sich die Erkenntnis richten soll, und zum anderen die Erkenntniskraft, also die Vernunft, welche erkennen soll. 3 Man kann diese Zweiheit mit Fichte auch bezeichnen als die Dualität von Nicht-Ich und Ich.

Für Fichte ergeben sich damit nur zwei stringente Arten des Philosophierens. 4 Entweder man

sieht ab von der Vernunft und versucht, aus dem Ding, d.h. aus einer absoluten Substanz ohne Beziehung auf ein Bewußtsein bzw. ein Ich, die Erfahrung zu erklären; dies ergibt „Dogmatismus“, wie er sich für Fichte paradigmatisch bei Spinoza findet. Oder man erklärt die

Erfahrung aus der Intelligenz; dies ist „Idealismus“, wie er sich für Fichte in Kants System 1 darstellt. 2

Dogmatismus und Idealismus stellen in den Augen Fichtes nun zwei Systeme dar, von denen keines prima facie in der Lage ist, das andere zu widerlegen. Der Grund hierfür liegt darin, daß jedes System jeweils die Geltung der ersten Voraussetzung des anderen Systems negiert. 3 So bestreitet der Dogmatiker gegenüber dem Idealisten, daß dessen Freiheitsbewußtsein auch die

Wirklichkeit einer frei handelnden Intelligenz voraussetzt und verbürgt; wer dies glaubt, unterliegt für den Dogmatiker schlichtweg einer Illusion. 1 Der Dogmatiker selbst ist seiner

eigenen Voraussetzung zufolge konsequenterweise Fatalist und, wie Fichte betont, zwangsläufig Materialist. Ihm gilt einzig die sinnlich zugängliche dingliche Welt mit ihrem durchgehend äußerlichen Notwendigkeitsverhältnis als verständlich und erkennbar. 2

Der Idealist hingegen bestreitet nun gegenüber dem Dogmatiker, daß man sinnvoll von einem „Ding an sich“, also von einem Objekt ohne Bezug auf jegliches Subjekt, sprechen kann; der Idealist leitet die Erfahrung des Menschen nicht wie der Dogmatiker aus einem „Ding an sich“ ab, sondern aus einer freien Intelligenz 3, oder wie Fichte auch sagt, aus den Tathandlungen eines

absoluten Ich: „[…] Das Ding an sich wird zur völligen Chimäre, es zeigt sich gar kein Grund mehr, warum man eins annehmen sollte; und mit ihm fällt das ganze dogmatische Gebäude zusammen […]“. 4

Beide philosophischen Systeme sind Fichte zufolge einander vollkommen entgegengesetzt und

miteinander unvereinbar 1: „[…] Der Streit zwischen dem Idealisten und dem Dogmatiker ist eigentlich der, ob der Selbständigkeit des Ich die Selbständigkeit des Dinges, oder umgekehrt, der Selbständigkeit des Dinges, die des Ich aufgeopfert werden solle […]“. 2 Wie kann das Dilemma zwischen den unter spekulativer Rücksicht gleichwertigen und gleichberechtigten philosophi-schen Sichtweisen bezüglich der Wirklichkeit entschieden werden? Was ist das Kriterium, das den Menschen in die Lage versetzt, eine Entscheidung für das eine oder andere Konzept von Wirklichkeit und Erkenntnis zu treffen?

Fichtes Antwort auf diese prima facie spekulativ nicht entscheidbare Frage mutet demnach auch entsprechend pragmatisch an: die Entscheidung zwischen dogmatischer und idealistischer Philosophie liegt in der Tiefe der Persönlichkeit. Fichte schreibt: „[…] Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat. Ein von Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter, und gekrümmter Charakter

wird sich nie zum Idealismus erheben […]“. 3

Selbstverständlich scheitert der Dogmatismus bereits am Retorsionsargument: er kann aus seinem eigenen Prinzip, nach dem es nur das „Ding an sich“ in der Wirklichkeit gibt, das Zustandekommen eines solchen Phänomens wie eben Erkenntnis, das nur im Wechselspiel von Objekt und Subjekt entstehen kann, nicht erklären. Er kann nicht erklären, wie es durch ein bloßes „Ding an sich“ zu einer Vorstellung im Subjekt kommen kann, angesichts der bloß äußerlichen Kausalitätsbeziehungen zwischen Dingen. Wie kommt es also in der Konzeption des Dogmatismus zu einem Objekt im vollen Sinne, also zu einem Objekt „für ein Subjekt“?

Nun will der Dogmatismus selbst eine Erkenntnis sein, und sogar eine Erkenntnis über das Zustandekommen menschlicher Erkenntnis. Daraus folgt, daß der Dogmatismus sein eigenes Zustandekommen als Erkenntnis nicht erklären kann. Es besteht somit keineswegs theoretischer

Gleichstand zwischen Dogmatismus und Idealismus. 1

Es stellt sich, zumal in dem vom naturwissenschaftlich-technischen Geist geprägten Welt- und Selbstbild der Moderne, als ein bemerkenswertes Phänomen dar, daß die Menschen dazu neigen,

alles und damit auch sich selbst für Dinge bzw. Sachen zu halten.

In Wahrheit ist aber die Vernunft, oder wie Fichte auch sagt: das Ich, dasjenige was nie objektiv, nie als Ding, nie als Sache aufgefaßt werden kann und darf; und so schreibt Fichte: „[…] Wer aber seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit von allem, was außer ihm ist, sich bewußt wird, […] der bedarf der Dinge nicht zur Stütze seines Selbst, und kann sie nicht brauchen, weil sie jene Selbständigkeit aufheben, und in leeren Schein verwandeln. Das Ich, das er besitzt, und welches ihn interessiert, hebt seinen Glauben, an die Dinge, auf; er glaubt an seine Selbstän-digkeit aus Neigung, er ergreift sie mit Affekt. Sein Glaube an sich selbst ist unmittelbar […]“. 2

Das jedoch bedeutet, daß das Kriterium zur Entscheidung der Frage, welches philosophische System von beiden man wählen soll, letztlich der bereits vorgängig stattgefundenen Entschiedenheit unterliegt. Die Wahl unterliegt damit letztlich in solch starkem Maß der Emotionalität, daß ein Überzeugen des jeweiligen Gegners durch rein rationale, kognitive Mittel ausgeschlossen ist. Dieses Problem zeigt ausführlich Baumanns 3, aber auch Fichte selbst bringt es deutlich zum Ausdruck: „[…] Zum Philosophen – wenn der Idealismus sich als die einzige

wahre Philosophie bewähren sollte – zum Philosophen muß man geboren sein, dazu erzogen werden, und sich selbst dazu erziehen: aber man kann durch keine menschliche Kunst dazu

gemacht werden. Darum verspricht auch diese Wissenschaft sich unter den schon gemachten Männern wenige Proselyten; darf sie überhaupt hoffen, so hofft sie mehr von der jungen Welt, deren angeborene Kraft noch nicht in der Schlaffheit des Zeitalters zugrunde gegangen ist […]“1 Wenn nun der Dogmatismus bei der Erklärung über das Zustandekommen menschlicher Erkenntnis an seinen eigenen Voraussetzungen eines „Dings an sich“ und an seiner Konzeption einer rein äußerlich stattfindenden und verbleibenden Kausalität scheitert, weil durch sie ein Affiziertwerden der menschlichen Erkenntniskraft durch das eigentliche Erkenntnisobjekt von

Grund auf verwehrt ist, wie sieht dann die Antwort des Idealismus auf die Frage nach eben jenen

Voraussetzungen aus, die das Gelingen menschlicher Erkenntnis erklären können?

