Kommunikationsnetzwerke im ländlichen Raum


Magisterarbeit, 2000

112 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kommunikationstheorie
2.1 Massenkommunikation
2.2 Interpersonale Kommunikation
2.3 Interdependenzen
2.3.1 Stimulus-Response-Theorie
2.3.2 Two-Step Flow of Communication
2.3.3 Kommunikationsrollen
2.3.3.1 Opinion Leader
2.3.3.2 Opinion Follower
2.3.4 Multi-Step Flow of Communication
2.3.4.1 Lokale und kosmopolitische Meinungsführer
2.3.4.2 Virtuelle Meinungsführer
2.3.4.3 Isolierte
2.3.5 Agenda Setting
2.3.6 Die Schweigespirale

3. Der ländliche Raum
3.1 Das Sozialsystem
3.2 Begriffsklärung
3.3 Interpersonale Kommunikation in dörflichen Gemeinschaften
3.3.1 Entstehung sozialer Kontakte
3.3.2 Entstehung sozialer Netzwerke
3.3.3 Die soziale Gruppe
3.4 Analyse durch Netzwerkanalyse

4. Netzwerkanalyse
4.1 Theorie der Netzwerkanalyse
4.1.1 Grundlagen und Elemente
4.1.2 Einteilung von Netzwerken
4.1.3 Burt- und Fischer-Instrument
4.1.4 Struktur und Qualität
4.1.5 Maßzahlen
4.2 Von der Gemeindestudie zur Netzwerkanalyse
4.2.1 Marienthal
4.2.2 Euskirchen
4.2.3 Studie „Mittlerer Neckar“

5. Studienkonzept
5.1 Die Entwicklung der Gemeinden Ardagger und Viehdorf
5.2 Methodenbeschreibung
5.2.1 Inhaltsanalyse
5.2.2 Interviews

6. Ergebnisse
6.1 Demographische Merkmale
6.2 Mediennutzung
6.3 Informationswege
6.4 Kommunikationsnetzwerke
6.4.1 Die Netzgröße
6.4.2 Homogenität und Heterogenität
6.4.3 Multiplexität
6.4.4 Qualität der Relationen
6.4.5 Politische Kommunikation
6.4.6 Meinungsführerschaft

7. Zusammenfassung

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildung 1: Stimulus-Response-Modell

Abbildung 2: Two-Step Flow of Communication

Abbildung 3: Multi-Step Flow of Communication

Abbildung 4: Das kleinste Netzwerk, das drei Punkte verbindet

Abbildung 5: Landkarte der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung

Abbildung 6: Ego-zentriertes Netzwerk

Abbildung 7: Das Studienkonzept

Abbildung 8: Altersstruktur

Abbildung 9: Bildung

Abbildung 10: Fernsehkonsum

Abbildung 11: Radiokonsum

Abbildung 12: Printmedienkonsum

Abbildung 13: Informationsquellen

Abbildung 14: Informationsquelle Nachrichtensendung

Abbildung 15: Freizeitgestaltung

Abbildung 16: Altersheterogenität

Abbildung 17: Bildungsheterogenität

Abbildung 18: Beziehungsheterogenität

Abbildung 19: Multiplexität

Abbildung 20: Strong/Weak ties

Abbildung 21: Räumliche Distanz

Abbildung 22: Themen der öffentlichen Diskussion

Abbildung 23: Soziale Kontexte in den Netzwerken

Abbildung 24: Zusammenhang Alter-Netzgröße

Abbildung 25: Anteil der weiblichen Netzpersonen in Frauen- netzen

Abbildung 26: Netzpersonen „politische Diskussion“

Abbildung 27: Bildungsheterogenität/Opinion Leader

Tabelle 1: Umfragestatistik

Tabelle 2: Berufstätigkeit

Tabelle 3: Österreichische Land- und Forstwirtschaft

Tabelle 4: Die Wahl der Fernsehsender

Tabelle 5: Netzwerkgeneratoren und soziale Kontexte

Tabelle 6: Mediennutzung und Soziodemographie (über Pearson´s R)

