Schwache Helden für starke Jungs - Mangelnde Identifikationsangebote der Kinder- und Jugendliteratur als Ursache der männlichen Leseabstinenz?


Examensarbeit, 2007

118 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Theoretische Grundlagen
1.1. Bestandsaufnahme aktueller Tendenzen der Lesesozialisation, des Leseverhaltens und der Lesefähigkeit von Jungen und Mädchen
1.1.1. PISA
1.1.1.1. Aufbau der Studie und Überblick über die Ergebnisse bei PISA
1.1.1.2. Geschlechtsspezifische Ergebnisse bei PISA
1.1.2. IGLU
1.1.2.1. Aufbau der Studie und Überblick über die Ergebnisse bei IGLU
1.1.2.2. Geschlechtsspezifische Ergebnisse bei IGLU
1.1.3. Weitere Erkenntnisse aus Studien und Untersuchungen
der geschlechtsspezifischen Forschung
1.1.3.1. Leseerfahrungen und Lesekarrieren –
eine Studie der Bertelsmann Stiftung
1.1.3.2. Repräsentative Trendbefragung des Instituts für angewandte Kindermedienforschung
1.1.4. Fazit der Bestandsaufnahme
1.2. Die W-Fragen des Lesens.Geschlechtsspezifische Lektürepräferenzen, Lesemotivation, Lesequantität und Leseumstände
1.2.1. Einige Definitionen zur geschlechtsspezifischen Lesesozialisation
1.2.2. Typische Mädchenlektüre – Typische Jungenlektüre?
1.2.2.1. Im Kindesalter (Primarstufe)
1.2.2.2. Im Jugendalter (Sekundarstufe)
1.2.2.3. Die literarische Pubertät
1.2.2.4. Im Erwachsenenalter (nach der Schulzeit)
1.2.2.5. Fazit über geschlechtsspezifische Unterschiede
im Leseverhalten aller Altersstufen
1.2.3. Theoretische Erklärungsansätze
1.2.3.1. Erklärungsversuche aus der Psychologie, Linguistik und Sozialisationstheorie
1.2.3.2. Erklärungsversuche aus der lesebiographischen, psychoanalytischen und Gender- Forschung
1.2.3.3. Fazit der theoretischen Erklärungsansätze
1.3. Literarische Figuren – Empathie – Identifikation
1.3.1. Annäherung an die Begrifflichkeiten
1.3.2. Literarische Figuren und Geschlechterrollen in der Gesellschaft

2. Empirische Datenerhebung
2.1. Erkenntnisinteresse und Hypothesenbildung
2.2. Untersuchungsmethode
2.3. Stichprobe
2.4. Planung der Datenerhebung
2.5. Gütekriterien einer empirischen Datenerhebung
2.5.1. Objektivität
2.5.2. Reliabilität
2.5.3. Validität
2.6. Der Fragebogen im Detail
2.7. Durchführung der Datenerhebung
2.8. Räumliche und zeitliche Bedingungen der Datenerhebung
2.9. Auswertungsmethode
2.10. Ergebnisse und Interpretation
2.10.1. Fragekomplex I
2.10.2. Fragekomplex II
2.10.3. Fragekomplex III
2.11. Zusammenfassung und Fazit der Ergebnisse

3. Konsequenzen für die Lektüreauswahl im Deutschunterricht
3.1. Geeignete Bücher für Jungen und Mädchen im Literaturunterricht
3.2. Abgleich des Angebots der Verlage für Schullektüren mit der Nachfrage der untersuchten Kinder

4. Schluss, Fazit und Ausblick

5. Literatur
5.1. Sekundärliteratur
5.2. Zusätzliche Internetquellen

6. Anhang
6.1. Elternbrief
6.2. Fragebogen
6.3. Vollständige Auflistungen der Datenauswertung

0. Einleitung

Durchforstet man Überschriften und Schlagzeilen im Radio, Fernsehen und Internet, so stößt man auf Äußerungen wie diese: „Lesen ist für Jungen Mädchenkram“[1], „Jungen lesen nur, wenn sie müssen“[2] oder auch „Lesen ist weiblich“[3]. Fraglich erscheint nur in wie weit diese tatsächlich ins Schwarze treffen. Denn auch wenn mittlerweile nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wird, dass Jungen heute insgesamt weniger und auch weniger gut lesen als Mädchen, so ist noch nicht eindeutig geklärt, welche Ursachen hierfür verantwortlich sind und ob dieser Zustand unumgänglich ist. Dementsprechend möchte ich mich in dieser wissenschaftlichen Arbeit der Frage nach den Ursachen der geringeren Lesemotivation und Lesekompetenz der Jungen widmen. Im Fokus meines Interesses steht hierbei neben den geschlechtsspezifischen Themen- und Genrepräferenzen vor allem die These, dass mangelnde Identifikationsangebote der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur es den Jungen erschweren, Empathiefähigkeit aufzubauen und dadurch zu einem lustvollen Lesegenuss zu gelangen.

In einem ersten, theoretischen, Teil dieser Arbeit möchte ich mich nach einer Bestandsaufnahme der aktuellen Tendenzen des geschlechtsspezifischen Leseverhaltens und Lesevermögens, die aus den Ergebnissen der PISA Studie, der IGLU-Studie und weiteren relevanten Studien gewonnen werden soll, mit der typischen von Jungen und Mädchen bevorzugten Literatur beschäftigen. Weiterhin sollen Ursachen, Erklärungsansätze, Motive, soziologische und psychologische Aspekte des Leseverhaltens aus der Literatur zusammengetragen werden. Auch die Rolle und vor allem die Einflussmöglichkeiten des Deutschlehrers sollen hierbei nicht außer Acht gelassen werden.

In einem zweiten, empirischen, Teil werde ich mich dann der, von mir mittels einer schriftlichen Befragung durchgeführten, Datenerhebung widmen. Neben der Planung, Umsetzung und Auswertung der Datenerhebung, sollen in diesem Zusammenhang vor allem die gewonnenen empirischen Erkenntnisse und deren Interpretation im Mittelpunkt stehen.

Schließlich möchte ich, wenn möglich, Konsequenzen für den Deutschunterricht erarbeiten, deren Ziel es sein soll, sowohl den Jungen als auch den Mädchen so gut wie möglich gerecht zu werden und sie an die Literatur heranzuführen.

1. Theoretische Grundlagen

1.1. Bestandsaufnahme aktueller Tendenzen der Lesesozialisation, des Leseverhaltens und der Lesefähigkeit von Jungen und Mädchen

Um einen Überblick über die statistischen Befunde zur Lesehäufigkeit und Lesekompetenz von Jungen und Mädchen zu erhalten, sollen nun zunächst verschiedene Studien zu dieser Thematik betrachtet werden. Hierbei sollen jedoch weniger die Studien als Ganzes umfassend beschrieben werden, sondern es soll eher ein möglichst prägnanter, kurzer Überblick über die Studien gegeben werden, um dann den Fokus auf die für diese Arbeit interessanten, geschlechtsspezifischen Erkenntnisse zu legen.

1.1.1. PISA

1.1.1.1. Aufbau der Studie und Überblick über die Ergebnisse bei PISA

Die Abkürzung PISA steht für ‚Programme for International Student Assessment' und bezeichnet eine Studie oder ein Projekt, welche/s versucht, schulische Leistungen im internationalen Vergleich zu erfassen. Getestet werden jeweils etwa 23 per Zufall ausgewählte Schüler und Schülerinnen pro Schule im Alter von 15 Jahren.

Träger dieser Studie ist, in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und einem unabhängigen Datenzentrum, die ‚Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung’ – die OECD. Zur Durchführung werden außerdem Studenten/Innen, Lehrer/Innen und Schulkoordinatoren/Innen eingespannt. Ziel der Studie ist es, mit Hilfe der Testergebnisse Schlüsse zur Verbesserung der Bildung, der Schule und des Unterrichts der einzelnen Länder ziehen zu können. Insgesamt werden bei PISA grundsätzlich die drei Bereiche Lesekompetenz, mathematische Grundbildung und naturwissenschaftliche Grundbildung erfasst, wobei im dreijährigen Wechsel immer unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. Für diese Arbeit sind natürlich besonders die Ergebnisse im Bereich Lesekompetenz von besonderer Relevanz.[4]

Bei einer näheren Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der PISA-Studie ist allerdings zu beachten, wie Lesekompetenz hier definiert wird. PISA versteht unter Lesekompetenz

„die Fähigkeit, geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können, sowie in der Lage zu sein, Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen.“[5]

Weiterhin wird die Lesekompetenz in drei relevante Aspekte unterteilt, die auch getrennt in den Ergebnissen verzeichnet sind. Diese Aspekte sind neben dem Ermitteln von Informationen und dem textbezogenen Interpretieren, das Reflektieren und Bewerten der Texte und des persönlichen Umgangs mit den Texten.

