Bürgerliche Lebenswelt und verdrängte Ängste. Thedodor Storms phantastische Novelle Am Kamin


Seminararbeit, 2001

21 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

Einführung

I. Der Inhalt der Kamingeschichten aus dem Genre der Spuk- und Gespens- tergeschichten
1. Der Inhalt von „Am Kamin“
2. Storms Unteresse an Spuk- und Gespenstergeschichten

II. Der zeithistorische Hintergrund des poetischen Realismus als Grundlage für Storms Spukgeschichten
1. Die gescheiterte Revolution 1848, der bürgerliche Rückzug und Storms Reaktion
2. Der poetische Realismus als Grundlage für Storms Spuk-Novelle

III. Die phantastischen Elemente in „Am Kamin“ als Ausdruck bürgerlicher Ängste
1. Die Rolle phantastischen Erzählens im Realismus: Ein Widerspruch?
2. Die Konfrontation der Rahmen- und Binnenerzählung
3. Bürgerliche Todesfurcht und die Frage sozialer Verantwortung
4. Die aufgezeigte Lösung des Zwiespalts

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

„‘Ich werde Gespenstergeschichten erzählen! – Ja, da klatschen die jungen Damen schon alle in die Hän-

de!‘

‚Wie kommen Sie denn zu Gespenstergeschichten, alter Herr?‘

‚Ich? – das liegt in der Luft. Hören Sie nur, wie draußen der Oktoberwind in den Tannen fegt! Und dann

hier drinnen dies helle Kienäpfel-Feuerchen!‘“[1]

So beginnt Theodor Storm seine Geschichtensammlung „Am Kamin“ und umreißt damit nicht nur den äußeren Erzählrahmen, die gemütliche Atmosphäre des Kaminzimmers mit flackerndem „Kienäpfel-Feuerchen“, sondern legt bereits eine grundsätzliche Spannung zwischen der Rahmensituation und dem Inhalt der Binnenerzählungen fest: Gespenstergeschichten wolle er erzählen, berichtet der alte Mann, also Geschichten mysteriösen Inhalts, die einen Angriff auf die Welt des aufgeklärten Bürgertums, dem die Zuhörer angehören, darstellen. In dieser Hinsicht ist auch die vorliegende Arbeit bemüht, diese grundsätzliche Spannung immer wieder zu übernehmen und in ihren Aufbau zu integrieren.

Zunächst ist es jedoch unumgänglich, einige inhaltliche Aspekte der Geschichten zu erörtern sowie einige – wenngleich knappe – Erklärungen zum Genre der Spuk- und Gespenstergeschichten zu geben. Der zweite Abschnitt ist dem zeithistorischen Hintergrund der Kamingeschichten und dem poetischen bzw. bürgerlichen Realismus[2] gewidmet, den Grundlagen für Storms Werk, bevor im dritten Abschnitt den eigentlichen phantastischen Elementen in „Am Kamin“ Aufmerksamkeit geschenkt wird, obwohl auf diese auch schon in den vorhergehenden Kapiteln an geeigneter Stelle verwiesen wird. Zunächst wird hier die Rolle phantastischen Erzählens im Realismus untersucht, dann die Konfrontation der Rahmen- und Binnenerzählung veranschaulicht, bevor der Aspekt der bürgerlichen Todesfurcht vorm Hintergrund der sozialen Verantwortung des Menschen beleuchtet wird und im letzten Kapitel der Frage nachgegangen wird, inwieweit Strom seinen Lesern eine Lösung bietet und eine solche umsetzbar erscheint.

I. Der Inhalt der Kamingeschichten aus dem Genre der Spuk- und Gespenter- geschichten

1. Der Inhalt von „Am Kamin“

„... in heiterster Weise unser derzeitiges Zusammenleben abspiegel[n]“[3] – das war nach Theodor Storms eigener Aussage seine Absicht, als er seine kleine Geschichtensammlung „Am Kamin“ in zwei getrennten Nummern der illustrierten Muster- und Modezeitschrift „Victoria“ am 8. und 22. Februar 1862 erstmals veröffentlichen ließ. Erst 1911 wurden die Kamingeschichten danach wieder entdeckt[4].