Fichte schreibt hierzu: „[…] Die Voraussetzung des Idealismus wird sonach diese sein: die Intelligenz handelt; aber sie kann vermöge ihres eigenen Wesens, nur auf eine gewisse Weise handeln. Denkt man sich diese notwendige Weise des Handelns abgesondert vom Handeln, so nennt man sie sehr passend, die Gesetze des Handelns: also es gibt notwendige Gesetze der Intelligenz […]“2 Fichte versteht die Gesetze der Intelligenz nicht als etwas der Erkenntniskraft in ihrem Affiziertwerden durch ein „Ding an sich“ im Endeffekt nur äußerlich bleibendes, sondern als etwas, das sich aus dem Wesen der Vernunft selbst ergibt. Und somit besteht für den Idealismus Fichtes die Philosophie in nichts anderem als in der Erkenntnis gerade dieser Gesetze. Diese Gesetze der Intelligenz betreffen die Einzelvernunft natürlich lediglich in ihrer

wesenhaften Struktur, insofern sie also als Einzelvernunft Vertreterin von Vernunft überhaupt ist. Aus den innerlichen Gesetzen der Vernunft bzw. des Ich lassen sich also nicht die konkreten Einzeldenkinhalte ableiten, die ein bestimmter Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt faßt. Als solche Gesetze der wesenhaften Struktur von Intelligenz jedoch bilden sie ein System, und – was entscheidend ist für Fichtes Konzeption – sie bilden dieses System notwendigerweise. 1 Nur weil sie dieses System notwendigerweise bilden, lassen sie sich durch die Philosophie in wissen-schaftlicher Weise erkennen, andernfalls wäre das philosophische Unternehmen in jedem Fall vereitelt, denn vom Einzelnen gibt es keine Wissenschaft.

Die Haltung des Dogmatikers versteht die Gesetze der Erkenntnis hingegen als „[…] allgemeine, in dem Wesen der Dinge begründete Eigenschaften […]“. 2 Und so ergibt sich für den Idealisten eine völlig entgegengesetzte Konzeption von Objekt, als sie im Dogmatismus der Fall ist: „[…] Das Ding entsteht allerdings durch ein Handeln nach diesen Gesetzen, das Ding ist gar nichts anderes, als alle diese Verhältnisse durch die Einbildungskraft zusammen gefaßt, und alle diese Verhältnisse miteinander sind das Ding; das Objekt ist allerdings die ursprüngliche Synthesis aller jener Begriffe. Form und Stoff sind nicht besondere Stücke; die gesamte Formheit ist der Stoff, und erst in der Analyse bekommen wir einzelne Formen […]“3

Die Methode und die Erkenntnisquelle, nach denen die Wissenschaftslehre Philosophie betreibt und mit denen sie diametral zur Methode und zur Erkenntnisquelle des Dogmatismus steht, faßt Fichte zu Beginn der „Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre“ zusammen: „[…] Das-jenige, was sie [d.h. die Wissenschaftslehre; Anm.d.Verf.] zum Gegenstand ihres Denkens macht, ist nicht ein toter Begriff, der sich gegen ihre Untersuchung nur leidend verhalte, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas mache, sondern es ist ein Lebendiges und Tätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Erkenntnisse erzeugt, und welchem der Philosoph bloß zusieht […]“4 Der Gegenstand ihres Denkens ist also etwas Lebendiges und Tätiges, aber was ist dieses Lebendige? Es ist die Vernunft, sie ist für Fichte lebendig tätig, anders gesagt handelnd, im Gegensatz zum Vernunftverständnis des Dogmatismus. Im Dogmatismus ist die

Erkenntniskraft passiv und durch äußere Notwendigkeiten determiniert, sie nimmt Erkenntnisse einzig durch das Außen zu ihr entgegen. Doch, wie bereits aufgezeigt, ist der Dogmatismus nicht in der Lage, seine Annahme, daß es Dinge an sich, d.h. Objekte, die bloß für sich selbst ohne Bezug auf jegliche Vernunft sind, gibt, aus seinen eigenen Prinzipien zu begründen. Der Begriff des „Dings an sich“ oder der „Dinge an sich“ ist somit ein toter Begriff, wo immer der Dogmatiker ihn auch her nehmen mag. Die Philosophie des Dogmatismus wird damit zu einem bloßen Schattenspiel des Dogmatikers selbst, der durch sie zu erzielende Erkenntnisgewinn ist gleich Null. 1

Was ist nun aber die Aufgabe des idealistischen Philosophen der Vernunft gegenüber, die ihr der Dogmatiker schuldig bleibt? Auf diese naheliegende Frage antwortet Fichte: „[…] Sein [d.h. des wahren Philosophen; Anm.d.Verf.] Geschäft in der Sache ist nichts weiter, als daß er jenes Lebendige in zweckmäßige Tätigkeit versetze, dieser Tätigkeit desselben zusehe, sie auffasse, und als Eins begreife […]“2 Die Philosophie als Wissenschaftslehre will also das vollständige System dessen darstellen, was Fichte an späterer Stelle als „Tathandlungen“ bezeichnen wird. 3

Und somit ergeben sich „[…] in der Wissenschaftslehre zwei sehr verschiedene Reihen des geistigen Handelns: die des Ich, welches der Philosoph beobachtet, und die der Beobachtungen des Philosophen […]“4 Deutlicher formuliert bedeutet dies: Philosophie besteht nicht in einem Anschauen vernunftunabhängig gegebener, und somit der Erkenntniskraft bloß äußerlich verbleibender „Objekte“ („Dinge an sich“), sondern in der Philosophie wird dem Philosophen ein Anschauen seiner selbst im Vollziehen desjenigen Aktes abverlangt, wodurch ihm das Ich und mit dem Ich auch erst die Welt, verstanden als Welt der Erfahrung, entsteht. Dieses Anschauen nennt Fichte „intellektuelle Anschauung“. 5

„[…] Deduktion aus festen Begriffen, die nur ein «Kunstprodukt», «tote Masse» sind, in der die

«innere Kraft schon getötet» [die zugehörige Fußnote im Original lautet: 2. Einl., I, 454;

Anm.d.Verf.], ist sicheres Kennmal des Unphilosophen [d.h. des Dogmatikers; Anm.d.Verf.]. Darum Fichtes sokratisch-maieutische Haltung, Appell an Nachvollzug der Grundtat, Abweisung aller äußerlich nachbetenden Schüler. «Nur durch die gründliche Verbesserung meines Willens geht ein neues Licht über mein Dasein und meine Bestimmung mir auf.» [die zugehörige Fußnote im Original lautet: Best. d. M., II, 294; Anm.d.Verf.] […]“1

1.2 Intellektuelle Anschauung und Wahrheitsgeltung des Idealismus

Nun ist der Begriff der intellektuellen Anschauung in der Philosophiegeschichte kein unbeschriebenes Blatt: Kant versteht unter diesem Begriff das hypothetische Vermögen der theoretischen Vernunft, „Dinge an sich“ in unmittelbarer Weise anzuschauen, also ohne die bei Erkenntnis immer notwendige sinnliche Vermittlung. Diese Intellektuelle Anschauung kann Kant aufgrund seiner Konzeption von Erkenntnis als Synthesis aus rezepiertem Sinnenmaterial in Mannigfaltigkeit und darin ordnungs- und einheitsstiftenden a apriorischen Verstandesstrukturen, dem Menschen nicht zusprechen. 2

Fichte kennt dieses Problem nicht. Für ihn kommt eine solche hypothetische intellektuelle Anschauung im Kantischen Sinn überhaupt nicht ins Blickfeld, weil er die Existenz eines „Dings an sich“ ohnehin leugnet. 3 Die intellektuelle Anschauung ist somit für Fichte frei von der Kantischen Fußangel, wonach sich das Subjekt in ihr letztlich selbst zu einem „Ding an sich“ würde, und kann von ihm nun wieder als das interpretiert werden, was sie ihrem wahren Wesen nach besagt: „[…] Sie ist das unmittelbare Bewußtsein; daß ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue. Daß es ein solches Vermögen der intellektuellen Anschauung gebe, läßt sich nicht durch Begriffe demonstrieren, noch was es sei, aus Begriffen entwickeln. Jeder muß es unmittelbar in sich selbst finden […] Ich kann keinen Schritt tun, weder Hand noch Fuß bewegen, ohne die intellektuelle Anschauung meines Selbstbewußtseins in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiß ich, daß ich es tue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, von dem vorgefundenen Objekten des Handelns.