Durch diese Definition soll ausgedrückt werden, dass das Lesen nicht nur ein Hilfsmittel für das Erreichen persönlicher Ziele ist, sondern zusätzlich Bedingung für die Weiterentwicklung unterschiedlichster Fähigkeiten und für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.[6]

Zur Beurteilung der vorhandenen Kompetenzen der Schüler/Innen im Bereich Lesen werden die Ergebnisse fünf verschiedenen Kompetenzstufen zugeordnet. Die unterschiedlichen Kompetenzstufen werden durch die Bewältigung verschiedener Schwierigkeitsgrade erreicht. Hierbei hängt die Schwierigkeit von der Komplexität, Vertrautheit und Deutlichkeit des Textes sowie von der Deutlichkeit gegebener Hinweise oder aber von auffälligen Elementen, die der Ablenkung vom Wesentlichen dienen, ab. Innerhalb dieser Rangordnung der Kompetenzstufen ist die fünfte Stufe – die Expertenstufe – die höchste, während die niedrigste Kompetenzstufe Elementarstufe genannt wird.[7]

Bevor ich nun näher auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Ergebnissen eingehe, sollen kurz die allgemeinen Ergebnisse der PISA-Studie für Deutschland im Bereich Lesekompetenz dargelegt werden.

Fast zehn Prozent der deutschen Jugendlichen liegen mit ihren Leistungen unterhalb der untersten Kompetenzstufe und werden somit als Risikogruppe bezeichnet. Weitere 13 Prozent erreichen gerade einmal die elementare Kompetenzstufe, was im internationalen Vergleich ein verhältnismäßig großer Anteil ist. Besonders ausgeprägt sind die Schwächen, bei Aufgaben, bei denen das Reflektieren und Bewerten eines Textes gefordert wird.

Dafür fällt der Anteil der deutschen Jugendlichen im Bereich der Leistungsstärksten verhältnismäßig gering aus, da nur neun Prozent der Schüler/Innen die fünfte Kompetenzstufe erreichen. Somit liegt der Anteil deutscher Leistungsträger gerade einmal knapp unter dem Mittelwert der OECD-Mitgliedsstaaten.[8]

Zusätzlich zu den insgesamt eher durchschnittlichen bis schlechten Leistungen tritt in Deutschland weiterhin die Besonderheit auf, dass eine relativ große Streuung der Ergebnisse vorliegt, was darauf hindeutet, dass innerhalb des Schulsystems bestimmte Gruppen von Schülern/Innen im Vergleich zu anderen sehr viel geringere Erfolgschancen haben – also benachteiligt werden. Im Großen und Ganzen ist in der Gruppe mit schwacher Lesekompetenz der größte Anteil männlich und Besucher der niedrigeren Bildungsgänge (Hauptschule und Sonderschule); weiterhin ist festzuhalten, dass ein überproportionaler Anteil dieser Gruppe einen Migrationshintergrund aufweist.

Während in manchen Staaten eine eher geringe Korrelation zwischen freiwilliger Lesehäufigkeit zum Vergnügen und der Leseleistung der Jugendlichen besteht, gibt es offenbar in anderen Staaten, unter anderem auch in Deutschland, einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß freiwilligen Lesens und den schulischen Leseerfolgen. So lesen in Deutschland 42 Prozent der Jugendlichen nicht zum Vergnügen, was von keinem anderen Staat in ähnlichem Ausmaß behauptet werden könnte und auf eine negative Einstellung deutscher Schüler/Innen gegenüber dem Lesen schließen lässt.[9]

1.1.1.2. Geschlechtsspezifische Ergebnisse bei PISA

Die größten und konsistentesten Geschlechtsunterschiede sind in dem hier betrachteten Bereich der Lesekompetenzen zu beobachten, da in allen OECD-Mitgliedsstaaten die Mädchen signifikant bessere Testergebnisse bei der Lesekompetenz erreichen als die Jungen. Dennoch gibt es auch Staaten, in denen die Differenzen zwischen männlichen und weiblichen jungen Lesern geringer ausfallen als in anderen. Oftmals sind geschlechtsspezifische Unterschiede besonders prägnant, wenn in einem Staat insgesamt sehr hohe Gesamtleistungen vorliegen. Aber auch in eher durchschnittlichen Staaten liegen zum Teil große Unterschiede zwischen den Geschlechtern vor. Ein weiteres auffälliges Muster ist zu beobachten, wenn Jungen zwar nur einen geringen Nachteil in der Lesekompetenz gegenüber Mädchen haben, aber gleichzeitig im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich einen großen Vorsprung haben, da diese Konstellation auf eine allgemein stärkere Förderung der Jungen hinweist.

An den unterschiedlichen Ausprägungen der Geschlechterdifferenzen im internationalen Vergleich kann man erkennen, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede in irgendeiner Form durch das Schul- und Erziehungssystem des jeweiligen Staats bedingt sein müssen.[10]

Der Geschlechterunterschied in Deutschland liegt knapp über dem OECD-Mittelwert, was bedeutet, dass die Leistungen der deutschen Mädchen im Bereich Lesen insgesamt knapp eine halbe Kompetenzstufe über denen der Jungen liegen.

Wirft man einen genaueren Blick auf Stärken und Schwächen der Jungen und Mädchen im Bereich Lesen, so erkennt man, dass der Vorsprung der Mädchen bei Aufgaben, bei denen lediglich das Ermitteln von Informationen aus einem Text gefordert wird, noch relativ gering ausfällt. Der Geschlechterunterschied scheint hingegen zuzunehmen, sobald eine kritische Auseinandersetzung mit und eine Bewertung von Texten hinzukommen. Erst bei diesen komplexeren Aufgaben ergibt sich der Vorsprung von etwa zwei Dritteln einer Kompetenzstufe der Mädchen.

Doch die Fähigkeiten der männlichen Leser scheinen nicht nur von der Art der gestellten Aufgabe, sondern vielmehr auch von der Art und Beschaffenheit des Textes abzuhängen. So fällt auf, dass der Vorsprung der Mädchen bei narrativen, kontinuierlichen Texten wesentlich größer ausfällt als bei nicht-kontinuierlichen Texten wie z.B. bei Tabellen, Sach- und Gebrauchstexten. So sind Geschlechterdifferenzen bei Diagrammen, Karten oder schematischen Zeichnungen nur noch kaum bemerkbar.[11]

1.1.2. IGLU

1.1.2.1. Aufbau der Studie und Überblick über die Ergebnisse bei IGLU

Die ‚Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung' IGLU wird im internationalen Raum mit dem Akronym PIRLS bezeichnet, welches für 'Progress in International Reading Literacy Study'[12] steht. Durchgeführt wird die Untersuchung von der ‚International Association for the Evaluation of Educational Achievement' (IEA). Während die PISA-Studie die Kompetenzen Jugendlicher im Alter von 15 Jahren untersucht, befasst sich die IGLU mit den Lesekompetenzen von Kindern am Ende der Grundschulzeit. Im Gegensatz zu PISA beschränkt man sich bei der IGLU auf einen Lernbereich, nämlich auf das Leseverständnis.

Auch IGLU liegt ein Konzept der Lesekompetenz zu Grunde, das sich aus verschiedenen Aspekten zusammensetzt. Grundsätzlich besteht die Lesekompetenz aus den beiden Pfeilern Nutzung von textimmanentem Wissen und Nutzung von externem Wissen. Insgesamt werden schließlich vier Kompetenzbereiche innerhalb der Lesekompetenz unterschieden: Informationenerkennung und -wiedergabe, einfache und komplexe Schlussfolgerungen, Begründungen und Interpretationen und letztlich Prüfung und Bewertung von Inhalten.

Weiterhin wird beim Lesebegriff in zwei Leseintentionen unterschieden. Diese sind das Lesen literarischer Texte einerseits und die Ermittlung und der Gebrauch von Informationen andererseits.

Ähnlich wie bei PISA wird zur Ermittlung der Ergebnisse in verschiedene Kompetenzstufen unterteilt. Die höchste zu erreichende Stufe ist die vierte, bei der die Fähigkeit vorhanden sein sollte, mehrere Textpassagen sinnvoll miteinander in Beziehung zu setzen. Die niedrigste Stufe ist diejenige, die lediglich das Erkennen gesuchter Wörter innerhalb eines Textes voraussetzt.[13]

Die Leistungen deutscher Schüler/Innen im Bereich Leseverständnis am Ende der vierten Jahrgangsstufe schneiden im internationalen Vergleich besser ab, als die der von PISA getesteten Fünfzehnjährigen. So weichen die internationalen Vergleichsländer hier mit einer größeren Spanne vom deutschen Mittelwert ins Negative ab als ins Positive. Die Kinder erreichen also im Leseverständnis ein Kompetenzniveau, welches zum einen qualitativ mit den Nachbarstaaten vergleichbar ist und zum anderen quantitativ für einen relativ großen Teil der Schülerschaft erreicht werden kann. Auch so genannte Risikokinder sind nur in einem sehr geringen Ausmaß vorhanden.[14]