1. Einleitung

Die empirische Sozialforschung beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, untersucht die Menschen und ihr Zusammenleben, ihren Alltag und berücksichtigt dabei auch Verhaltens- und Handlungsabläufe.[1] Auch die Kommunikationswissenschaft als Sozialwissenschaft leistet wichtige Beiträge zur Theoriefindung, Forschung, Diskussion der Ergebnisse und zur Frage nach dem Verhältnis von Medien und Realität. Die Medienwirkungsforschung kann dabei sicher als zentrales Untersuchungsfeld der Kommunikationswissenschaft bezeichnet werden. Die Forschungsergebnisse zeigen, daß das Publikum nicht nur über Mediennutzungsprozesse und die Aufnahme der vermittelten Inhalte beeinflußt wird, eine Annahme, die in der Medienwirkungsforschung lange Bestand hatte. Vielmehr sind die Medien „nur ein Teil der sinnstiftenden, symbolischen Umwelt des Menschen und ihr Stellenwert wird wesentlich determiniert von den jeweiligen Gegebenheiten der sozialen Situation und der Persönlichkeit der Rezipienten.“[2] Besonderes Augenmerk muß daher auch auf die Grundlage jeglichen sozialen In-Beziehung-Tretens gelegt werden, auf „die Keimzelle aller Verständigungsprozesse“[3], wie Satke anschaulich formuliert, nämlich die interpersonale Kommunikation.

Gerade in dörflichen Gemeinschaften stellt die interpersonale Kommunikation traditionsgemäß einen wichtigen sozialen Faktor dar. Durch die steigende Mobilität der Dorfbewohner hat sich allerdings auch eine Veränderung in der infrastrukturellen und sozialen Struktur kleinerer Ortschaften ergeben. Dennoch bleiben die Gesprächskreise der Dorfgemeinschaft neben der Informationsvermittlung durch die Medien das wichtigste meinungsbildende Muster. Diese Annahme ist gleichzeitig auch die Grundidee der folgenden Untersuchung, die zum Ziel hat, Kommunikationsprozesse in dörflichen Gemeinschaften zu identifizieren und ihre Wirkung zu bestimmen.

In dieser Arbeit soll die formale Kommunikationsstruktur erfaßt und, soweit möglich, auch die informelle Struktur aufgedeckt werden, in der die Kommunikation erfolgt. Theoretische Verknüpfungen über einen Einblick in die Geschichte der Gemeinde- und Netzwerkforschung hinaus ergeben sich über das Agenda Setting-Modell und die Theorien der öffentlichen Meinung. Eine Grundannahme hierfür ist, daß sich Massen- und interpersonale Kommunikation nicht ausschließen, sondern ergänzen.

Die in den Theorien aufgezeigten kommunikativen Aspekte sollen anhand einer Netzwerkanalyse in zwei ausgewählten niederösterreichischen Gemeinden festgemacht oder verworfen werden. Weiters will ich aufzeigen, daß Kommunikationsnetzwerke und das soziale Umfeld größeren Einfluß auf die Themenwichtigkeit, die individuellen Einstellungen und Meinungen zu wichtigen (politischen, sozialen und wirtschaftlichen) Themen haben als die Massenkommunikation. Aus dieser Annahme heraus habe ich die folgenden Hypothesen aufgestellt:

- Interpersonale Kommunikationsprozesse im sozialen Netzwerk erreichen höhere Relevanz als Massenkommunikation.
- Im ländlichen Raum dominieren traditionelle Kommunikationsstrukturen, die durch einen hohen Anteil an Verwandtschaftsrelationen in den Netzwerken begünstigt werden.
- Meinungsführer verfügen über größere Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit und haben daher größere soziale Netzwerke.
- In Kommunikationsnetzwerken diskutieren Personen aus höherer sozialer Schicht verstärkt politische Themen.
- Im ländlichen Raum dominieren dauerhafte, starke Kommunikationsnetzwerke.
Aus der Literatur ergaben sich die folgenden fünf Forschungsfragen, die in dieser Arbeit mein Erkenntnisinteresse leiten:
- Welche Kommunikations- und Beziehungsmuster bestehen im ländlichen Raum? Welchen Stellenwert hat Kommunikation über bestimmte Themen?
- Werden Themen und Meinungen, die die Massenmedien in die Öffentlichkeit bringen, auch im Rahmen interpersonaler Kommunikation aufgegriffen, diskutiert und bewertet?
- Haben die Inhalte der Massenmedien Einfluß auf die interpersonale Umgebung, d.h. suchen Menschen in dörflichen Gemeinschaften verstärkt Kontakt mit sogenannten Meinungsführern?
- Ist die wechselseitige interpersonale Kommunikation der einseitigen, durch geringe Rückkopplungsmöglichkeiten gekennzeichneten Massenkommu-nikation in der Informationsvermittlung überlegen?
- Können die Massenmedien die individuellen Meinungen beeinflussen?