Die Erzählung „Am Kamin“ ist eingebettet in eine eng strukturierte Rahmenhandlung. Als Moderator tritt ein alter Herr auf, der die Geschichten jeweils einleitet und abschließt, in sechs von acht Fällen indes die Stimme an einen zweiten Erzähler abgibt. So entsteht durchgehend ein zweifacher Rahmenbau mit deutlicher Spannung zwischen der nüchtern skeptischen Erzählsituation am Kamin unter den bürgerlichen Zuhörern und einer gläubig-naiven Einstellung, wie sie in Form der Ich-Erzählung zum Ausdruck kommt[5]. Die Erzählsituation der Geschichten am Kamin bei Bowle und Tee erinnert an eine Art Pantoffelkino, in dem man sich unterhalten, aber nicht ergreifen lassen möchte. Weniger die Inhalte interessieren als ihr sensationeller Aufputz. Der tiefgründige Ernst des Erzählers, der schlicht, ohne Effekthascherei erzählt, sind Pole der Spannung zwischen Rahmen- und Binnenerzählung, die ein kritisches Licht auf die zunehmende Veräußerlichung und Verflachung bürgerlicher Rezeptionsweisen wirft[6]. Gero von Wilpert stellt zur Binnenerzählung fest, dass sich deren sachlich fast nüchterner, schlicht linearer Erzählstil, der sich am Faktischen orientiert und dem es auf die „unerhörte Begebenheit“, nicht auf das Innenleben der Figuren ankommt, dabei einem Protokoll unerklärlicher Ereignisse annähere. Der Erzählstil lege dabei großen Wert auf die Beglaubigung, die die Verantwortung für das Erzählte anderen zuschiebt, und gebe nicht nur genaue Zeit- und Ortsangaben, sondern berufe sich auf authentische Erzähler und verlässliche Zeugen. „Ziel ist nicht die poetische Illusion, sondern die Fixierung der erfahrenen Wirklichkeit in konkreter Umwelt“ so von Wilpert[7].

Die acht Geschichten sind in zwei Vierer-Gruppen geteilt, die an zwei getrennten Abenden erzählt werden. Jeder der beiden Abende beginnt mit einer Traumgeschichte, gefolgt von einer Erzählung vom zweiten Gesicht, und gipfelt in zwei Spuk- und Gespenstergeschichten.

In den ersten vier Geschichten stehen phantastische Verweise auf die Todesgewissheit und die ganze existenzielle Wahrheit im Vordergrund. Während der ersten Geschichte erleidet ein Kind, im Traum von einem Wolf verfolgt, Todesängste: „Es war ein großer Wolf da, er war hinter mir, er wollte mich fressen.“[8] In der folgenden Geschichte überfällt einen jungen Kaufmann die jähe Erkenntnis einer „schlimmen Stelle“, über die „nicht gut darüber weg zu kommen“ sei[9]. Das Grauen befällt ihn und wenige Tage später „fanden sie ihn tot am Wege liegen“[10] – eben an jener Wegstelle, die ihn zuvor so erschrocken hat. Ein Geselle erlebt in der dritten Kamingeschichte in einer monddurchfluteten Schlafkammer den Auftritt eines geisterhaften Wesens – „ein Ding, ungestaltig und molkig“[11] –, das zu nächtlicher Stunde mit einem Besen kehrt. In der vierten Erzählung stirbt eine Mutter und wirkt über den Tod hinaus in das Leben des bis zuletzt liebevoll um sie besorgten Sohnes tröstend hinein.

In den Erzählungen des zweiten Kaminabends spielt der Tod zwar weiterhin eine Rolle, wichtiger als das existenzielle Schicksal ist jedoch das soziale Gewissen. Die vier Geschichten beginnen mit dem Bericht über eine mit unlauteren Mitteln zu Vermögen gekommenen geizigen Witwe, die nach ihrem Tod in den Träumen einer Mutter und ihrer Tochter als ewig frierende, Wärme suchende Wiedergängerin erscheint:

„Wie das erste Mal ging die Frau leise vor sich hin jammernd an den Ofen. ‚Mich friert, ach wie mich

friert!‘, sagte sie [...]. Bei dem Schein des auf dem Tische stehenden Lichtes bemerkte ich jetzt auch, daß

sie bloße Füße hatte; aber seltsamer Weise, es waren große Brandwunden an denselben und auch der wol-

lene Rock war heute weit mehr verbrannt, als in der vorigen Nacht. Und dabei stand sie fortwährend und

klammerte sich mit den Händen an den Ofen, nur mitunter einen Seufzer oder ein tiefes Stöhnen aussto-

ßend.“[12]

Herzenskälte aus Habgier als tiefe menschliche Schuld wird dadurch offenbart.