1.1.2.2. Geschlechtsspezifische Ergebnisse bei IGLU

Den Ergebnissen von IGLU ist zu entnehmen, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen schon bei ihrer Grundhaltung gegenüber der Grundschule beginnen. Es stellt sich heraus, dass Mädchen signifikant häufiger positiven Aussagen über das Schulleben wie „Ich fühle mich sicher, wenn ich in der Schule bin.“, „Ich bin gern in der Schule.“, „Ich finde, dass sich die Lehrer an meiner Schule um mich kümmern.“ und „Ich finde, die Lehrer in meiner Schule wollen, dass die Schüler fleißig sind.“ zustimmen. Auch die Zeugnisnoten im Fach Deutsch aus dem Zeugnis untermauern den größeren Erfolg der weiblichen Schüler, da Mädchen wesentlich häufiger Einsen und Zweien (mehr als doppelt so viele Einsen!) erhalten als Jungen.[15]

Doch auch bei den lesespezifischen Untersuchungsfragen sind die Geschlechterunterschiede klar ersichtlich. Denn insgesamt verbringen Mädchen signifikant einen größeren Anteil ihrer Freizeit mit dem Lesen zum Vergnügen als Jungen. Auch die Auswahl der gelesenen Texte unterscheidet sich, da Jungen signifikant häufiger Comics, Anleitungen und Gebrauchsanweisungen oder auch Fernsehuntertitel lesen, während Mädchen häufiger zu Geschichten und Romanen greifen. Gleich beliebt scheinen hier erklärende Bücher, Zeitschriften und Zeitungen zu sein.[16]

Ebenfalls interessant für den Bereich Lesekompetenz/Leseverständnis ist die Frage, wie häufig im privaten Bereich selbst geschrieben wird. Auch hier ergibt sich, dass Mädchen sehr viel häufiger Briefe an Freunde, Bekannte oder Verwandte schreiben; so geben mehr als vier mal so viele Mädchen wie Jungen an, dies fast täglich zu tun, während mehr als drei mal so viele Jungen wie Mädchen angeben, nie Briefe zu schreiben.[17]

Doch auch, wenn in allen zum Thema Lesen untersuchten, Bereichen signifikante Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen vorliegen, ist zu erwähnen, dass diese in den Bundesländern vorliegenden Differenzen immer noch unter dem Mittelwert der Staaten der Vergleichsgruppe liegen. Dennoch soll dies natürlich nicht heißen, dass im Bezug auf Geschlechterunterschiede in den Grundschulen Deutschlands kein Handlungsbedarf mehr bestünde.[18]

1.1.3. Weitere Erkenntnisse aus Studien und Untersuchungen der geschlechtsspezifischen Forschung

Während PISA und IGLU sich vorrangig mit der Lesehäufigkeit/-intensität in Verbindung mit der Lesekompetenz auseinandersetzen, sollte weiterhin ein Blick auf Untersuchungen, die auf die Lektürepräferenzen und das Leseverhalten der Kinder und Jugendlichen eingehen, geworfen werden. Besonders interessant erscheint hierbei die Frage nach dem Interesse der männlichen Leser, da diese, gemessen an ihren Leseleistungen, offenbar etwas zu kurz zu kommen scheinen.

1.1.3.1. Leseerfahrungen und Lesekarrieren – eine Studie der Bertelsmann Stiftung

Die etwas ältere Studie der Bertelsmann Stiftung von 1993 hat sich zum Ziel gesetzt, die Lektüre Jugendlicher sowohl quantitativ als auch qualitativ zu erfassen. Zusätzlich zu diesem Erkenntnisinteresse enthält die Studie auch einen Lesekompetenztest, der Aufschlüsse über Zusammenhänge zwischen Lektürepraxis und Lesekompetenz ermöglichen soll. Lesekompetenz wird im Zusammenhang dieser Studie definiert als „Fähigkeit, einem Text die wesentlichen Informationen zu entnehmen“[19]. Obwohl diese Untersuchung neben geschlechtsspezifischen Unterschieden ebenso Differenzen je nach Bildungsgang und Altersgruppe aufzeigt, möchte ich mich auch hier lediglich auf die Geschlechterunterschiede konzentrieren.[20]

Neben einer breiten Streuung der Ergebnisse des Lesekompetenztests überrascht es, dass keine signifikanten Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen Jungen und Mädchen vorzuliegen scheinen. Der Erfolg bei dem benannten Test scheint vielmehr von der freiwilligen Lesehäufigkeit und dem Alter der Jugendlichen abzuhängen.[21] Betrachtet man allerdings die zuvor dargelegte Definition von Lesekompetenz, die hier herangezogen wird, so verwundert es nicht wirklich, dass keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Lesekompetenz entdeckt werden. Die signifikanten Vorteile der Mädchen gegenüber den Jungen zeigen sich nämlich auch in anderen Studien wie PISA vor allem bei einer kritischen Auseinandersetzung mit Texten und bei Bewertungen und Interpretationen, während bei der reinen Entnahme von Informationen kaum geschlechtsspezifische Unterschiede auszumachen sind.

Bei den Ergebnissen im Bezug auf die Präferenzen für Lesestoffe zeigt sich, dass Jungen etwas häufiger Zeitungen lesen und bei der Befragung auch mehr gelesene Zeitungstitel angeben können. Eine größere geschlechtsspezifische Differenz ist bei Zeitschriften und Magazinen zu erkennen, da Mädchen hier vorrangig Jugend- und Musikzeitschriften oder auch Mode-/Frauenzeitschriften lesen, während Jungen Sport-, Auto- und Computerzeitschriften bevorzugen.

Auch bei Büchern sind signifikante Tendenzen auszumachen, da Jungen sich recht homogen für Abenteuer- und Sachbücher interessieren, während Mädchen einem größeren Spektrum an Genres zugetan zu sein scheinen. Die weiblichen Leser verteilen sich relativ gleichmäßig auf die sechs, in der Erhebung vorhandenen, literarischen Gattungen Abenteuer, Problembuch, Roman, Sachbuch, Literatur und Kinder-/Jugendbuch. Eine besondere Präferenz der Mädchen stellt das realistische Problembuch dar.[22]

Ebenfalls auszumachen sind einige geschlechtsspezifische Unterschiede bei den von Jugendlichen erwünschten Bucheigenschaften. Am wichtigsten scheint es Jungen und Mädchen gleichermaßen zu sein, dass ein Buch spannend und unterhaltend ist. Ein Geschlechterunterschied lässt sich jedoch bei der Kategorie ‚Problem-/ Realitätsbezug’ ausmachen, da diesen speziell Mädchen bevorzugen und als Fenster zur realen Welt nutzen. Ebenso von Mädchen bevorzugt wird Lektüre mit einem sozio-emotionalen Faktor, der ermöglicht, dass man sich mit einer Figur identifizieren kann. Anspruchslose, einfache Lektüre sowie auch kreative, lustige und fernseh- und actionorientierte Lektüre werden hingegen typischerweise von Jungen bevorzugt.[23]

1.1.3.2. Repräsentative Trendbefragung des Instituts für angewandte Kindermedienforschung

Da beinahe alle jüngeren Untersuchungen zur Lesesozialisation übereinstimmend zeigen, dass weibliche Leser im Durchschnitt mehr, erfolgreicher und häufiger lesen als männliche und dies auch noch mit größerer Lust und emotionaler Beteiligung tun, erscheint es interessant, sich neben den Vergleichsstudien auch einmal Untersuchungen zu widmen, die sich ausschließlich mit dem Leseverhalten von Jungen beschäftigen.

Eine solche Untersuchung ist die repräsentative Trendbefragung des ‚Instituts für angewandte Kindermedienforschung’ (IfaK), welche mit einer Stichprobe von insgesamt 153 Jungen in Bibliotheken und 219 Jungen aus verschiedenen Schulen im Alter von sechs bis 18 Jahren das Leseverhalten von Jungen ermittelt. Die einbezogenen Jungen wurden in Einzelinterviews oder mittels eines Fragebogens befragt. Diese Untersuchung zielt vor allem auf Erkenntnisse über die Leseinteressen und Lektüregratifikationen lesender Jungen ab.[24]

Im Gegensatz zu anderen Untersuchungen fällt hier auf, dass die überwiegende Mehrheit der lesenden Jungen nicht etwa Sachtexte sondern narrative Texte bevorzugt. Besonders ausschlaggebend für die Lektüreauswahl erscheint dabei der Spannungsfaktor eines Buches. So kommt es, dass insgesamt Krimi, Fantasy und Grusel die obersten Ränge der Beliebtheitsskala einnehmen. Überraschend erscheint auch, dass Jungen sich kaum für tradierte Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur entscheiden und dass schon in der Alterstufe von zehn bis 13 Jahren eine Orientierung an der Erwachsenenliteratur stattfindet, die sich dann bei den Vierzehn- bis Achtzehnjährigen ausweitet. Ein nicht zu vernachlässigender Anteil von einem Viertel dieser Altersklasse bleibt allerdings der seriellen Kinderunterhaltung treu, was darauf verweist, dass sich in dieser Gruppe Lesebedürfnisse und Lesekompetenzen kaum weiterentwickeln.[25]

Die Motivation zum Lesen entsteht nicht, wie erwartet, um sich Informationen zu beschaffen; sondern das Lesen ist fast ausschließlich unterhaltungs- und erlebnisorientiert. Die Anregung der Phantasie und die Erschließung eines Plots im selbst gewählten Tempo scheinen für die Jungen enorme Anreize zu bieten. Die Ansprache von Emotionen und das Verständnis für Gefühle dritter scheinen für Jungen im Gegensatz zu Mädchen keinerlei Bedeutung zu haben; oder dies wird zumindest nicht zugegeben.