Mit ausgewählten Kapiteln der Kommunikationstheorie, die im besonderen eine Unterscheidung zwischen interpersonaler und Massenkommunikation bzw. der Kommunikationsmuster im urbanen und ländlichen Bereich umfassen, soll ein Überblick über die zu behandelnde Thematik als Ausschnitt aus dem massenmedialen Kommunikationsprozeß gegeben werden. Die Schwerpunkte liegen auf der begrifflichen Bestimmung der Termini Massen- und interpersonale Kommunikation sowie auf einer Analyse der verschiedenen massenmedialen Leistungen. Ich will auch auf den ländlichen Raum, seine Strukturen und Veränderungen näher eingehen. In weiterer Folge nähere ich mich einer Theorie der Netzwerke an, die mit „Meilensteinen“ aus dem Bereich der Kommunikations- und Sozialwissenschaft in Beziehung gesetzt werden soll. Konkret spreche ich hier die Medienwirkungsforschung, das Konzept der Kommunikationsrollen, der Schweigespirale und des Agenda Setting an. Nach einem Rückblick auf die Projekte und Erkenntnisse der Gemeindeforschung soll mittels einer Kombination aus Netzwerk- und Inhaltsanalyse – angewandt auf ein konkretes Fallbeispiel – die Struktur kommunikativer Netzwerke im ländlichen Raum erfasst werden. Den Abschluss bildet eine Zusammenfassung der Ergebnisse, die interpretiert und in Hinblick auf weiterführende Forschungsprojekte diskutiert werden.

2. Kommunikationstheorie

Moderne Industriegesellschaften werden wesentlich durch die enorme Vielfalt der Massenmedien geprägt. Medienbedarf und –nutzung steigen überproportional, viele wirtschaftliche und politische Systeme könnten ohne den medialen Informationstransport ihre Aufgaben nicht mehr effizient wahrnehmen. Heute ist „das konkrete Umgehen mit den Medien, das direkte Benutzen ihrer Inhalte durch die Menschen nicht länger als eine Art ‚Sonderfall‘ menschlicher Aktivität, menschlichen Handelns anzusehen.“[4] Für Rencksdorf ist die primäre Mediennutzung – also fernsehen, Radio hören und lesen von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern – bereits eine Form des sozialen Handelns. Die technische Evolution zog auch eine sukzessive Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Medien nach sich. Die Rezipienten können daher aus einem kaum mehr überschaubaren medialen Angebot wählen.

Öffentlich-rechtliche und private Rundfunksender gestalten vielfältige Fernseh- und Radioprogramme, die beinahe in gleichem Ausmaß wie Zeitschriften den Special Interest-Bereich abdecken. Zeitungen und Internet ergänzen sich auf dem Sektor der Primär- wie auch der Folgeinformation. „Ein wahrer ‚Mediendschungel‘ ist entstanden und zu Recht können heute in Zusammenhang [mit, A.G.] der Medienevolution westliche Industriegesellschaften als Mediengesellschaften bezeichnet werden.“[5] Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung muß auch die Interdependenz von massenmedialer und interpersonaler Kommunikation neu überdacht werden, wobei Interdependenz hier als Beeinflussung bzw. Abhängigkeit einer Kommunikationsart von der anderen bzw. durch die andere verstanden wird. In den folgenden Kapiteln soll auf die theoretischen Grundlagen dieser Interdependenzstrukturen näher eingegangen werden. Dabei erscheinen mir die Annäherung an die Theorie des Multi-Step Flow of Communication sowie ein Einblick in die Theorien des Agenda Setting und der Schweigespirale besonders interessant.