Die zweite Erzählung des Abends handelt von einem Gutsbesitzer, der seine Fürsorgepflicht dem Ärmsten unter seinen Arbeitern gegenüber vernachlässigt und daran im Traum ermahnt wird. In der folgenden Geschichte überträgt ein Offizier die Herrichtung eines baufälligen Kornspeichers zum Tanzsaal einem Freund. Als er wenige Tage später einen Brief an ihn schreibt, erscheint ihm dieser:

„Als ich aber zufällig einmal die Augen aufschlage, sehe ich zu meiner Verwunderung L. selbst in der Ecke

des Zimmers stehen und mit sonderbar ausdruckslosen Augen nach mir hinstarren. Er sprach nicht; aber er

führte mit einer schwerfälligen Gebärde die Hand an die Lippen und schien sich damit etwas aus dem Mun-

de zu ziehen. Es kam mir vor, als ob es Getreidekörner seien.“[13]

Durch das Erscheinen des zweiten Gesichts wird der Offizier schuldig am Tod des Freundes gesprochen, der beim Einsturz des Speichers erschlagen wurde, weil er die Verantwortung abgeschoben hatte. In der letzten Erzählung nimmt ein Arzt einem Patienten das Versprechen ab, bei einem Ableben von der Sektion der Leiche abzusehen. Während seiner Abwesenheit stirbt der Patient und ein Kollege führt dennoch eine Sektion durch, ist aber nach Einspruch bereit, diese zu unterbrechen und die entnommenen Teile wieder zurück zu legen. Nach einiger Zeit erfährt der Arzt auf telepathische Eingebung hin[14], dass sein Kollege seinerzeit das Herz des Patienten zurückbehalten hatte und kann erst jetzt sein gegebenes Versprechen wirklich einlösen:

„Das Herz des Toten wurde noch in derselben Nacht zu ihm in den Sarg gelegt.“[15]

2. Storms Interesse an Spuk- und Gespenstergeschichten

Beschäftigt man sich mit Storms „Am Kamin“ gelangt man unwillkürlich an einen Punkt, an dem man sich näher mit dem Verhältnis des Autoren zum Genre der Spuk- und Ge-spenstergeschichten befassen muss, um das Werk besser einordnen zu können.

Gespenstergeschichten sind inhaltlich nur vom Motiv her zu bestimmen. Im Sprachgebrauch ist dagegen die Grenze zwischen Geister- und Gespenstererscheinungen unscharf geworden. Versuche, allein übersinnliche Erscheinungen oder Tote zum Gegenstand der Gespenstergeschichte zu erklären, schlagen fehl. Der Gespenstergeschichte liegt meist eine einfache Form zu Grunde, die aus einer „Geistesbeschäftigung“ mit dem Unheimlichen hervorgeht. Dabei ist die Gespenstergeschichte eigentlich keine echte, genau zu umgrenzende literarische Gattung. Ihre Motive finden sich im Drama wie in der Lyrik. Der Charakter der Gespenstergeschichte im engeren Sinne wird erst bestimmt durch das Verhältnis des Erzählers zu seinem Gegenstand, d. h. durch die Einstellung zum Wahrheitsgehalt eines unheimlichen Falles. Somit ist die Gespenstergeschichte eine an Situation und Spannung gebundene Erzählform[16].

Für Storm ist die Gespenster- und Geistergeschichte kritisches Medium menschlicher Exis-tenz zwischen Bewusstseinsverengung und –erweiterung. Meines Erachtens vertritt er die Seite der Befürworter eines höheren Geisterglaubens, der sich vom allgemeinen Aberglauben unterscheidet. Storm instrumentalisiert diese Form des Erzählens indem er das erweck-te Grauen dazu einsetzt, eine tief reichende Sinnkrise der Gegenwart zu signalisieren. Deutlich wird diese Einstellung am konträren Dialog folgender Textpassage aus „Am Kamin“:

„‘Pfui! Wer befreit mich von diesem Schauder?‘

‚Schauder? Du sprichst ja wie ein moderner Literaturhistoriker.‘

‚Ich? Weshalb?‘

‚Weil Du in dem Grauen nur eine Gänsehaut siehst.‘

‚Nun, und was wäre es denn anders?‘

‚Was es anders wäre? - - - Wenn wir uns recht besinnen, so lebt doch die Menschenkreatur, jede für sich, in

fürchterlicher Einsamkeit; ein verlorener Punkt in dem unermessenen und unverstandenen Raum. Wir ver

gessen es; aber mitunter dem Unbegreiflichen und Ungeheuren gegenüber befällt uns plötzlich das Gefühl

davon; und das, dächte ich, wäre etwas von dem, was wir Grauen zu nennen pflegen.‘“[17]

Storm versucht in „Am Kamin“ den durchaus realistischen Anspruch der Gespenster- und Spukgeschichten bereits im Einsatz des Rahmens aufrecht zu erhalten. Denn die „abendliche Gesprächsrunde am Kamin und das soziale, mündliche Erzählen im vertrauten Kreis bilden den traditionellen Rahmen für Gespenstergeschichten seit Tieck, Hoffmann und Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter “, erklärt Gero von Wilpert[18].

Storms Interesse für Gespenstergeschichten – wobei er diese nicht von Märchen oder Sagen unterscheidet[19] - rührt von den Vorlieben seiner Heimat[20] her, einer Landschaft, in der man an „Spökenkieker“, Menschen mit der Gabe des zweiten Gesichts, glaubte. Zudem wuchs Storm in einer Zeit auf, in der die romantische Naturphilosophie ein besonderes Interesse an den „Nachtseiten der Natur“ hatte[21]. So verwundert es nicht, wenn Gertrud Storm über ihren Vater schreibt:

[...]


[1] T. Storm, 1988, S. 52.

[2] Für die Ansprüche dieser Arbeit können beide Bezeichnungen, die sich in Bezug auf den literarischen Realismus nur in Nuancen unterscheiden, unbedenklich synonym verwendet werden, was fortan auch geschieht.

[3] Theodor Storm am 17. Januar 1870 in einem Brief an seinen Sohn Ernst; zit. n. R. Fasold, 1997, S. 111.

[4] Vgl. K. E. Laage, 1985, S. 122.

[5] Die entgegengesetzte Wirkung von Rahmen- und Binnenerzählung sei hier nur insoweit erläutert, als es zum inhaltlichen Verständnis nötig erscheint. Nähere Betrachtungen zu diesem Aspekt werden in III 2 angestellt.

[6] Vgl. W. Freund, 1989, S. 110.

[7] G. v. Wilpert, 1994, S. 316.

[8] T. Storm, 1988, S. 53.

[9] T. Storm, 1988, S. 55.

[10] T. Storm, 1988, S. 56.

[11] T. Storm, 1988, S. 59.

[12] T. Strom, 1988, S. 67 f.

[13] T. Storm, 1988, S. 73.

[14] „‘Meine Herrschaften‘, sagte er dann, ‘ich habe soeben etwas erfahren; - was und woher, erlassen Sie mir Ihnen mitzuteilen!“ (T. Storm, 1988, S. 76).

[15] T. Storm, 1988, S. 77.

[16] Vgl. K. Kanzog, 1958, Sp. 573 – 575.

[17] T. Storm, 1988, S. 77.

[18] G. v. Wilpert, 1994, S. 314.

[19] Vgl. I. Schuster, 1985, S. 118.

[20] Theodor Storm wurde am 14. September 1871 auf Husum geboren.

[21] Vgl. T. Storm, 1988, S. 603.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Bürgerliche Lebenswelt und verdrängte Ängste. Thedodor Storms phantastische Novelle Am Kamin
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar: Einführung in die phantastische Literatur
Note
1,5
Autor
Jahr
2001
Seiten
21
Katalognummer
V14679
ISBN (eBook)
9783638200127
Dateigröße
509 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bürgerliche, Lebenswelt, Thedodor, Storms, Novelle, Kamin, Proseminar, Einführung, Literatur
Arbeit zitieren
Michael Mößlein (Autor:in), 2001, Bürgerliche Lebenswelt und verdrängte Ängste. Thedodor Storms phantastische Novelle Am Kamin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14679

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