Verglichen mit anderen Freizeitaktivitäten muss das Lesen zum Vergnügen hinter Aktivitäten mit Gleichaltrigen und Sport zurückstehen. Außerdem wird laut IfaK mit zunehmendem Alter das Spielen mit dem Computer zum beliebtesten Hobby der Jungen.[26]

1.1.4. Fazit der Bestandsaufnahme

Alle betrachteten Studien, die der Variable Geschlecht Aufmerksamkeit widmen, stimmen im Groben und Ganzen in ihren Erkenntnissen überein und geringere Abweichungen konnten erklärt werden. Auch weitere Forschungserkenntnisse wie die der Untersuchung „Leseverhalten in der Erlebnisgesellschaft“[27] von Bischof und Heidtmann, die der empirischen Untersuchung „Schullektüre, Freizeitlektüre und private Medienpraxis von Jugendlichen“[28] von Franz und anderen oder auch die der Schülerbefragung „Lesegewohnheiten – Lesebarrieren“[29] von Harmgarth weisen in die selbe Richtung.

Interessant wäre es sicher auch, beispielsweise neuere Ergebnisse der PISA-Studie zu betrachten. Jedoch liegt der Forschungsschwerpunkt der aktuelleren PISA-Studie von 2003 auf den mathematischen Kompetenzen, weshalb leider kaum Erkenntnisse für die vorliegende Arbeit relevant sind.[30]

Die vorliegenden Unterschiede im Leseverhalten sind hauptsächlich in den drei Dimensionen Lesequantität/-intensität, Lesestoffe oder -weisen und Lesefreude/-neigung zu finden.

Insgesamt entsteht so ein Bild, das zeigt, dass Jungen, wie erwartet, weniger häufig, weniger gern, mit weniger emotionaler Beteiligung und weniger Erfolg lesen. Außerdem liegen die Leseinteressen der Jungen größtenteils, wenn man einmal vom aktuellen überdurchschnittlichen Harry-Potter-Konsum absieht, in anderen Bereichen als die der Mädchen. Interessanter Weise versuchen viele Forschende, einen Zusammenhang zwischen dem Leseverhalten und der Überflutung der kindlichen und jugendlichen Lebenswelt mit anderen Medien und vor allem mit Computerspielen herzustellen. Oder aber das geringere Leseinteresse der Jungen wird versucht, mit den Gattungen und thematischen Inhalten in Verbindung zu bringen. Eine Auseinandersetzung mit den vorhandenen Identifikationsangeboten für Jungen in der Literatur und deren möglichen Auswirkungen auf das männliche Leseinteresse hat bisher jedoch kaum stattgefunden.

1.2. Die W-Fragen des Lesens. Geschlechtsspezifische Lektürepräferenzen, Lesemotivation, Lesequantität und Leseumstände

Wer liest was, wann, wo, wie lange und warum? Diese Fragen gilt es, genauer aufzuschlüsseln. Da in der vorangegangenen Bestandsaufnahme die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen dargelegt wurden, soll nun im Folgenden eine genaue Systematik des Leseverhaltens herausgearbeitet werden. Weiterhin sollen geschlechtsspezifische Ursachen, Motive und Vorlieben mit Hilfe soziologischer und psychologischer Erklärungsversuche aufgedeckt werden.

Wenn man sich systematisch und wissenschaftlich mit geschlechtsspezifischen Unterschieden im Bereich Lesen befassen möchte, sind jedoch zunächst einige Definitionen von Nöten; diese werde ich im folgenden Kapitel darlegen

1.2.1. Einige Definitionen zur geschlechtsspezifischen Lesesozialisation.

Da die Lesesozialisation offensichtlich bei Jungen und Mädchen unterschiedlich verläuft oder zumindest zu unterschiedlichen Resultaten führt und somit im Interesse der vorliegenden Arbeit liegt, möchte ich diese zu Beginn definieren.

Um sich dem Begriff Lesesozialisation anzunähern, sollte zunächst ein Umweg über den Begriff der allgemeinen Sozialisation gegangen werden. Dieser bezeichnet „den wechselseitigen Prozess der Einwirkung der sozialen Umwelt auf das Individuum und der aktiven Verarbeitung dieser Einflüsse durch das Individuum“[31]. Die Sozialisation kann sowohl beiläufig als auch gezielt erfolgen. Ein Teilaspekt dieser Sozialisation ist die Erziehung, die ein Handeln, welches auf ein bestimmtes Erziehungsziel gerichtet und absichtlich pädagogisch ist, beschreibt.[32]

Der engere Begriff der Lesesozialisation oder auch literarischen Sozialisation bezeichnet nun gezielt den „dialektischen Verlauf der Herausbildung des Einzelnen in der Auseinandersetzung mit literarischen Medien und den Prozess seines Hineinwachsens in die Schrift- bzw. die literarische Kultur“[33]. Die Lesesozialisation ist somit ein Teil der gesamten ablaufenden Sozialisationsprozesse von Individuen und umfasst alle diejenigen Prozesse, „die auf individuell-biografischer Ebene zur Entwicklung von Fähigkeit, Motivation und Praxis führen, geschriebene Sprache im Medienangebot zu rezipieren“.[34]

Auch wenn die Begriffe 'Lesesozialisation' und 'literarische Sozialisation' eng beieinander zu liegen scheinen, besteht dennoch ein Unterschied zwischen ihnen, der sich vor allem in den „ihnen innewohnenden Orientierungen auf unterschiedliche Ziele“[35] manifestiert. Die literarische Sozialisation, welche die Kenntnis literarischer Traditionen, Rezeptions- und Genussfähigkeit einschließt, ist wegen der enormen Dominanz literarischer Texte in der Gesamtheit der Sozialisationsprozesse der eigentliche Kern der Lesesozialisation. Die Lesesozialisation umfasst aber weiterhin den Terminus 'reading literacy', die Lesekompetenz, welche auf eine schriftsprachliche Rezeptionsfähigkeit im weitesten Sinne abzielt und somit zumeist erst einmal nur die reine Verstehensleistung verschiedener linearer und nicht-linearer Texte bezeichnet.[36]

Auch wenn im Zusammenhang meines empirischen Erkenntnisinteresses vor allem die literarische Sozialisation eine Rolle spielt, da ich eine Korrelation zwischen Genussfähigkeit und Identifikationsangeboten der Hauptfiguren in der Literatur vermute, sollte die Lesekompetenz auch nicht vollkommen vernachlässigt werden. Zwar enthält meine Datenerhebung keinen Testteil zur Lesekompetenz, aber bei dem Versuch, den Unterschieden der männlichen und weiblichen Lesesozialisation auf den Grund zu gehen, stellt die Lesekompetenz in vielen Studien einen wichtigen Indikator dar.

Eine wichtige Rolle für die Untersuchung des Leseverhaltens spielen auch so genannte Lesestrategien, da je nachdem auf welche Art gelesen wird, auch unterschiedliche Chancen bestehen, dass dabei Lesegenuss entsteht oder aufrecht erhalten werden kann. Lesestrategien subsumieren alle Handlungen, „die Leser ausführen, wenn sie sich mit einem literarischen Text auseinandersetzen“[37]. Lesestrategien werden vor, bei oder nach dem eigentlichen Akt des Lesens verwendet oder eingesetzt und umfassen sowohl materiell manipulierende und soziale Handlungen als auch emotionale Reaktionen oder kognitive Operationen.[38]

Da der Geschlechtsvariablen offensichtlich eine große Bedeutung für die Entwicklung der Lesesozialisation zuzuschreiben ist, sollte auch die Frage, „Was bedeutet eigentlich geschlechtsspezifisch oder geschlechtstypisch?“ geklärt werden. Hierbei sei zunächst erwähnt, dass das Geschlecht „neben dem Alter das wichtigste Merkmal zur Charakterisierung einer Person“[39] darstellt und neben der sexuellen Orientierung auch Rollenerwartungen und Teile der Persönlichkeitsentwicklung – offenbar auch im Bereich Lesen – beeinflusst.

Das Geschlecht ist biologisch und sozial bestimmt, da zum einen die Natur bestimmt, ob ein Mensch männlich oder weiblich ist und zum anderen die Kultur festlegt, was es eigentlich bedeutet, innerhalb einer Gesellschaft männlichen oder weiblichen Geschlechts zu sein.