Jeder, der sich eine Tätigkeit zuschreibt, beruft sich auf diese Anschauung. In ihr ist die Quelle des Lebens, und ohne sie ist der Tod […]“. 1 In dieser intellektuellen Anschauung erfaßt sich der Philosoph nun somit im wahren Sinne selbsttätig, er erfährt sich selbst als nicht von kausalen Gesetzen äußerlich genötigt, d.h. er erfährt sich in ihr als vollkommen undeterminiert, als frei.

Ist man nach diesen wunderbaren Ausführungen Fichtes aber im Prinzip nicht genauso weit wie der Dogmatismus, der sein eigenes Prinzip nicht erklären kann? Besteht jetzt nicht letztlich doch wieder theoretischer Gleichstand zwischen Dogmatiker und Idealist? Denn schließlich läßt sich nun die Frage stellen, was denn die Wahrheitsgeltung der intellektuellen Anschauung verbürgt.

Wer oder was gibt dem Idealisten die Gewißheit, daß er mit der intellektuellen Anschauung letztlich nicht nur einer Selbsttäuschung unterliegt? Fichtes Antwort auf diese Frage lautet: das Sittengesetz verbürgt ihm diese Gewißheit. 2 Durch das Sittengesetz wird dem Ich „[…] ein absolutes, nur in ihm und schlechthin in nichts anderem begründetes Handeln angemutet, und es sonach als ein absolut Tätiges charakterisiert […]“. 3 D.h. hätte der Dogmatismus recht und der Mensch wäre nichts anderes als ein nur unter äußerlich-kausaler Determination stehendes Ding unter den Dingen, so könnte der Mensch unter keiner sittlichen Forderung - keiner absoluten sittlichen Forderung - stehen und sich somit auch nicht als unter einer solchen stehend erkennen und verstehen. 4 Daraus ergibt sich: der Mensch erkennt sich erst aus der Ganzheit der Vernunft. Er erkennt (sich) in seinem Gefordertsein zu handeln. Er handelt in der Freiheit zu erkennen. Theorie und Praxis sind für Fichte eine untrennbare Einheit. In diesem Sinne darf man die

intellektuelle Anschauung als Schnittstelle zwischen theoretischer Vernunft und praktischer Vernunft bezeichnen. Der Primat liegt für Fichte jedoch bei der praktischen Vernunft, denn sie liefert schlußendlich das Geltungskriterium des Idealismus, und in diesem Sinne ist die intellektuelle Anschauung der oberste Standpunkt der Philosophie. 1 Die intellektuelle Anschauung und der sich darauf aufbauende Idealismus Fichtes sind somit „[…] Produkt der praktischen Notwendigkeit. Ich kann von diesem Standpunkte aus nicht weiter gehen, weil ich nicht weiter gehen darf; und so zeigt sich der transzendentale Idealismus zugleich als die einzige pflichtmäßige Denkart in der Philosophie, als diejenige Denkart, wo die Spekulation und das Sittengesetz sich innigst vereinigen. Ich soll in meinem Denken vom reinen Ich ausgehen, und dasselbe absolut selbsttätig denken, nicht als bestimmt durch die Dinge, sondern als die Dinge bestimmend […] Was meinem Handeln entgegensteht […] ist die sinnliche, was durch mein Handeln entstehen soll, ist die intelligible Welt“ [Kursivstellungen im Original; Anm.d.Verf.] […]“2 Die intelligible Welt ist für Fichte damit nicht eine Welt der „Dinge an sich“, die sich als immer schon vorhandene wahre Wirklichkeit hinter der sinnlich zugänglichen Welt aus Erscheinungen verbirgt, sondern sie ist die vom Ich erst zu schaffende Welt, nämlich die Welt des Werthaften und Wertbejahten.

„[…] Man kann vom Ich nicht abstrahieren, hat die Wissenschaftslehre gesagt […]“3, wie ist dann dieses „Ich“ aber genauer zu verstehen? Dieser Frage widmet sich das letzte Drittel der „Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre“. In ihm will Fichte den Begriff des Ich nicht nur deutlicher herausstellen, sondern ihn dadurch vor allem auch vor Mißdeutungen und Mißverständnissen bewahren: „[…] Dieses Ich aber ist die Ichheit überhaupt […]“4 Mit dem Begriff „Ich“ ist selbstverständlich weder die naive Annahme gemeint, der denkende Mensch hätte als einzigen Bewußtseinsinhalt einzig die Vorstellung seiner selbst und sonst nichts 5, noch

als die von uns selbst; unser ganzes Leben hindurch, in allen Momenten denken wir immer: Ich, Ich, Ich,

sind individuelle Personen damit gemeint 1, sondern das, was Fichte „Ichheit“ nennt und was verständlicher als „die Vernunft überhaupt“ bezeichnet wird. 2: „[…] In der Wissenschaftslehre ist das Verhältnis gerade umgekehrt; da ist die Vernunft das einige an sich, und die Individualität nur akzidentell; die Vernunft, Zweck; und die Persönlichkeit, Mittel; die letztere nur eine besondere Weise, die Vernunft auszudrücken, die sich immer mehr in der allgemeinen Form derselben verlieren muß. Nur die Vernunft ist ihr ewig; die Individualität aber muß unaufhörlich absterben […]“. 3

Das Ich besteht für Fichte in der absoluten Identität von Subjekt und Objekt. 4 Ich ist dasjenige, was nicht Subjekt sein kann, ohne in demselben Akt Objekt zu sein. Aus dieser Identität geht die ganze Philosophie hervor. Durch sie wird der kritische Idealismus aufgestellt, die Identität der Idealität und Realität. Der Idealismus im Verständnis Fichtes ist somit zum einen kein solcher Idealismus, dem zufolge das Ich nur als Subjekt betrachtet wird, und er ist somit zum anderen auch kein Dogmatismus, dem zufolge das Ich nur als Objekt betrachtet wird: Die Wissenschafts-lehre ist kritischer Idealismus. Versteht man das Ich als Objekt, so hat man die Dinge, also die

und nie etwas anderes als Ich […]“

Kantische Anschauung, versteht man es als Subjekt, so hat man den Begriff. Die Wissenschafts-lehre stellt das Ich als Subjekt und Objekt zugleich auf. Anschauung und Begriff entstehen somit zugleich, d.h. beide sind Eins. Das Ich ist damit Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis noch in einem viel weiteren Sinn als die Subjektivität bei Kant. Denn das Ich ist für Fichte Bedingung der Möglichkeit von Erkennen und Sein, also von Erkennendem und Zuerkennendem. Das Sein hat ohne Bezug auf ein Erkennen gar kein „Ansich“. Und somit ist es in seinem Erkanntwerden auch nicht bloße „Erscheinung für uns“ bzw. bereits in seinem Zum-Erkennen-Bereitstehen keine bloße in uns entstehende Anschauung. Dem Sein muß in Fichtes Konzeption notwendigerweise eine immer schon vorhandene zu tiefst innere Verbundenheit mit dem Subjekt zu eigen sein.