2.1 Massenkommunikation

Schon beim Begriff „Massenkommunikation“ treten in der Kommunikationswissenschaft die ersten Unsicherheiten auf. Silbermann erkennt ob der Vielfalt der Inhalte dieses Begriffs, daß die Forschung schon an der Basis auf ein Problem stößt, nämlich für das Erkenntnisobjekt seiner Disziplin eine geeignete Definition zu finden.[6] Dies ist ein Aspekt, ein anderer ist - nach Silbermann - die negativistische Belegung des Begriffs „Masse“, der so wertfrei mit „Kommunikation“ in Verbindung gesetzt wird. Masse legt immer etwas Großes, Unüberschaubares nahe, das – einmal in Bewegung – nur schwer wieder gestoppt werden kann. Diese Betrachtungsweise impliziert einen negativen Charakter der Massenkommunikation, dem sich auch die aktuelle Forschung nicht immer entziehen kann. So weist etwa Eisenstein auf die „problematische Verwendung des Begriffes Masse[7] in Zusammenhang mit Definitionsversuchen des Terminus Massenkommunikation hin. Bei Rezipienten handelt es sich letztlich nicht um eine undefinierbare Masse, sondern um Individuen, die durch vielfältige demographische Merkmale zu unterscheiden sind, und die in den meisten Fällen frei über die subjektive Informationsaufnahme entscheiden können. Hier schließt auch Hillmanns Begriffsdefinition von Kommunikation an:

Kommunikation ist entweder „menschliche Fähigkeit bzw. menschliches Grundbedürfnis; oder Grundelement jeder sozialen Beziehung zwischen Menschen, bei der gegenseitig orientiertes Verhalten (durch Gestik, Mimik, Sprache u.a.) immer auch den Sinn der Informationsübermittlung hat; oder das Ergebnis eines Informationsflusses, wobei Information als Zeichen betrachtet wird, das von einem Kommunikator (Informationsquelle) zur Realisierung seiner Aussageabsicht erzeugt und dabei auf die soziale Rolle bzw. Verstehensmöglichkeit des Rezipienten (Informationsempfänger) bezogen wird.“[8]

Einen anderen Aspekt greift Ronneberger auf. Er sieht das System Massenkommunikation als „Zusammenwirken und Zusammenspiel aller Medien“[9] mit der Funktion der permanenten Sozialisation. Hunziker schließt hier an. Er beschreibt Sozialisation als Prozeß des Hineinwachsens der Individuen in die Gesellschaft und nennt als „herkömmliche Sozialisierungsagenturen“ etwa die Familie, Schule, Kirche oder die Bezugsgruppen Gleichaltriger (peer groups). Die angesprochenen sozialen Gruppen vermitteln dem Individuum eine große Vielfalt von Verhaltensmustern, Normvorstellungen und Werthaltungen, die zu einem verständlichen, überschaubaren Ganzen kombiniert werden müssen. „Die Massenmedien können durch ihre generalisierende Darstellung der gesellschaftlichen Realität hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten.“[10]

Mit Sozialisation benennt Hunziker aber nicht nur die individuelle gesellschaftliche Integration. In den Bereich dieser komplexen Weiterbildung fällt auch die Ausbildung hochdifferenzierter Organisationen in einem allgemeinen Prozeß der gesellschaftlichen Rationalisierung, in dem die Kommunikationsmedien und die Massenkommunikation „als Formen technisch vermittelter und gestalteter Austauschbeziehungen“ eine tragende Rolle spielen. Dabei ist Massenkommunikation „als institutionalisierte Form der marktgesteuerten Beziehung zwischen größeren Kollektiven [..] ein elementares Funktionsprinzip moderner Gesellschaften.“[11]