Theoretisch sollte ein Merkmal oder eine Eigenschaft/Verhaltensweise nur dann als 'geschlechtsspezifisch' bezeichnet werden, wenn diese ausschließlich bei einem der beiden Geschlechter auftritt. Merkmals- oder Verhaltensausprägungen, die hingegen lediglich statistisch häufiger auf ein Geschlecht zutreffen, sollten eher als 'geschlechtstypisch' bezeichnet werden. Weil diese feine Unterscheidung jedoch zumeist vermischt wird oder gar nicht bekannt ist, wird oftmals und auch in dieser Arbeit der Begriff 'geschlechtsspezifisch' so verwendet, dass er sowohl ausschließliche als auch unterschiedlich gewichtete Merkmale und Verhaltensweisen umfasst.[40]

1.2.2. Typische Mädchenlektüre – Typische Jungenlektüre?

Da ich denke, dass sowohl Leseverhalten als auch Lektüre- oder Genrepräferenzen und auch Lesestrategien von Jungen und Mädchen keinen unabänderlichen Ist-Zustand beschreiben, sondern – den Sozialisationsprozessen ähnelnd – einer Entwicklung unterliegen, möchte ich die Systematik des Leseverhaltens in drei Altersstufen untergliedern. Durch die differenzierte Betrachtung des Leseverhaltens im Kindesalter, im Jugendalter und im Erwachsenenalter kann am besten ermittelt werden, wo eventuelle Wendepunkte – wie die literarische Pubertät – auszumachen oder Auslöser geschlechtsspezifischer Unterschiede zu verorten sind. Es kann aber auch betrachtet werden, welche Muster fortlaufend durch die gesamte Lesesozialisation, bis hinein ins Erwachsenenalter konstant bleiben.

Ein interessanter Ausgangspunkt bei der Betrachtung der Lesesozialisation ist die Tatsache, dass bei Kindern im Vorschulalter keine signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede auftreten und sich Jungen und Mädchen bis zum Grundschulalter gleichermaßen mit Büchern beschäftigen. Die größere Affinität zu Printmedien der Mädchen und ihre daraus folgenden besseren Lesekompetenzen entstehen erst mit dem Schuleintritt.[41]

1.2.2.1. Im Kindesalter (Primarstufe)

Was die Leseaktivität der Kinder in der Primarstufe betrifft, ist, wie bereits erwähnt, heute durch viele Studien belegt, dass Mädchen mehr lesen als Jungen, sprich durch einen größeren Anteil in der Gruppe der stark aktiven Leser vertreten sind und nur einen geringen Prozentsatz der Wenigleser ausmachen.

Jedoch gibt es auch Beobachtungen bei der Untersuchung von Frühlesern, sprich Kindern, die schon lesend eingeschult werden, die zeigen, dass zwar mehr Mädchen als Jungen bereits beim Schuleintritt lesen können, dass die Jungen ihnen jedoch in Sachen Lesekompetenz und insbesondere Lesegeschwindigkeit voraus sind. Dieser Vorsprung der Jungen wird allerdings von Lehrern/Innen nicht wahrgenommen und es ist auch noch unklar, wodurch er entsteht. Eine Vermutung besagt, dass Mädchen oftmals zu Frühlesern werden, da sie das Verhalten älterer Geschwister oder der Eltern nachahmen, während Jungen, wenn sie denn zum Frühleser werden, dies aus Eigeninitiative tun. Es wird weiterhin geschlussfolgert, dass das extrinsische Motiv der Nachahmung der Mädchen schneller seinen Reiz verliert und das Interesse abflachen lässt, als das intrinsische Eigeninteresse der Jungen. Dies könnte die anfänglich besseren Kompetenzen der Jungen erklären.[42]

Das festgestellte, unterschiedliche Ausmaß der Leseaktivität – sprich Mädchen lesen mehr und länger als Jungen – zieht sich vom Zeitpunkt des größtenteils abgeschlossenen Schriftspracherwerbs in der zweiten Klasse bis zum Ende der Grundschulzeit hin und wird in allen Jahrgangsstufen etwa gleich stark konstatiert, was zu der Schlussfolgerung führt, dass die Leseaktivität wesentlich mehr in Abhängigkeit zum Geschlecht eine Kindes als zu dessen Lesealter steht.[43]

Es gibt allerdings auch Vertreter der Ansicht, dass die Differenzen zwischen Jungen und Mädchen bis zum Ende der Grundschulzeit eher in der Einstellung zum Lesen als in der rein quantitativen Betrachtung der Leseaktivität zu suchen seien. Demnach sei das Lesen für Mädchen zwar bedeutsamer als für Jungen und sie hätten mehr Interesse und Freude daran; jedoch beschäftigten sie sich in ihrer Freizeit nicht deutlich länger mit dem Lesen, als Jungen dies täten.[44]

Betrachtet man nun die Lektürepräferenzen der Kinder, fällt die dominante Position der phantastischen Literatur ins Auge. Sowohl Jungen als auch Mädchen bevorzugen die phantastische Literatur tendenziell gegenüber allen anderen Gattungen, so dass hier keine geschlechtsspezifischen Unterschiede nachzuweisen sind. Bilderbücher und realistische Literatur werden hingegen eindeutig von Mädchen bevorzugt, während Jungen sich eher für Kriminalgeschichten begeistern können. Ebenfalls großen Anklang bei beiden Geschlechtern finden nach einem neueren Trend elektronische erzählende Bücher.[45]

Doch nicht nur thematisch sind Geschlechterunterschiede auszumachen, sondern auch bei der bevorzugten Buchqualität. Während des gesamten Grundschulalters werden textdominante Bücher relativ häufig gewählt. Doch obwohl zu Beginn der Grundschulzeit bei den textdominanten Büchern kaum Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu finden sind, während im Bereich der bilddominanten Literatur Mädchen zu Bilderbüchern und Jungen zu Comics tendieren, ändert sich das zum Ende der Grundschulzeit. Hier fällt die geschlechtsspezifisch differenzielle Wahl extremer aus. Denn Mädchen wählen weitaus häufiger textdominante Bücher; hingegen überwiegt bei Jungen die Wahl von Serienliteratur und Comics. Kein geschlechtsspezifischer Unterschied ist im Bereich der Bilderbücher zu finden. Sowohl Jungen als auch Mädchen beachten Bilderbücher zum Ende der Grundschule hin kaum mehr, so dass man geradezu von einer „Bilderbuch-Abstinenz“[46] sprechen könnte.

Überraschenderweise scheinen die Geschlechterdifferenzen auf der Genre-Ebene von den Lektürepräferenzen der Jungen und Mädchen, innerhalb eines Genres, noch übertroffen zu werden, wobei solch gravierend verschiedene Interessen zu Tage gebracht werden, dass diese wahrscheinlich nur sehr schwierig in einem gemeinsam Deutschunterricht unter einen Hut gebracht werden können.[47]

So sind beispielsweise nur geringe Geschlechterunterschiede im Bereich der Sachtexte zu verzeichnen. Wirft man allerdings einen näheren Blick auf die favorisierten Themenbereiche, so stellt sich heraus, dass Jungen hauptsächlich Sachtexte zu den Themen Sport, Technik, Wissenschaft und Fahrzeuge bevorzugen, während Mädchen zu den Themen Tiere, Geographie, Geschichte und Menschen tendieren. Auch innerhalb des Genres Tiergeschichten driften die Interessen weit auseinander. Denn Tiergeschichte ist offenbar nicht gleich Tiergeschichte und während Mädchen überwiegend Pferdegeschichten den Vorzug geben, kann man Jungen eher mit Dinogeschichten begeistern.

Auch die sog. Fernsehbegleitliteratur wird eigentlich ausgewogen gern von Jungen und Mädchen gelesen. Der kleine entscheidende Unterschied liegt aber auch hier im Detail: Die von Jungen ausgewählte Fernsehbegleitliteratur besteht zumeist aus Comics zu diversen Trickfilmen; die der Mädchen hingegen setzt sich aus textdominanten Begleitheften oder Begleitbüchern zu unterschiedlichen Serien oder Spielfilmen zusammen.[48]

Für diese Arbeit scheint mir von großem Interesse zu sein, dass die, von Jungen bevorzugten, Comics fast durchgehend männliche Helden mit körperlicher oder geistiger Überlegenheit in verschiedensten Situationen aufweisen. Neben der sehr spannungsreichen und durch viele Bilder aufgelockerten Gestaltung der Comics könnten diese – für Jungen sehr positiven und einladenden – Identifikationsangebote ein Grund für das rege Interesse an Comics sein.[49]

Es gibt sogar Vertreter einer Position, die besagt, dass von zwei grundlegend voneinander zu trennenden Lesemotivationen auszugehen sei. Diese Vertreter differenzieren in eine Lesemotivation für das Lesen von Büchern und Geschichten und eine für das Lesen von Comics und Bildgeschichten. Da der schon in der zweiten Jahrgangsstufe nur schwache Zusammenhang der beiden Motivationsaspekte bis zum Ende der vierten Klasse vollkommen zerfällt, könnte man davon ausgehen, dass Comics eventuell überhaupt keine Art der Vorstufe vor dem Übergang zum Lesen textlastiger Literatur darstellen könnten und von daher vielleicht weniger hilfreich als gedacht sein könnten, um Jungen mehr an Bücher heranzuführen. Empirische Belege zu diesen Thesen fehlen allerdings bisher.[50]