Hier schließt sich der Kreis der Gedanken der beiden „Einleitungen in die Wissenschaftslehre“, denn genau hierin liegt wiederum der Grund dafür, daß Idealismus und Dogmatismus unvereinbar miteinander sind und darüber hinaus zu keinem kleinsten gemeinsamen Nenner finden können, von dem aus sie sich verständigen könnten. Das Ich im transzendental-idealistischen Sinne als Bedingung der Möglichkeit jeglichen Denkens und Seins erkennen zu können, bedarf es einer Voraussetzung, die der Dogmatiker niemals teilen kann: es bedarf der Annahme der Freiheit. 1

Der Begriff des „Seins“ des „Dings an sich“, der den Ausgangspunkt des Erkennens im Dogmatismus darstellt, wird für Fichte somit zu einem abgeleiteten Begriff. Er stellt nichts anderes dar als lediglich die Negation des Begriffs „Freiheit“. Das „Sein“ der Dinge ist somit immer relationiert auf die freie Tätigkeit des Erkenntnissubjektes schlechthin, weswegen Fichte es auch vermeidet, von Sein im analogen Sinne zu sprechen. Die Begriffe „Nur-Sein“ für das Sein der Objekte und „reines Sein“ für die Freiheit der Subjektivität, birgt stets die Gefahr in sich, eine gleichrangige Entgegensetzung zweier Bereiche anzunehmen und damit zu mißachten, daß es sich beim „reinen Sein“ um die Bedingung der Möglichkeit beider Komponenten

handelt. 1 Und somit kann der Idealist nur sich selbst den Dogmatismus widerlegen und philosophisch unbeschriebenen Gemütern die Unsinnigkeit des Dogmatismus nahelegen. Der Dogmatiker hingegen ist für den Idealisten kein Gesprächspartner. 2

Nur-Sein Sein nennt, führt dieses Nur, wo das Sein sozusagen «rein» auftritt, unwillkürlich ins Höhere empor und verdeckt dessen reines Erscheinen. So ist diese Terminologie zunächst ein Ergebnis philosophischer Pädagogik. Vom «Nur» ausgehend wird das Innen immer wie ein Ergebnis, ein Produkt oder Modus des Nur aus sehen, als «Resultat der Wechselwirkung der Dinge», als «Zusammenklang und Harmonie».[die zugehörige Fußnote im Original lautet: 1. Einl., I, 437: Anm.d.Verf.] Aber das Innen ist im Gegenteil das schlechthin Erste, «dem nichts vorhergeht, […] ein Tun und absolut nichts weiter; nicht einmal ein Tätiges soll man [es] [Klammersetzung im Original; Anm.d.Verf.] nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas bestehendes gedeutet wird, welchem die Tätigkeit beiwohne».[die zugehörige Fußnote im Original lautet: 1. Einl., 440; Anm.d.Verf.] Metaphysik fragt nach dem «Grunde des Seins», der nicht selber Sein heißen kann; der Einwand, aus dem Nichtsein lasse sich kein Sein ableiten, [die zugehörige Fußnote im Original lautet: 1. Einl., 498; Anm.d.Verf.], übersieht dabei, daß dieser «Grund» nicht etwa in logischen oder transzendentalen Formen (wie bei Kant) [Klammersetzung im Original; Anm.d.Verf.], sondern im Positivsten, im wirklichen An-sich besteht. Anders und tiefer: Nur aus dem Geiste wird verstehbar, daß und was «Ding» ist [Sperrungen im Original: Anm.d.Verf.] […]“

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 509/510: „ […] Endlich scheinen sie nicht bedacht zu haben, daß, sogar, wo es einen […] gemeinschaftlichen Punkt gibt, keiner in die Seele des anderen hineindenken kann, ohne selbst der andere zu sein; daß er auf die Selbsttätigkeit des anderen rechnen muß, und ihm nicht die bestimmten Gedanken, sondern nur die Anleitung geben kann, diese bestimmten Gedanken selbst zu denken. Das Verhältnis zwischen freien Wesen ist, Wechselwirkung durch Freiheit, keineswegs Kausalität durch mechanisch wirkende Kraft. Diese Streitigkeit sonach kommt, gerade wie alle Streitigkeiten, die zwischen uns, und ihnen sind, auf den streitigen Hauptpunkt zurück: Sie setzen das Verhältnis der Kausalität überall voraus, weil sie in der Tat kein höheres kennen; und darauf gründet sich denn auch diese ihre Forderung, man solle, ohne daß sie dazu vorbereitet sind, und ohne daß sie selbst von ihrer Seite das Geringste dabei zu tun haben, diese Überzeugung ihrer Seele einpfropfen. Wir gehen von der Freiheit aus, und setzen, wie billig, dieselbe auch bei ihnen voraus. – In jener Voraussetzung der durchgängigen Gültigkeit des Mechanismus der Ursachen und Wirkungen widersprechen sie zwar sich selbst unmittelbar; das, was sie sagen, und das, was sie tun, steht im Widerspruche. Nämlich, indem sie den Mechanismus voraussetzen, erheben sie sich über ihn; ihr Denken desselben ist etwas außer ihm Liegendes. Der Mechanismus kann sich selbst nicht fassen, eben darum, weil er Mechanismus ist. Sich selbst fassen, kann nur das freie Bewußtsein. Hier fände sich sonach ein Mittel, sie auf der Stelle zu überführen. Aber

gerade daran stößt es sich, daß diese Beobachtung völlig außerhalb ihres Gesichtskreises liegt, und daß es

„[…] Ich-Subjektivität darf […] nicht im Sinne des faktischen Bewußtseins individueller Personen, die in der grammatikalischen Form der ersten Person Singular auf sich Bezug nehmen, verstanden werden; für Fichte bezeichnet sie vielmehr eine Art Strukturbegriff, der das Ensemble notwendiger Bedingungen menschlichen Selbstseins überhaupt umfaßt. Worin besteht nun das Wesen, die eigentliche Strukturverfassung dieses «Ich»? Es ist Tätigkeit, absolute, unbegrenzte Produktivität […] Ohne gegenständliches Substrat erwirkt diese Tätigkeit gleichsam nur sich selbst; im Kontext der modernen Systemtheorie würde man wahrscheinlich von «Autopoiesis» sprechen, Fichtes Name für diese eigentümliche Figur lautet «Tathandlung». Der Ausdruck zielt auf ein Doppeltes: Zum einen will er die Ungegenständlichkeit der Subjektivität als solcher gegen die «Tatsachen des empirischen Bewußtseins» abgrenzen, über die wir uns in unserer empirisch-psychologischen Selbstwahrnehmung als Seiende unter Seienden gegeben sind – der Tathandlung dagegen können wir uns nur durch eine nichtsinnliche, unmittelbare, «intellektuelle» Anschauung bewußt werden; zum anderen soll der Begriff die prozessuale Identität von Tat und Handlung, Produkt und Produzierendem in der Ich-Tätigkeit unterstreichen. «Sich selbst setzen, und Sein, sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich» [die zugehörige Fußnote im Original lautet: WL 1794, 96; Anm.d.Verf.]. Als ersten, den Produktivitätsaspekt der Subjektivität resümierenden Grundsatz der Wissenschaftslehre kann Fichte daher formulieren: «Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein» [die zugehörige Fußnote im Original: WL 1794, 98; Anm.d.Verf.] […]“1 Grundlage des transzendentalen Idealismus ist die Freiheit zu handeln. Doch woher nimmt der transzendentale Idealismus diese Freiheit? Daß es Freiheit gibt, hat sich dem Philosophen anhand der Tatsache des Aufgerufenseins zum sittlichen Handeln versichert. Doch was sich nun stellt, ist die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit dieser bestehenden Freiheit in der Wirklichkeit.