Kein Zweifel besteht jedoch hinsichtlich der Leistung der Massenkommunikation. Schenk bezeichnet die Informationsvermittlung als zentralen Punkt, spricht allerdings auch von der „Dominanz der Massenmedien als Lieferant von Themen, Ereignissen und Sachverhalten“.[12] Der Schwerpunkt der Berichterstattung liegt sicherlich im politischen und wirtschaftlichen Bereich, generell läßt sich jedoch feststellen, daß Massenmedien durch die Auswahl der Nachrichten und der Form der Veröffentlichung die Wirklichkeit der Rezipienten im gesamten wesentlich beeinflussen und Themen für die an die Massenkommunikation anschließende Kommunikation im halböffentlichen oder privaten Bereich vorgeben. Die Abhängigkeit von den Medien ist ohne Zweifel groß, denn ohne Massenmedien wären viele nationale oder internationale Probleme gar nicht erfahrbar.[13]

Als vier Hauptfunktionen der Massenmedien behandelt Dietl in Anlehnung an Ronneberger die politische Bildung, die Kritik- und Kontrollfunktion, die Bildung und die Rekreation. Die Menschen sollen als Staatsbürger und Träger politischer Verantwortung ausgebildet werden, daher muß jeder einzelne, um seiner politischen Rolle gerecht zu werden, mit aktuellen Informationen aus relevanten Bereichen versorgt werden. Gleichzeitig ist es die Aufgabe der Massenmedien, als Ergänzung zur parlamentarischen Opposition politische Entscheidungsprozesse zu überwachen[14] – und in der Öffentlichkeit mittels (objektiver) Berichterstattung zur Diskussion zu stellen. Jede vermittelte und von den Rezipienten aufgenommene Information – gleich zu welchem Thema – trägt zur Bildung bei. Unter Bildung kann Tageswissen ebenso verstanden werden wie die bleibende Prägung nach intensiver Auseinandersetzung mit Inhalten.[15] Letztlich bleibt noch die Unterhaltungs- und Zerstreuungsleistung der Massenmedien zu erwähnen, die der einzelne nach Belieben nutzen kann. Das Angebot der Medien für Entspannung, Ablenkung und Erholung ist vielfältig und hat sich durch das Hinzukommen von privaten Rundfunkanbietern und dem Medium Internet noch wesentlich gesteigert und intensiviert. Aber auch auf dem Printsektor konnte das Rekreationsangebot durch verschiedenste (Special Interest-)Magazine und Journale als Beilagen von Tages- und Wochenzeitungen vermehrt werden.

Eisenstein behandelt sechs wesentliche Funktionen bzw. Aufgaben des Systems der Massenmedien. Information, Meinungsbildung sowie Kontrolle/Kritik führt sie ebenso an wie die soziale Orientierung, Sozialisation und Regeneration/Rekreation. Diese Funktionen bestehen aber nicht isoliert, sondern greifen ineinander über bzw. bedingen einander. Die Funktion der sozialen Orientierung schließt an die Forderung nach Information an. „Presse, Hörfunk und Fernsehen sollen durch die Vermittlung von Fakten und Informationen aus der sozialen Umwelt dem einzelnen Bürger Fixpunkte für individuelle Handlungsweisen bieten.“[16] Erst über dieses Informationsangebot kann das Individuum fehlende primäre Sozialkontakte ausgleichen. Medien reduzieren also Tendenzen der Desintegration, die in modernen Industriegesellschaften durch starken sozialen Wandel erkennbar werden.

2.2 Interpersonale Kommunikation

Es üben jedoch nicht nur die Massenmedien Einflüsse auf Meinungen und Einstellungen des Publikums aus. Vor allem soziale Prozesse wie etwa persönliche Gespräche beeinflussen die Beurteilung eines Themas.[17] Erst wenn Personen, die Inhalte aus den Massenmedien aufgenommen haben, mit anderen über diese Inhalte sprechen, können sie die Wichtigkeit der jeweiligen Themen für die persönliche Umwelt beurteilen. Interpersonale Kommunikation, also die direkte, zwischenmenschliche Form der Verständigung, darf folglich nicht als Gegenpol zur Massenkommunikation verstanden werden. Massen- und interpersonale Kommunikation schließen sich nicht aus, sie ergänzen sich. Über die Kanäle der zwischenmenschlichen Kommunikation werden die von den Massenmedien vermittelten Inhalte weiterverarbeitet, bewertet und in Form von Meinungen oder Einstellungen interpretiert.[18]