Zur Leseaktivität und zu den Lektürepräferenzen im Grundschulalter lässt sich zusammenfassend folgendes festhalten:

„Mädchen finden schneller zum Buch, sie nutzen es häufiger und wählen dabei insgesamt früher als die Jungen auch anspruchsvolle Lesestoffe. […]In dieser Hinsicht muss die festgestellte schwächere Leseaktivität der Jungen als defizitäres Verhalten beurteilt werden.“[51]

Was der bisherige Forschungsstand allerdings nicht oder nur ungenügend hergibt, sind Erkenntnisse über die motivationalen Hintergründe des Lesens, die Funktionen, die das Lesen für Kinder im Grundschulalter einnimmt oder gar die Lektüregratifikationen von Jungen und Mädchen dieser Altersstufe im Vergleich. Dies ist eine Konsequenz aus den insgesamt noch zu großen „Defiziten bezüglich empirischer Studien im Grundschulalter“[52] und des mangelnden Einbezugs der expliziten Äußerungen von Kindern (im Gegensatz zu Erhebungen, die allein auf Expertenmeinungen basieren). Eine wissenschaftliche Zuwendung zu kindlichen Lesern und deren Interessens- und Bedürfnisstruktur kann daher bisher kaum geleistet werden.[53]

Gründe für diese noch mangelhafte Forschungslage könnten die Aufwändigkeit der Datenerhebung und Schwierigkeiten bei dieser sein. Denn einerseits sind Kinder im Grundschulalter kognitiv noch nicht in der Lage, ausführliche Fragebögen eigenständig auszufüllen; andererseits ist eine Datenerhebung in Einzelinterviews sehr zeit- und damit auch kostenaufwändig. Außerdem kommen bei allen Formen der Datenerhebung mit kleineren Kindern verschiedenste Probleme durch Faktoren wie dem des sprachlichen Ausdrucks oder dem der sog. ‚sozialen Wünschbarkeit' in der Auswertung hinzu, auf die ich im empirischen Teil dieser Arbeit noch näher eingehen werde.

1.2.2.2. Im Jugendalter (Sekundarstufe)

Wie sich bereits zeigte, gibt es schon zur Grundschulzeit geschlechtsspezifische Unterschiede im Leseverhalten. Doch „auch wenn bereits in der Kindheit Ansätze dieser Geschlechtstypik des Lesens beobachtet werden, mehren sich Hinweise darauf, dass deren eigentliche Ausprägung in der Jugendphase stattfindet“[54].

Offenbar sind im Kindsalter teilweise die Unterschiede zwischen den einzelnen Genres noch geringer ausgeprägt als die Interessenunterschiede innerhalb der entsprechenden Genres. Diese verschieden ausgeprägte Interessenfokussierung verschärft sich im Jugendalter noch, da nun die auffälligsten Differenzen zwischen Jungen und Mädchen im Bereich der Genrepräferenzen liegen und folgendes zeigen: Mädchen genießen überwiegend Fiktionales, meiden Sachtexte tendenziell und rezipieren diese lediglich, wenn sie sich einen direkten Nutzen davon versprechen oder keinen alternativen Weg der Informationsbeschaffung finden. Jungen konzentrieren ihre Aufmerksamkeit hingegen fast ausschließlich auf Sachtexte und kombinieren dies oftmals mit einer geradezu aggressiven Abwehrhaltung gegenüber fiktionaler Literatur.

Ähnlich wie in der Primarstufe greifen Mädchen weiterhin eher auf gefühlsbezogene Genres wie Mädchenbücher, Schicksals- und Liebesromane zurück, während Jungen häufiger Sachbücher bevorzugen. Beide Geschlechter finden Gefallen an Abenteuerromanen, humoristischen oder auch satirischen Lesestoffen.[55]

Zusätzlich vergrößern männliche Jugendliche tendenziell ihren Nachteil gegenüber den weiblichen im Bezug auf die Lesekompetenzen[56] ; sie lesen noch weniger und sind auch noch weniger motiviert.[57]

Im Vergleich zu Grundschülern ist es bei Jugendlichen der Sekundarstufe eher möglich, diese nicht nur nach ihrer Lieblingslektüre oder ihren Lieblingsthematiken in Büchern zu befragen, sondern auch ihre Beweggründe, die sie zum Lesen bringen, ihre Motive und Erwartungshaltungen zu erforschen.

Während ein Großteil der Mädchen Bücher mag oder bevorzugt, welche Gefühle ansprechen oder sich mit Beziehungskonstellationen verschiedenster Art beschäftigen, lehnen Jungen dies zumeist grundsätzlich ab.

Innerhalb des, von männlichen Jugendlichen bevorzugten, Genres der Sachbücher stellt sich ein signifikantes Interesse an computerbezogenen oder geschichtlichen Themen heraus. Doch noch mehr als besonders bevorzugte Items kristallisiert sich eine Übereinstimmung der Jungen über die gewünschte Art und Beschaffenheit eines Textes heraus: Positiv bewerten Jungen Texte, welche ökonomisch, kurz, knapp, objektiv und prägnant das Wesentliche beschreiben. Als einen pragmatischen Aspekt würde ich den bei ihnen vorhandenen Wunsch nach Abbildungen zur Erleichterung des Verständnisses einstufen.[58]

Eine interessante und zum Teil wenig beachtete Parallele bei aller Unterschiedlichkeit zwischen Jungen und Mädchen findet sich aber, wenn man die Lesemotivation beider Geschlechter betrachtet. Viele männliche Jugendliche lesen Sachtexte, weil sie dadurch ihre Allgemeinbildung verbessern oder zumindest als gebildeter Mensch auftreten und mitreden können wollen. Weitere Gründe für ihre Leseaktivität sind der Wille, durch die Texte Erfahrungen und Erkenntnisse für ihr eigenes Leben zu gewinnen oder aber, der Wunsch, durch die Aufnahme des, in der soziokulturellen Gesellschaft als typisch männlich eingestuften, Sachtextlesens dem männlichen Habitus zu entsprechen.

Allerdings empfinden es einige männliche junge Leser auch als besondere Gratifikation von Sachbüchern, dass diese ihnen den Spielraum für die Auslebung eigener Phantasien und Kreativität gewähren. Sie fühlen sich gewissermaßen in die, sie interessierenden, Welten ein und genießen dies auf tagträumerische Art und Weise. Die daraus entspringende Lesemotivation ähnelt doch sehr der, bei Mädchen festgestellten, Motivation im Zusammenhang mit der psychischen Funktion der Unterhaltungslektüre.[59]

Mädchen können zumeist vielschichtigere Gratifikationen ihrer gewählten Lektüre benennen. Wie bereits erwähnt, wird besonders die Unterhaltungsfunktion hervorgehoben, die auch für Jungen zunehmend zum wichtigsten Faktor avanciert. Doch für Mädchen spielen auch der Faktor des Abschaltens und Entspannens, die ästhetisch-reflexive und sozial-emotionale Ebene eine große Rolle. Auch die Identifikationsmöglichkeiten mit den Figuren scheinen für Mädchen einen größeren Stellenwert einzunehmen als für Jungen, für die oftmals eher die Informationsgewinnung im Vordergrund steht.[60]

Dennoch, im Bereich historischer Sachliteratur, scheinen gerade Jungen sich nicht nur über Helden aus früheren Tagen informieren zu wollen, sondern sie identifizieren sich mit diesen, auch wenn Sachliteratur üblicherweise nicht gerade auf die emotionale und empathische Anteilnahme des Lesers ausgerichtet ist.[61]

Dies erscheint mir sehr interessant im Zusammenhang mit der, von mir aufgestellten, These bezüglich der Jungen und der für sie angebotenen Identifikationsangebote in der Literatur. Denn offensichtlich ist es nicht so, dass Jungen grundsätzlich keine Identifikationsangebote wahrnehmen wollen; vielmehr scheinen sie dies eventuell auf eine andere Weise als Mädchen zu tun, oder aber die aktuelle Literatur bietet ihnen nicht die passende Auswahl.