[...]


1 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre = EEWL), 423:

„[…] Aber es ist allerdings eine des Nachdenkens würdige Frage: welches ist der Grund des Systems der vom Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen [die also anders als z.B. Fantasien nicht willkürlich verfügbar sind; Anm.d.Verf.], und dieses Gefühls der Notwendigkeit selbst? Diese Frage zu beantworten ist die Aufgabe der Philosophie; und es ist meines Bedünkens, nichts Philosophie, als die Wissenschaft, welche diese Aufgabe löst. Das System der von dem Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen nennt man auch die Erfahrung [Kursivstellung im Original; Anm. d. Verf.]: innere sowohl als äußere. Die Philosophie hat sonach […] den Grund aller Erfahrung anzugeben […]“

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 424/425: „[…] den Grund eines Zufälligen zu suchen, bedeutet: etwas anderes aufzuweisen, aus dessen Bestimmtheit sich einsehen lasse, warum das Begründete, unter den mannigfaltigen Bestimmungen, die ihm zukommen könnten, gerade diese habe, welche es hat. Der Grund fällt, zufolge des bloßen Denkens eines Grundes, außerhalb des Begründeten; beides, das Begründete und der Grund, werden , inwiefern sie dies sind, einander entgegengesetzt, aneinander gehalten, und so das erstere aus dem letzteren erklärt. Nun hat die Philosophie den Grund aller Erfahrung anzugeben; ihr Objekt liegt sonach notwendig außer aller Erfahrung […]“;

Zu diesem nicht unproblematischen Argument Fichtes äußert Rohs: Johann Gottlieb Fichte, 67: „[…] Dies Argument ist fragwürdig; aber Fichte möchte von vornherein den Vorwurf von Aenesidemus gegen Reinhold abwehren, nur eine auf empirische Selbstbeobachtung gestützte Theorie zu liefern […]“

3 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 425: „[…] Aber er [d.h. der Philosoph; Anm.d.Verf.] kann abstrahieren, das heißt, das in der Erfahrung Verbundene durch Freiheit des Denkens trennen. In der Erfahrung ist das Ding, dasjenige, welches unabhängig von unserer Erfahrung bestimmt ein, und wonach unsere Erkenntnis sich richten soll, und die Intelligenz, welche erkennen soll, unzertrennlich verbunden. Der Philosoph kann von einem von beiden abstrahieren, und er hat dann von der Erfahrung abstrahiert, und über dieselbe sich erhoben […]“

4 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 425/426: „[…] Abstrahiert er [d.h. der Philosoph; Anm. d. Verf.] von dem ersteren [d.h. vom Ding; Anm. d. Verf.], so behält er eine Intelligenz an sich, das heißt, abstrahiert von ihrem Verhältnis zur Erfahrung; abstrahiert er von dem letzteren [d.h. von der Intelligenz; Anm. d. Verf.], so behält er ein Ding an sich, das heißt, abstrahiert davon, daß es in der Erfahrung vorkommt, als Erklärungsgrund der Erfahrung übrig. Das erste Verfahren heißt Idealismus, das zweite Dogmatismus [Kursivstellung im Original; Anm. d. Verf.]. Es sind, wovon man durch das Gegenwärtige

eben überzeugt werden sollte, nur diese beiden philosophischen Systeme möglich. Nach dem ersteren Systeme sind die von dem Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen Produkte der ihnen in der Erklärung vorauszusetzenden Intelligenz; nach dem letzteren, Produkte eines ihnen vorauszusetzenden Dinges an sich […]“

1 Nun kennt Kant auch ein „Ding an sich“, warum wirft ihm Fichte nicht Dogmatismus vor, sondern sieht in Kants System den wahren Idealismus gedacht, wenn gleich noch nicht vollendet gedacht? Nun, Kant unterscheidet sich ganz wesentlich vom Dogmatismus, indem er Wissen nicht mehr versteht als etwas, das durch die „Dinge an sich“ selbst in uns gelangt und dann quasi bloß die Realität der „Dinge an sich“in uns ist; er versteht Wissen als die Weise, wie Wirklichkeit für uns gegeben ist, d.h. wie Wirklichkeit für uns da ist. Diese Auffassung Kants widerspricht also im zentralen Punkt dem naiven Realismus. Nach Kant erhalten wir in unserer Erkenntnis Informationen nicht durch Dinge außerhalb unseres Erkenntnis-vermögens, Erkenntnis ist nicht schon an sich vorhanden und muß nur noch von unserm Offensein für sie einfach aufgenommen werden. Bereits in unserer Sinnlichkeit haben wir es bei Kant nur noch zu tun mit „Erscheinungen für uns“. Alle weitere Struktur oder Information kommt für Kant dann ohnehin sowieso nur apriorisch durch unseren Verstand hinzu in den reinen Anschauungsformen und den Kategorien. Wir befinden uns also in Kants transzendentalem Idealismus steht ganz in der Immanenz unseres Bewußtseins und stellt in diesem Bewußtsein fest, daß zu diesem unserem Bewußtsein der grundlegende Glaube an ein Gegebensein von Wirklichkeit gehört. Kant nennt dies „Kopernikanische Wende“: Es gibt nur Dinge als „Dinge für uns“. Der naive Realismus des Dogmatismus beginnt in der Transzendenz der Dinge außerhalb unseres Bewußtseins. Erst durch das Offensein unseres Bewußtsein für das Sichzeigen der Dinge überzeugt uns überhaupt erst davon, daß wir ein Bewußtsein haben könnten. Das ist das vorkopernikanische Verständnis: Es gibt Dinge, weil sie an sich sind. Bewußtsein gibt es nur, damit sich die Dinge darin zeigen können. Da nun bloße Immanenz nicht denkbar ist, bleibt bei Kant diese unselige Konstruktion eines „Dings an sich“, das aber wiederum paradoxerweise so transzendent gerät, daß es uns gerade noch „irgendwie“ affiziert. Auf diese Weise kann Kant lebensweltliche Erfahrung der letztendlichen Rezeptivität unserer Erkenntnisvermögens sicherstellen. Fichte gibt dieses „Ding an sich“ auf, er konzipiert seine Immanenz des Bewußtseins weitergehender als Kant. Die Transzendenz muß sich aus innerer Notwendigkeit der Immanenz selbst ergeben.