Als bedeutendstes Medium der interpersonalen Kommunikation wird die Sprache angesehen, die sich „aus einer konventionell geregelten Aneinanderreihung künstlicher Lebenszeichen“ zusammensetzt.[19] Erst durch diese Symbol-Funktion der menschlichen Sprache wird es überhaupt möglich, die Dinge beim Namen zu nennen, Gedanken zu formulieren und eigene Einstellungen zu aktualisieren und zu vermitteln. Auch Habermas wendet sich im Rahmen seiner Ausführungen einer Theorie des kommunikativen Handelns den Funktionen sprachlicher Verständigung zu. Er erkennt Sprechakte als Medien der Verständigung und führt auch ihren Nutzen an: Sie dienen „(a) der Herstellung und der Erneuerung interpersonaler Beziehungen, wobei der Sprecher auf etwas in der Welt legitimer Ordnungen Bezug nimmt; (b) der Darstellung oder der Voraussetzung von Zuständen und Ereignissen, wobei der Sprecher auf etwas in der Welt existierender Sachverhalte Bezug nimmt; und (c) der Manifestation von Erlebnissen, d.h. der Selbstrepräsentation, wobei der Sprecher auf etwas in der ihm privilegiert zugänglichen subjektiven Welt Bezug nimmt.“[20] Durch diese sprachliche Interaktion und Kommunikation können ständig vorhandene Bedürfnisse nach Zuwendung und Lob befriedigt werden.[21] Gleichzeitig kommt es in Gesprächen mit anderen Personen durch den Informationsfluß zur Bewertung der eigenen Person. Durch die transportierten Informationen und die subjektive Bewertung kann das Selbstbild unterstützt oder verändert bzw. das Selbstwertgefühl gehoben werden.[22]

In persönlichen Kommunikationssituationen entfalten vor allem die Variablen Flexibilität, Belohnung, Vertrauen, Zweckfreiheit und Überredung ihre Wirksamkeit.[23] Besonders die Möglichkeit, auf Informationen spontan zu reagieren, zeichnet interpersonale Kommunikation aus. Bei Verständnis-schwierigkeiten können Fragen gestellt werden, die Gesprächsführung wird dadurch auf das jeweilige Informationsinteresse oder –bedürfnis gelenkt. Durch diese freie Kommunikationsgestaltung erhöht sich die Flexibilität. Der Faktor Belohnung ist ebenfalls eng an die Möglichkeit der Meinungsbeeinflussung gekoppelt. Gespräche enden selten im Streit, wenn die Kommunikationspartner ihre Meinungen aneinander angleichen. Das daraus entstehende positive Klima

wird individuell als eine Art Belohnung empfunden, die durch Mißachtung oder Sanktionen der Gesprächspartner bei divergierenden Ansichten in verbale Bestrafung umschlagen kann. Der Antrieb, mit dem sozialen Umfeld, der sozialen Gruppe, konform zu gehen, führt zu der Tendenz, derartige negative Gesprächserlebnisse zu vermeiden. Diese allgemein geteilte Erwartungshaltung, dass sich ein Akteur in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte, also konforme, Weise verhalten soll und dass, sofern er sich abweichend verhält, Sanktionen angewandt werden können, wird auch mit dem Begriff der sozialen Norm umschrieben.[24]

In der sozialen Gruppe tragen auch die Faktoren Vertrauen und die Vertrauenswürdigkeit einer Quelle zu einer möglichen Beeinflussung von Einstellungen bei. „Meist ist [..] der Kommunikationspartner aus vorherigen Begegnungen, Gesprächen in der sozialen Gruppe, bekannt. Häufig haben diese Personen den selben Status und ähnliche Interessen, so daß ihnen ein größeres Vertrauen entgegengebracht werden kann als den Medien.“[25] Von Zweckfreiheit der interpersonalen Kommunikation spricht Eisenstein, wenn Gesprächssituationen und in weiterer Folge Informationsvermittlung zufällig entstehen, wodurch beim einzelnen die Annahme entsteht, daß diese ohne Überzeugungsabsicht stattfindet. In derartigen Situationen sind Rezipienten anfälliger für Beeinflussungen als in Situationen, in denen sie absichtvoll Radio hören oder Zeitung lesen.[26]