Auch wenn von verschiedenen Autoren die Sachtextpräferenz der männlichen Jugendlichen hervorgehoben wird[62], zeigen sich Tendenzen, die darauf hinweisen, dass das informatorische Lesen bei den Jungen an Bedeutung verliert. Erzählende Literatur wird offensichtlich auch von Jungen immer stärker ausschließlich unterhaltungs- und erlebnisorientiert genutzt, auch wenn Jungen, im Gegensatz zu Mädchen, hierbei Bücher präferieren, welche erzähltechnisch und dramaturgisch mehr an Fernsehserien und Drehbüchern angelehnt sind und schnellere Spannung und Unterhaltung versprechen als eventuell langatmige Romane.[63]

Auf den Spuren der Problematik rund um geschlechtsspezifische Identifikationsangebote der Kinder- und Jugendliteratur sind auch die Erziehungsvorstellungen Erwachsener und das Selbstkonzept von Jungen und Mädchen nicht außer Acht zu lassen. Moderne Erziehungsideale streben eine Geschlechterrollenangleichung an, die sich von tradierten klassischen Geschlechterrollen bewusst abwendet. Jungen und Mädchen sollen nicht in vorgefertigte Geschlechterrollen gepresst und ihrer Individualität beraubt werden. Doch offenbar weigern sich Jungen, „die aufgeklärt-emanzipatorischen Erziehungsvorstellungen, die sich in der Kinderliteratur manifestieren, zu akzeptieren“[64]. Es zeigt sich, dass Jungen in ihren Verhaltensweisen, Vorlieben und Einstellungen lieber die Differenzen zu Mädchen betonen möchten, um den eigenen Status klar abzugrenzen; deshalb lehnen Jungen auch häufig andere Jungen ab, die sich nicht geschlechtsrollentypisch verhalten und wollen sich selbst nicht durch ‚mädchenhaftes’ Verhalten der Lächerlichkeit preisgeben. Mädchen hingegen tendieren eher zu einer Geschlechtsrollenangleichung und zeigen demnach mehr Toleranz gegenüber geschlechtsrollenuntypischem Verhalten.[65]

Dieser Geschlechterunterschied könnte meiner Meinung nach darauf zurückzuführen sein, dass in der traditionellen Vorstellung Männlichkeit grundsätzlich eher als stark und somit als erstrebenswert (auch für Mädchen) angesehen wird, während mit Weiblichkeit eher Schwäche und Weichheit verbunden wird, was von Jungen, die sich erst noch in ihre Rolle als Mann hineinfinden müssen, zumeist nicht gewünscht wird.

So positiv also die Intentionen, Jungen von aufgezwungenen männlichen Klischees befreien zu wollen, zu bewerten sind, so sehr ist dennoch zu hinterfragen, ob nicht doch eher Rollenbilder aus anderen Medien übernommen werden sollten, die von Jungen akzeptiert werden, da sie dem gewünschten Selbstkonzept entsprechen, um die männlichen Jungleser so eventuell doch noch auf den Pfad der Akzeptanz von literarischer Kultur zu bringen.[66]

Selbstverständlich dürfen heute auch Jungen sensibel und schwach sein oder auch mit weiblichen Stärken aufwarten[67] ; wenn sie aber nun einfach nichts über einen eben so angelegten Protagonisten lesen möchten, sondern eher starke, männliche Helden, zu denen sie aufschauen können, suchen, so sollten die modernen Jungenbücher nicht zur „Bedrohung für die männliche Selbstfindung“[68] mutieren, nur um bestehende Klischees aufzureißen.

1.2.2.3. Die literarische Pubertät

Den Übergang vom jugendlichen zum erwachsenen Leseverhalten unterbricht die sog. ‚literarische Pubertät’ oder auch ‚Lesepubertät’. Sie wird beispielsweise von Graf folgendermaßen definiert:

„Die literarische Pubertät ist bestimmt durch Leseerfahrungen, die die ausschließliche triebbefriedigende Jugendlektüre ablösen. Die Leseentwicklung verläuft nicht kontinuierlich nach dem Konzept der Lesealtersstufen, sondern ist in einer zeitlich begrenzten Lebensphase zusammengedrängt: Verlauf und Beendigung der literarischen Pubertät bestimmen den späteren Leser.“[69]

Diese Definition allein sagt allerdings noch relativ wenig darüber aus, was denn nun eigentlich in dieser Phase der Lesesozialisation geschieht. Auf den Punkt gebracht beschreibt die literarische Pubertät einen Knick in der Lesekarriere fast eines jeden Lesers, parallel zur biologischen Pubertät, zu deren Zeitpunkt das Lesen für fast alle Jugendlichen zur Nebensache oder gar abgelehnt wird. Auch Jugendliche, die zuvor als Vielleser eingestuft wurden, sind von diesem Phänomen nicht ausgenommen.

Als Ursache für das abfallende Leseinteresse wird die Übergangsphase der Jugendlichen von Kinder- zu Erwachsenenliteratur gesehen, in der sich die jugendlichen Leser weder von der einen noch von der anderen Literatur wirklich angesprochen fühlen. Meiner Meinung nach wird diese Problematik zusätzlich dadurch verstärkt, dass Jugendliche sich einerseits nicht mehr mit Kindern identifizieren möchten, aber sich andererseits auch in der entwicklungstechnischen Umbruchsphase noch nicht mit den Figuren (und deren Problemen, Erlebnissen und Lebensentwürfen) der Erwachsenenliteratur identifizieren können, selbst wenn sie schon mit dieser in Berührung getreten sein sollten.[70]

Als Voraussetzung des Zurückfindens zum Lesen nach der Lesepubertät wird eine Phase des lustvollen und verschlingenden Lesens in der Kindheit der jugendlichen Leser angesehen. Hier wird meiner Meinung nach schon die Brücke zwischen leseabstinenten Kindern, Jugendlichen und späteren Erwachsenen offensichtlich. Denn, wer schon in der Kindheit Probleme bei den Lesekompetenzen hat, wenig und ungern freiwillig liest und generell eine negative Einstellung Büchern gegenüber hat, wie dies offenbar bei überproportional vielen Jungen der Fall ist, der hat auch in seiner späteren Lesekarriere grundsätzlich geringere Chancen, noch zum Vielleser und Freizeitleser zu werden.

Ähnlich stelle ich mir auch die Problematik der Identifikationsmöglichkeiten vor, denn ich bezweifle, dass männliche Leser, die als Kind nie erfahren haben, wie es ist, sich voller emotionaler Beteiligung mit einem Protagonisten zu identifizieren, sich in dessen Leben und Gedanken hineinzuversetzen, mit diesem mitzufiebern und gewissermaßen dessen Schicksal zu teilen, weil die Identifikationsangebote der gelesenen Kinder- und Jugendliteratur eventuell nicht verlockend genug waren, sich später in der Jugend und im Erwachsenenalter plötzlich zum empathischen Gefühlsleser verwandeln können.

Neben den gesammelten Leseerfahrungen der Kindheit kann auch der Deutschlehrer eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung des Leseknicks Jugendlicher einnehmen. Weniger durch den Deutschunterricht selbst als durch das persönliche Auftreten als Leser oder aber auch Nichtleser mit bestimmten vorgelebten Interessen prägt der Deutschlehrer seine Schüler/Innen.[71] Wenn weder in der Kindheit positive Leseerlebnisse zu verzeichnen sind, noch durch Anreize der Schule, des Lehrers, der Eltern oder der Freunde das Lesen als etwas Reizvolles positioniert werden kann, kann es auch zu einem vollkommenen Leseabbruch kommen. Durch die vielfältigen Unterhaltungsmöglichkeiten elektronischer Medien wie dem Fernsehen, dem Radio, Hörbüchern, Videos oder DVDs wird auch einem Nichtleser in seiner Freizeit wenig fehlen. Besonders gefährdet sind hierbei einmal mehr die männlichen Jungleser, da diese statistisch gesehen schon eine größere Affinität zum Spektrum der Medien außerhalb der Printmedien aufweisen als Mädchen.

Doch auch wenn es nicht zu einem totalen Leseabbruch kommt, steckt die Phase der Lesepubertät voller abrupter Wechsel und Kehrtwendungen. Auch die geschlechtsspezifischen Lesepräferenzen scheinen sich in dieser Phase der Lesekarriere zu manifestieren und die beinahe aggressive Abwehrhaltung gegenüber dem, was man selbst nicht bevorzugt, beginnt. Viele Jungen werten das Lesen von Romanen radikal ab, während Mädchen das Lesen von Sachliteratur in ihrer Freizeit demonstrativ ablehnen.[72]

Diese unterschiedlichen Präferenzen stehen in einem engen Zusammenhang zur Entwicklung neuer Motive beim Lesen, aus welchen sich verschiedene Lesemodi ableiten lassen. Manche dieser Lesemodi treffen hauptsächlich auf männliche Leser zu, manche eher auf weibliche Leser. So gibt es z.B. einen ‚intimen Modus’, welcher vor allem vom lustbetonten Lesen der Kindheit geprägt ist, eine besonders intensive private Lektüre von Romanen ermöglicht und eindeutig der Masse lesender Mädchen und Frauen zuzuordnen ist. Weiterhin gibt es einen Modus, der im Besonderen auf soziale und kommunikative Partizipation angelegt ist. Diesem gehören beide Geschlechter zu etwa gleichen Teilen an. Eine weitere Leseperspektive zeigt der interessensorientierte Modus auf. Dieser beschreibt die Situation, in der Jugendliche ein spezifisches Interesse an wissensorientierten Themen entwickeln und sich durch Lesen weiter informieren möchten. Dieser Lesemodus ist tendenziell eher bei männlichen jungen Lesern einzuordnen, wenn auch weibliche Leser diesen Zugang nicht grundsätzlich ausschließen.