2 Rohs: Johann Gottlieb Fichte, 67: „[…] Die Auffassung, daß die Erfahrung in beidem, in der Intelligenz und in einer davon unabhängigen Realität begründet sein könnte, wird schnell als inkonsequent abgetan. Darin spricht sich die für Fichtes Philosophie grundlegende Einsicht aus, daß sich eine Aufteilung der Erfahrung auf verschiedene Quellen – ein Teil hierher, ein Teil daher – wegen der inneren Einheit dieser Erfahrung nicht konsistent durchführen läßt […]“

3 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 429: „[…] Keines dieser beiden Systeme kann das entgegengesetzte direkt widerlegen: denn ihr Streit ist ein Streit über das erste nicht weiter abzuleitende Prinzip; jedes von beiden widerlegt, wenn ihm nur das seinige zugestanden wird, das des anderen; jedes leugnet dem entgegengesetzten alles ab, und sie haben gar keinen Punkt gemein, von welchem aus sie sich einander gegenseitig verständigen und sich vereinigen könnten. Wenn sie auch über die Worte eines Satzes einig zu sein scheinen, so nimmt jedes sie in einem anderen Sinne […]“

1 Bekannt ist bereits das Argument aus Spinoza: Ethik II, prop. 35, schol.: „[…] Menschen täuschen sich darin, daß sie sich für frei halten […], welche Meinung allein darauf beruht, daß sie sich ihrer Handlungen bewußt sind, aber nicht die Ursachen kennen, von denen sie bestimmt werden. Das ist also ihre Idee von Freiheit: daß sie keine Ursache ihrer Handlungen kennen […]“;

in entsprechender Weise schreibt Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 430: „[…] Nach ihm [d.h. nach dem Dogmatiker; Anm. d. Verf.] ist alles, was in unserem Bewußtsein vorkommt, Produkt eines Dinges an sich, sonach auch unsere vermeinten Bestimmungen durch Freiheit, mit der Meinung selbst, daß wir frei seien. Diese Meinung wird durch die Einwirkung des Dinges in uns hervorgebracht, und die Bestimmungen, die wir von unserer Freiheit ableiten, werden gleichfalls dadurch hervorgebracht: nur wissen wir das nicht, darum schreiben wir sie keiner Ursache, also der Freiheit zu […]“

2 Daß der Dogmatiker in seiner Argumentation gegen den Idealisten stringent handelt, zeigt Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 430: „[…] er [d.h. der Dogmatiker; Anm. d. Verf.] verwandelt es [d.h. das vom Idealisten angenommene Faktum der freihandelnden Intelligenz als Erklärungsgrund der Erfahrung; Anm. d. Verf.] durch eine richtige Folgerung aus seinem Prinzip in Schein und Täuschung, und macht es dadurch untauglich zum Erklärungsgrunde eines anderen, da es in seiner Philosophie sich selbst nicht behaupten kann [Hervorhebungen durch d.Verf.] […]“;

daß der Dogmatismus konsequent zu Fatalismus und Materialismus führt, zeigt Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 430/431: „[…] Jeder konsequente Dogmatiker ist notwendig Fatalist; er leugnet nicht das Faktum des Bewußtseins, daß wir uns für frei halten; denn dies wäre vernunftwidrig; aber er erweist aus seinem Prinzip die Falschheit dieser Aussage. – Er leugnet die Selbständigkeit des Ich, auf welche der Idealist baut, gänzlich ab, und macht dasselbe lediglich zu einem Produkt der Dinge, zu einem Akzidens der Welt; der konsequente Dogmatiker ist notwendig auch Materialist […]“

3 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 431: „[…] Das Prinzip des Dogmatikers, das Ding an sich, ist nichts, und hat, wie der Verteidiger desselben selbst zugeben muß, keine Realität, außer diejenige, die es dadurch erhalten soll, daß nur aus ihm die Erfahrung sich erklären lasse. Diesen Beweis vernichtet der Idealist dadurch, daß er die Erfahrung auf andere Weise erklärt, also gerade dasjenige, worauf der Dogmatismus baut, ableugnet […]“

4 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 431

1 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 431: „[…] Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich die absolute Unverträglichkeit beider Systeme, indem das, was aus dem einen folgt, die Folgerungen aus dem zweiten aufhebt; sonach die notwendige Inkonsequenz ihrer Vermischung zu Einem. Allenthalben, wo so etwas versucht wird, passen die Glieder nicht aneinander, und es entsteht irgendwo eine ungeheure Lücke. Die Möglichkeit einer solchen Zusammensetzung, die einen stetigen Übergang von der Materie zum Geiste, oder umgekehrt, oder, was ganz dasselbe heißt, einen stetigen Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit, voraussetzt, müßte derjenige nachweisen, der das soeben Behauptete in Anspruch nehmen wollte […]“

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 432

3 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 434

1 Rohs: Johann Gottlieb Fichte, 67: „[…] Nur der Idealismus ermöglicht Freiheit; der Dogmatismus – Fichte denkt vor allem an den Spinozismus – führt dagegen zu totalem Determinismus. Wessen Interesse für Freiheit also unbezwingbar ist, der wird – bei dem theoretischen Gleichstand – Idealist; wem an Freiheit wenig liegt, der wird Dogmatiker. […] Doch bei dieser Art, die grundsätzliche Alternative zu entscheiden, bleibt es auch für Fichte nicht: «Aber der Dogmatismus ist gänzlich unfähig, zu erklären, was er zu erklären hat, und dies entscheidet über seine Untauglichkeit.« [435] Es gibt nämlich ein Argument, das gegen ihn durchschlägt: Eine kausale Einwirkung eines Dinges an sich auf ein Ich ist nicht zu verstehen. Diese Annahme »enthält bloße Worte, aber es ist in ihr kein Sinn» [438]. Fichte übernimmt hier ein grundsätzliches Argument, das auch schon Spinoza und Leibniz vorgebracht hatten. Jacobis Einwand hatte gelautet, daß die Annahme affizierender Dinge an sich mit der Kantischen Deutung von Kausalität unvereinbar sei. Nun geht es nicht mehr um diese Inkonsistenz, sondern darum, daß eine solche Kausalität grundsätzlich ohne Sinn ist. Deswegen bleibt nur die Möglichkeit, die Intelligenz aus sich zu erklären, der Idealismus also. Von einer theoretischen Neutralität zwischen Idealismus und Dogmatismus kann in Wahrheit keine Rede sein. «Die Intelligenz erhaltet ihr nicht, wenn ihr sie nicht als ein Erstes Absolutes hinzudenkt; deren Verbindung mit jenem von ihr unabhängigen Sein zu erklären, euch schwer ankommen möchte.» [437]“

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 433/434

3 Baumanns: Einleitung zur Meiner-Ausgabe , XIII-XIV „[…] Über den Charakter des philosophischen Systems […] wird mit der Entscheidung für die Selbständigkeit (Absolutheit) des Subjekts oder die Selbständigkeit (Absolutheit) des Objekts entschieden […] Diskussionspartner des Idealisten kann allerdings kein wirklich überzeugter Dogmatiker sein, und umgekehrt. Denn dies ist das Besondere an der Entscheidung über das philosophische System und an der zugehörigen Entscheidungsfindung: die

Entscheidung beruht auf persönlicher Entschiedenheit, und die Entscheidungsfindung bedeutet ein

rationales Sich-selbst-Verständigen über die vorgegebene Überzeugung. Der Idealist mag in abstrakt-wissenschaftlicher Manier mit der wesensbedingten Unableitbarkeit des Für-Seins (des Für-mich-Seins und des Für-sich-Seins) aus dem Sein und mit dem faktischen Freiheitsbewußtsein der Menschen gegen den Dogmatiker argumentieren, er bekräftigt mit solcher Argumentation nur sein ihm schon eigenes Überzeugtsein von der Selbständigkeit (Absolutheit) des Ich, hilft vielleicht auch anderen weiter auf dem Wege zu dieser Überzeugung; den Dogmatiker vermag er auf diese Weise nicht einmal anzusprechen. Denn dem Dogmatiker sagen Ausdrücke, wie Selbstbewußtsein und Freiheit, schlechterdings nichts. Er leugnet nicht das Bewußtsein der Selbständigkeit im Theoretischen und Praktischen, aber er bestreitet die Wahrheit dieses Bewußtseins, das er etwa auf ein unvollständiges Konditionierungs-Wissen zurückführt. […] Der Dogmatiker lebt im Glauben an seine Unselbständigkeit, so wie der Idealist vom Glauben an seine Selbständigkeit in Theorie und Praxis beherrscht ist. Eine Verständigung über menschliche Selbständigkeit und Freiheit erscheint zwischen dem Idealisten und dem Dogmatiker genauso wenig möglich, wie eine Verständigung über Gott zwischen dem Atheisten und dem Gottgläubigen. Als einzig mögliche Form der Verständigung kommt für den Idealisten wie für den Dogmatiker Selbstverständigung in Betracht: Aufklärung, Systematisierung und Rationalisierung ihres je eigenen Glaubens [Klammerstellung im Original; Anm.d.Verf.] […]“

1 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 434/435 [Kursivstellungen im Original; Anm.d.Verf.]