Der Zusammenhang zwischen der Nutzung der Massenmedien bzw. ihrer Wirkung auf die Rezipienten und der Einfluß der interpersonalen Kommunikation kann jedoch nicht eindeutig bestimmt werden. Schenk bringt den Ansatz in die Diskussion ein, daß Medien oft „sogar aus bloßer Nützlichkeit genutzt (werden), um für erwartbare Diskussionen gerüstet zu sein.“[27] Aber auch das Gegenteil ist möglich, wenn Personen subjektiv wichtige Themen aus dem direkten sozialen Umfeld übernehmen, etwa durch Diskussion mit der

Familie oder Arbeitskollegen, ohne daß diese Themen eine mediale Behandlung erfahren hätten. Der angesprochene Zusammenhang zwischen Massen- und interpersonaler Kommunikation wurde vor allem im Agenda-Setting-Modell und in den Theorien der öffentlichen Meinung thematisiert. Auf diese theoretischen Verknüpfungen werde ich in Kapitel 2.3.4 und 2.3.5 näher eingehen.

[...]


[1] Haas, Hannes: Empirischer Journalismus. Wien 1999. S. 21

[2] Hunziker, Peter: Medien, Kommunikation und Gesellschaft. Darmstadt 1996. S. 76

[3] Satke, Gerhard: Diskursive Konfliktbearbeitung in der interpersonalen Kommunikation. Konzeption, Positionierung und Ansätze zu einer empirischen Analyse. Diplomarbeit. Wien 1995. S. 3

[4] Renckstorf, Karsten: Neue Perspektiven in der Massenkommunikationsforschung. In: Burkart, Roland (Hg.): Wirkungen der Massenkommunikation. Wien 1992. S. 59

[5] Eisenstein, Cornelia: Meinungsbildung in der Mediengesellschaft. Opladen 1994. S. 22

[6] Silbermann, Alphons: Massenkommunikation. In: König, René (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Großstadt – Massenkommunikation – Stadt-Land-Beziehungen. Band 10. Stuttgart 1977. S. 146

[7] Eisenstein (1994). S. 23

[8] Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 19944. S. 426f

[9] Ronneberger, Franz: Funktionen des Systems Massenkommunikation. In: Haas, Hannes (Hg.): Mediensysteme. Wien 1990. S. 158

[10] Hunziker (1996). S. 106f

[11] Ebenda. S. 9

[12] Schenk, Michael: Soziale Netzwerke und Massenmedien. Tübingen 1995. S. 40f

[13] Schenk (1995). S. 52

[14] Dietl, Susanne: Sozialkontakte und Mediennutzung in Stadtrandsiedlungen mit einer empirischen Untersuchung zur Wiener Großfeldsiedlung. Diplomarbeit. Wien 1993. S. 45

[15] Ronneberger (1990). S. 162

[16] Eisenstein (1994). S. 39

[17] Ebenda. S. 51

[18] Schenk (1995). S. 40

[19] Satke (1995). S. 12

[20] Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt/Main 1999³. S. 413

[21] Dietl (1993). S. 28

[22] Ebenda. S. 30

[23] Eisenstein (1994). S. 73ff

[24] Ziegler, Rolf: Normen, Rational Choice und Netzwerkanalyse. In: Derlien/Gerhardt/Scharpf (Hg.): Systemrationalität und Partialinteresse. Baden-Baden 1994. S. 152

[25] Eisenstein (1994). S. 75

[26] Ebenda. S. 75; Eisenstein bezieht sich in diesen Punkten auf die Ergebnisse der People´s Choice-Studie, auf die in den nächsten Kapiteln noch eingegangen wird.

[27] Schenk (1995). S. 51. Vgl. dazu auch Maletzke, Gerhard: Integration – eine gesellschaftliche Funktion der Massenkommunikation. In: Haas (1990). S. 168

Ende der Leseprobe aus 112 Seiten

Details

Titel
Kommunikationsnetzwerke im ländlichen Raum
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
112
Katalognummer
V147
ISBN (eBook)
9783638101066
Dateigröße
677 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kommunikationsnetzwerke, Raum
Arbeit zitieren
Anke Brandstetter-Gerstmayr (Autor:in), 2000, Kommunikationsnetzwerke im ländlichen Raum, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147

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