Zu einem Stadium, das ästhetischen Lesegenuss und literarische Erkenntnis einschließt, gelangen allerdings nur wenige Leser.[73]

1.2.2.4. Im Erwachsenenalter (nach der Schulzeit)

Auch wenn ich mich in dieser Arbeit hauptsächlich dem Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen widmen möchte, so soll doch das Erwachsenenalter nicht vollkommen ausgeblendet werden. Schließlich treten nach der bereits beschriebenen literarischen Pubertät oder Lesepubertät auch bei Erwachsenen geschlechtsspezifische Unterschiede im Leseverhalten auf, die offenbar nicht allein das Ausmaß des Lesens, also die Lesequantität, betreffen, sondern auch Lesestrategien und vor allem Lektürepräferenzen.

Wie heute eindeutig empirisch belegt wurde, verwenden weibliche Leser nicht nur in der Kindheit und Jugend, sondern auch im Erwachsenenalter mehr Freizeit auf das Lesen von Privatlektüre. Der quantitative Unterschied ist aber weniger ausgeprägt, als dies im letzten Jahrhundert der Fall war. Frauen lesen durchschnittlich täglich nur fünf Minuten mehr als Männer, was eventuell eine Folge der stärkeren beruflichen Einbindung der Frauen heute sein könnte, die schlicht weniger Freizeit zum Lesen zur Verfügung haben.

Aber Männer und Frauen lesen nicht nur unterschiedlich lang, sondern auch Unterschiedliches. Ähnlich wie in den vorangehenden Lebensphasen bevorzugen Frauen literarische Texte wie Gedichte, Romane und Erzählungen häufiger, während Männer eher Bücher über Zeitgeschichte und Politik vorziehen. Während Frauen sich thematisch eher zu Liebe, Schicksal, Heimat und Alltagsgeschichten hingezogen fühlen, finden Männer häufiger Gefallen an Abenteuer- und Kriegsromanen oder Science Fiction. Überraschenderweise finden sich allerdings keine signifikanten Unterschiede beim Lesen erotischer Literatur (Pornographie).[74]

Betrachtet man die Motive von Männern und Frauen, die sie zum Lesen bewegen, so stellt man fest, dass Männer häufiger lesen, um sich weiterzubilden, während Frauen häufiger den Unterhaltungswert des Lesens als Motivation angeben. Insgesamt scheinen Frauen, wie auch im Jugendalter bereits erkannt wurde, mehr und vielfältigere Lesemotive zu haben, wie beispielsweise das Nutzen des Lesens zur Stimmungskontrolle.

Während die Lesequantität und die Lektürepräferenzen relativ leicht oberflächlich abfragbar sind, fällt die Erforschung angewandter Lesestrategien deutlich schwerer, vor allem da das Lesen im Erwachsenenalter weitgehend automatisiert ist und daher nur selten erwartet werden kann, dass über angewandte Lesestrategien reflektiert wird.

[...]


[1] www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID5437824_REF1,00.html - 33k -, 06.08.2007

[2] www.br-online.de/wissen-bildung/artikel/0502/27-lesefaule-jungen/index.xml - 31k -, 06. 08. 2007

[3] www.lesenistweiblich.de/dokumentation_7-2.html - 17k -, 06.08.2007

[4] Vgl. Hurrelmann, B. (2002), S. 10-11.

[5] PISA 2000 (2001), S. 94.

[6] Vgl. PISA 2000 (2001), S. 94.

[7] Vgl. PISA 2000 (2001), S. 95.

[8] Vgl. PISA 2000 (2001), S. 99.

[9] Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (2001) S. 101-120.

[10] Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (2001), S. 251.

[11] Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (2001), S. 253-255.

[12] Bos, W. (2005), S.2.

[13] Vgl. IGLU(2002), S. 87-88.

[14] Vgl. IGLU(2002), S. 91-93.

[15] Vgl. Bos, W. (2005), S.13-14.

[16] Vgl. Bos, W. (2005), S.15-16.

[17] Vgl. Bos, W. (2005), S.17.

[18] Vgl. Bos, W. (2005), S.19.

[19] Bonfadelli, H./Fritz, A./Köcher, R. (1993), 98.

[20] Bonfadelli, H./Fritz, A./Köcher, R. (1993), 33-45.

[21] Bonfadelli, H./Fritz, A./Köcher, R. (1993), 97-99.

[22] Bonfadelli, H./Fritz, A./Köcher, R. (1993), S. 166-173.

[23] Bonfadelli, H./Fritz, A./Köcher, R. (1993), S. 175-177.

[24] Vgl. Bischof, U./Heidtmann, H. (2002a), S. 27.

[25] Vgl. Bischof, U./Heidtmann, H. (2002a), S. 27-29.

[26] Vgl. Bischof, U./Heidtmann, H. (2002a), S. 30.

[27] Vgl. Bischof, Ulrike/Heidtmann, Horst (2002b), S. 241-267.

[28] Vgl. Franz, Kurt, u.a. (2002), S. 12-27.

[29] Vgl. Harmgarth, Friederike (1997).

[30] Vgl. http://www.pisa.oecd.org/dataoecd/18/10/34022484.pdf, S. 3-4.

[31] Trautner, H.M. (1994), S.167.

[32] Vgl. Trautner, H.M. (1994), S.167.

[33] Rosebrock, C. (2003), S. 153.

[34] Rosebrock, C. (2003), S. 153.

[35] Rosebrock, C. (2003), S. 154.

[36] Vgl. Rosebrock, C. (2003), S. 154.

[37] Charlton, M./Burbaum, Ch./Sutter, T. (2004), S. 10.

[38] Vgl. Charlton, M./Burbaum, Ch./Sutter, T. (2004), S. 10.

[39] Trautner, H.M. (1994), S.168.

[40] Vgl. Trautner, H.M. (1994), S.168-169.

[41] Vgl. Franzmann, B. (2003), S. 31.

[42] Vgl. Neuhaus-Siemon, E. (1994), S. 66-67.

[43] Vgl. Bertschi-Kaufmann, A. (2000), S. 143-145 und Eggert, H./Garbe, Ch. (2003), S. 77.

[44] Vgl. Franzmann, B. (2003), S. 32.

[45] Vgl. Bertschi-Kaufmann, A. (2000), S. 145-153.

[46] Bertschi-Kaufmann, A. (2000), S. 156.

[47] Vgl. Plath, M./Richter, K. (2004), S. 90.

[48] Vgl. Plath, M./Richter, K. (2004), S. 88-90.

[49] Vgl. Bertschi-Kaufmann, A. (2000), S. 153-159.

[50] Vgl. Plath, M./Richter, K. (2004): Lesen im Grundschulalter unter geschlechtsspezifischen Aspekten, S. 83.

[51] Bertschi-Kaufmann, A. (2000), S. 168.

[52] Plath, M./Richter, K. (2004), S. 81.

[53] Vgl. Plath, M./Richter, K. (2004), S. 81.

[54] Graf, W. (2004), S. 23.

[55] Vgl. Schlicher, A./Hallitzky, M. (2004), S. 115.

[56] Vgl. Schlicher, A./Hallitzky, M. (2004), S. 113.

[57] Vgl. Graf, W. (2004), S. 23.

[58] Vgl. Graf, W. (2004), S. 23-27.

[59] Vgl. Graf, W. (2004), S. 29-32.

[60] Vgl. Schlicher, A./Hallitzky, M. (2004), S. 115.

[61] Vgl. Graf, W. (2004), S. 29-32.

[62] Vgl. Graf, W. (2004), S. 29-32.

[63] Vgl. Schlicher, A./Hallitzky, M. (2004), S. 116.

[64] Schlicher, A./Hallitzky, M. (2004), S. 117.

[65] Vgl. Schlicher, A./Hallitzky, M. (2004), S. 117.

[66] Vgl. Schlicher, A./Hallitzky, M. (2004), S. 117.

[67] Vgl. Kliewer, A. (2004), S.26-27.

[68] Schlicher, A./Hallitzky, M. (2004), S. 118.

[69] Graf, W.: Literarische Pubertät (1980), S. 16.

[70] Vgl. Daubert, H. (2002), S. 70 und Daubert, H. (2006), S. 12-13.

[71] Vgl. Daubert, H. (2006), S. 12-13.

[72] Vgl. Graf, W. (2003), S. 114-115.

[73] Vgl. Graf, W. (2003), S. 114-115.

[74] Vgl. Charlton, M./Burbaum, Ch./Sutter, T. (2004), S. 4-5.

Ende der Leseprobe aus 118 Seiten

Details

Titel
Schwache Helden für starke Jungs - Mangelnde Identifikationsangebote der Kinder- und Jugendliteratur als Ursache der männlichen Leseabstinenz?
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Jugendbuchforschung)
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
118
Katalognummer
V147428
ISBN (eBook)
9783640581375
ISBN (Buch)
9783640581047
Dateigröße
1226 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schwache, Helden, Jungs, Mangelnde, Identifikationsangebote, Kinder-, Jugendliteratur, Ursache, Leseabstinenz
Arbeit zitieren
Jennifer Joseph (Autor:in), 2007, Schwache Helden für starke Jungs - Mangelnde Identifikationsangebote der Kinder- und Jugendliteratur als Ursache der männlichen Leseabstinenz?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147428

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