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 441

1 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 441: „[…] Die anzunehmenden Handelsgesetze der Intelligenz machen selbst, so gewiß sie in dem Einen Wesen der Intelligenz begründet sein sollen, ein System aus, das heißt: daß die Intelligenz unter dieser bestimmten Bedingung gerade so handelt, läßt sich weiter erklären, und daraus erklären, weil sie unter einer Bedingung überhaupt eine bestimmte Handelnsweise hat […]“

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 442

3 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (EEWL), 443

4 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre = ZEWL), 454

1 Hierzu Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 453/454: „[…] Die Verfertiger der Systeme, welche ich im Sinne habe, gehen von irgendeinem Begriffe aus; ganz unbesorgt, woher sie diesen selbst genommen, und woraus sie ihn zusammengesetzt haben, analysieren sie ihn, kombinieren ihn mit anderen, über deren Ursprung sie ebenso unbekümmert sind, und dieses ihr Räsonnement ist selbst ihre Philosophie. Ihre Philosophie besteht sonach in ihrem eigenen Denken […] Der Philosoph von der ersten Gattung […] verfertigt ein Kunstprodukt. Er rechnet im Objekte seiner Bearbeitung nur auf die Materie, nicht auf eine innere selbsttätige Kraft desselben. Ehe er an die Arbeit geht, muß diese innere Kraft schon getötet sein, außerdem würde sie seiner Bearbeitung widerstehen. Aus dieser toten Masse verfertigt er etwas lediglich durch seine eigene Kraft, und bloß nach seinem eigenen schon vorher entworfenen Begriffe […]“

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 454

3 Jener Begriff fällt in dieser Schrift erst an der Stelle Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 465

4 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 454

5 vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 463

1 Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele, 163

2 Daraus ergibt sich dann auch die Unmöglichkeit einer intellektuellen Anschauung des Subjekts seiner selbst in seinem Ansich, wie sie sich dargelegt findet in Kant: KrV, B 66- B 68

3 Der Ablehnung einer intellektuellen Anschauung als Vermögen des Menschen durch Kant widmet sich Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 471-472

1 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 463

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 465/466: „[…] Eine […] Aufgabe ist es, diese intellektuelle Anschauung, die hier als Faktum vorausgesetzt wird, ihrer Möglichkeit nach zu erklären, und sie durch diese Erklärung aus dem Systeme der gesamten Vernunft, gegen den Verdacht der Trüglichkeit, und Täuschung zu verteidigen, den sie durch ihren Widerstreit gegen die ebenfalls in der Vernunft gegründete dogmatische Denkart auf sich zieht; den Glauben an ihre Realität, von welchem der transzendentale Idealismus nach unserem eigenen ausdrücklichen Geständnisse allerdings ausgeht, durch etwas noch Höheres zu bewähren, und das Interesse selbst, auf welches er sich gründet, in der Vernunft nachzuweisen. Dies geschieht nur lediglich durch Aufweisung des Sittengesetzes in uns […]“ [Kursiv-stellungen im Original; Anm.d.Verf.]

3 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 466

4 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 466: „[…] In dem Bewußtsein dieses Gesetzes, welches doch wohl ohne Zweifel nicht ein aus etwas anderem gezogenes, sondern ein unmittelbares Bewußtsein ist, ist die Anschauung der Selbsttätigkeit und Freiheit begründet; ich werde mir durch mich selbst als etwas, das auf eine gewisse Weise tätig sein soll, gegeben, ich werde mir sonach durch mich selbst als tätig überhaupt gegeben; ich habe das Leben in mir selbst, und nehme es aus mir selbst. Nur durch dieses Medium des Sittengesetzes erblicke ich mich, und erblicke ich mich dadurch, so erblicke ich mich notwendig, als selbsttätig; und dadurch entsteht mir das ganz fremdartige Ingrediens der reellen Wirksamkeit meines Selbst in einem Bewußtsein, das außerdem nur das Bewußtsein einer Folge meiner Vorstellungen sein würde.“

1 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 466: „[…] Die intellektuelle Anschauung ist der einzige feste Standpunkt für alle Philosophie. Von ihm aus läßt sich alles, was im Bewußtsein vorkommt, erklären; aber auch nur von ihm aus. Ohne Selbstbewußtsein ist überhaupt kein Bewußtsein; das Selbstbewußtsein ist aber nur möglich auf die angezeigte Weise: ich bin nur tätig. Von ihm aus kann ich nicht weiter getrieben werden; meine Philosophie wird hier ganz unabhängig von aller Willkür, und ein Produkt der eisernen Notwendigkeit, inwiefern Notwendigkeit für die freie Vernunft stattfindet […]“

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 467

3 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 500

4 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 503

5 diese weniger naive als vielmehr vollkommen außerhalb der Lebens- und Selbsterfahrung des Menschen stehende Mißdeutung des Ich-Begriffs dürfte wohl niemals ernsthaft vertreten worden sein; wohl deshalb, weil das Mißverständnis in ihr so unleugbar naiv offenliegt, eröffnet Fichte mit ihr seine Argumentation in Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 500/501: „[…] wir haben nie eine andere Vorstellung,

1 nicht ohne Sarkasmus findet sich die Darstellung dieser irrtümlichen Ansicht in Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 501: „[…]«Wir für unsere Person können uns unter dem Begriffe des Ich nichts denken als unsere liebe Person, im Gegensatze mit anderen Personen», beichten andere Gegner der Wissenschaftslehre. « Ich bedeutet meine bestimmte Person, wie ich nun eben heiße, Cajus oder Sempronius, im Gegensatze mit allen anderen, die so nicht heißen. Abstrahiere ich nun, wie die Wissenschaftslehre verlangt, von dieser individuellen Persönlichkeit, so bleibt mir gar nichts übrig, was durch Ich zu charakterisieren wäre; ich könnte das Übrigbleibende ebensogut Es nennen [Kursivstellungen im Original; Anm.d.Verf.].» [Sollte die Wahl der verwendeten Namen, so wie es sich aufdrängt, tatsächlich eine Anspielung auf die Gracchen darstellen, so wäre diese Textstelle nicht nur als sarkastisch, sondern sogar als zynisch zu bezeichnen!; Anm.d.Verf.] […]“

2 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 501: „[…] zu allem, was im Bewußtsein vorkommende gedacht wird, muß das Ich notwendig hinzugedacht werden; in der Erklärung der Gemütsbestimmungen, darf nie vom Ich abstrahiert werden, oder, wie Kant es ausdrückt: alle meine Vorstellungen müssen begleitet sein können, als begleitet gedacht werden, von dem Ich denke […] daß, was wir auch denken mögen, wir in ihm das Denkende sind, daß sonach nie etwas unabhängig von uns vorkommen könne, sondern alles notwendig sich auf unser Denken beziehe […]“

3 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 505

4 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (Erstes Kapitel = EKWL), 527: „[…] es gibt ein Bewußtsein, in welchem das Subjektive und das Objektive gar nicht zu trennen, sondern absolut Eins, und ebendasselbe sind. Ein solches Bewußtsein sonach wäre es, dessen wir bedürften, um das Bewußtsein überhaupt zu erklären […]“;

dieses Zitat Fichtes greift bereits vor auf den Vorwurf scheinbarer Zirkelhaftigkeit des Selbstbewußtseins. Dieser Vorwurf bzw. ein entsprechend falsches Verständnis von Selbstbewußtsein ergibt sich aus der Fehldeutung dessen, was in diesem speziellen Zusammenhang „Identität“ besagen will. Vorerst genügt jedoch, wenn man sich Fichtes Formulierung „absolut Eins“ in Gedanken hält. Er macht am besten deutlich, daß Sprache hier notgedrungen mißverständlich werden muß, wenn man versucht, das Immer-schon-im- voraus-bei-sich-gewesensein des Bewußtseins mit einem einzigen Begriff, nämlich „Identität“, ausdrücken zu wollen.

1 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung (ZEWL), 506: „[…] Das reine Ich, welches zu denken sie [d.h. die Kritiker des Fichteschen Ich-Begriffs, also die Dogmatiker im weiteren Sinne; Anm.d.Verf.] sich des Unvermögens beschuldigen, liegt allem ihrem Denken zugrunde, und kommt in allem ihrem Denken vor, indem alles Denken nur dadurch zustande gebracht wird. Soweit geht alles mechanisch. Aber die soeben behauptete Notwendigkeit einzusehen, dieses Denken wieder zu denken, liegt nicht im Mechanismus; dazu bedarf es der Erhebung durch Freiheit zu einer ganz anderen Sphäre, in deren Besitz wir nicht unmittelbar durch unser Dasein versetzt werden. Wenn dieses Vermögen der Freiheit nicht schon da ist, und geübt ist, kann die Wissenschaftslehre nichts mit dem Menschen anfangen. Dieses Vermögen allein gibt die Prämissen, auf welche weiter aufgebaut wird [Kursivstellung im Original; Anm.d.Verf.] […]“

1 Inhaltlich sehr treffend und sprachlich anmutig vor Augen führt diesen Gedanken BAlthasar: Apokalypse der deutschen Seele, 160-161: „[…] Wenn nach Fichte alles nur durch seinen Gegensatz (als Hintergrund, wovon es sich abhebt) [Klammersetzung im Original; Anm.d.Verf.] bestimmbar ist, so auch Freiheit, Akt nur durch Gegensatz zu Sein. «Daß ich es bei dieser Veranlassung einmal ganz klar sage: darin besteht das Wesen des transzendentalen Idealismus überhaupt, […] daß der Begriff des Seins gar nicht als ein e r s t e r und u r s p r ü n g l i c h e r Begriff angesehen, sondern lediglich als ein a b g e l e i t e t e r, und zwar durch Gegensatz der Tätigkeit abgeleiteter, also nur als ein n e g a t i v e r Begriff betrachtet wird. Das einzig positive ist dem Idealisten die Freiheit; Sein ist ihm bloße Negation des ersteren.» [die zugehörige Fußnote im Original lautet: 2. Einl., I, 498-499; Anm.d.Verf.] Was nicht heißt, daß das Positive «Nicht-Sein», sondern daß das Objekt «Sein» genau dem Subjekt Verstand zugeordnet ist, wobei eben durch den Dualismus zwischen beiden das Tiefste verdeckt bleibt. In dieser Verlorenheit ins Sein sind wir auch zunächst und zumeist, und solche Entäußerung bleibt auch in der Basis aller höheren Findung, aber der Rückruf ins absolute Innen («Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgibt, ab, und in dein Inneres - ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling tut» [die zugehörige Fußnote im Original lautet: 1. Einl., I, 422; Anm.d.Verf.] [Klammersetzung im Original; Anm.d.Verf.]) –, dieser Ruf weckt aus der Ebene genauer Zuordnung zwischen Objekt und Subjekt, Ding und Denken auf in eine heilige Sphäre, wo der quellende Ursprung dieses Gegenüber sich begibt. […] Er hätte zwar mit der alten Philosophie von analogem Sein, verschiedenen Grundweisen des Seins reden können. Aber dann wäre das alles entscheidende Mehr-als- n u r -Sein unsichtbar geblieben. Wer im System der Analogie das

ihnen an der Beweglichkeit, und Fertigkeit des Geistes mangelt, im Denken eines Objekts nicht nur dieses

Objekt, sondern auch ihr Denken desselben, zugleich mit zu denken; wie denn diese ganze, ihnen notwendig unverständliche, Bemerkung nicht für sie gemacht wird, sondern für alle, die da sehen, und wachen. Es bleibt daher bei der oft ergangenen Versicherung; wir wollen jene nicht überzeugen, weil man das Unmögliche nicht wollen kann; wir wollen ihr System ihnen nicht widerlegen, weil wir das nicht können. Uns zwar können wir ihr System widerlegen; es ist zu widerlegen, und sehr leicht zu widerlegen; ein bloßer Hauch des freien Menschen stößt es um; nur ihnen können wir es nicht widerlegen. Wir schreiben, reden, lehren nicht für sie, denn es gibt schlechthin keinen Punkt, von welchem aus wir ihnen beikommen könnten. Sprechen wir von ihnen, so ist es nicht um ihrer, sondern um anderer willen, um vor ihren Irrtümern diese zu warnen, und sie von ihrem hohlen, und nichts bedeutenden Geschwätze abzulenken […] Sie sind […] von ihrer Seite in derselben Lage gegen uns; auch sie können uns nicht widerlegen, noch überzeugen, noch irgend etwas auf uns Berechnetes, und Wirkendes vorbringen. Das sagen wir selbst; und wir würden nicht im mindesten unwillig werden, wenn sie es uns sagten [Kursivstellungen im Original; Anm.d.Verf.] […]“

1 Gamm: Der Deutsche Idealismus, 48-49

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Johann Gottlieb Fichte: „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ von 1797/98
Untertitel
Der transzendentale Idealismus als einzige stringente Alternative zum Dogmatismus
Hochschule
Hochschule für Philosophie München
Veranstaltung
Hauptseminar: Hegels Lehre von der „absoluten Idee“
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
67
Katalognummer
V148364
ISBN (eBook)
9783640587179
ISBN (Buch)
9783640586615
Dateigröße
1350 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fichte, Gott, das Absolute, absolutes Sein, Gegenposition zum Spinozanischen System, Deutscher Idealismus, Intellektuelle Anschauung, Wahrheitsgeltung des Idealismus, Selbstsetzung des Ich, Dogmatismus, Spinozsimus, Nicht-Ich, These, Antithese, Antithesis, Synthese von Setzung und Entgegensetzung, Synthesis, transzendentaler Idealismus, vitiöse Zirkelhaftigkeit, Selbstbewußtsein, verkehrter Spinozismus, Spinonismus unter anderem negativem verkehrtem Vorzeichen, Isolation des Selbstbewußtseins, Bedingtheit des Selbstbewußtseins, menschliche Selbsterfahrung, Willensfreiheit, Freiheit, Personalität des Absoluten, Neukonzeption der Personalität, Thesis, Synthese, Subjektivismus
Arbeit zitieren
Oliver Härtl (Autor:in), 2005, Johann Gottlieb Fichte: „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ von 1797/98, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148364

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Johann Gottlieb Fichte: „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ von 1797/98



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden