Gemeinsame Lektüre von Franz Kafkas „Prozeß“ und „Brief an den Vater“


Hausarbeit (Hauptseminar), 1991

21 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Schuldmotiv

3. Geschäftsbeziehungen

4. Innere Flucht

5. Der Prozess

6. Die Verdrängung

7. Die Verhaftung

8. Die Schuldfrage

9. Vater und Gericht

10. Die Türhüterparabel

11. Heiratsversuche

12. Die Helferinnen

13. Die Türhüterparabel

14. Physische Auswirkungen

15. Der Direktor-Stellvertreter

16. Ausbreitung des Prozesses

17. Das Prüglerkapitel

18. Aussichtslosigkeit

19. Das Todesurteil

20. Die Jagdgöttin

Bibliografie

Anmerkung

Die Quellenangaben zu den Werken Kafkas sind folgendermaßen abgekürzt:

B=Franz Kafka. „Brief an den Vater“

P=Franz Kafka „Der Prozeß“

1. Einleitung

Meine Arbeit möchte zwei schriftliche Niederlegungen Franz Kafkas, den „Brief an den Vater“ aus dem Jahr 1919, und den Roman „Der Prozeß“ von 1914 aufeinander beziehen. Die Frage, die dieses Vorhaben aufwirft, ist, ob dies überhaupt legitim ist: Das eine ist ein privater Brief, der nie zur Ver­öffentlichung bestimmt war, das andere ist ein wenn auch nur Fragment gebliebenes Kunstwerk. Wollte man eine biografische Interpretation stark machen, könnte man aus dem „Brief an den Vater“ selbst eine Aussage heranziehen: „Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte“ (B51). Diese Aussage muss jedoch dif­feren­ziert betrachtet werden. Zum einen könnte aus ihr der Schluss einer nur autobiografischen Äußerung des gesamten literarischen Werks gezogen wer­den, die allerdings verschlüsselt wäre. Zum anderen, aus diesem Schluss rück­wirkend, würde eine tendenzielle Nivellierung von autobiografischen Äuße­rungen in Form von Tagebüchern und Briefen und dem künstlerischen Werke vollzogen. Alles wäre dann in irgendeiner Weise autobiografisch. Das ließe sich auch ins Gegenteil umwenden. So diagnostiziert Frank Schirrmacher, gestützt von Äußerungen Kafkas selbst, ein nicht gelebtes, unauthentisches Leben, wo für ein kaum noch vorhandenes, im Grunde nur noch fiktives Ich alles zur Literatur wird, auch das Leben selbst (siehe Schirrmacher, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Literaturbeilage, 11.12.90, S. L1). Aus dieser Sicht wäre der „Brief an den Vater“ auch als Kunstwerk zu betrachten. Ich möchte keinen dieser beiden extremen Standpunkte einnehmen.

Sicher ist es so – und das wird sich auch in dieser Arbeit zeigen –, dass gerade bei Kafka in hohem Maße die eigene Person mit in das Werk einfließt. Schließlich trägt der Protagonist ja auch die Initiale des Namens Kafka. Nur eröffnet ein Kunstwerk durch seine Gestaltung einen dies übersteigenden Horizont. Der andere Standpunkt, dass der „Brief an den Vater“ auch nur fiktiv, künstlerisch zu verstehen sei, führt meiner Ansicht nach auch in die Irre. Tatsächlich kann es so sein, dass der Künstler einen anderen Blick auf die Welt wirft: „Er sieht an­deres und mehr als die anderen“, wie Kafka schreibt (Kafka, zitiert nach: Frank Schirrmacher, FAZ, S. L1). Gerade daraus geht aber auch hervor, dass der Künstler nicht eine fiktive Welt im Blick hat, sondern versucht, die Realität zu erkennen und zum Ausdruck zu bringen. Das hat Kafka sowohl im „Brief an den Vater“ als auch im „Prozeß“ zum Ziel. Von daher besteht eine Wesens­gleichheit der beiden Schriften. Im diesem weiteren Sinn, als eine Beschäftigung mit Lebenswirklichkeit und deren Strukturen, und darüber hinaus im unmittelbaren Bezug können beide Schriften als eine Auseinandersetzung mit seinem Vater verstanden werden. Das hat Kafka im oben angeführten Zitat auch selbst so formuliert. Im „Brief“ geschieht das je­doch in einer anderen Weise. Vor seinem inneren Auge hat hier Kafka in ganz konkreter Weise seinen Vater, ein innerer Dialog findet statt. Auch im „Prozeß“ geschieht ein solcher, löst sich jedoch vom Schreibenden und gewinnt als Kunstwerk Autonomie. Was im „Brief“ in Form von Analyse und Beschreibung abläuft, ist im „Prozeß“ in einen gestalteten, künstlerischen Raum eingebunden. Verblüffend ist tatsächlich, dass zahlreiche zentrale Motive und Elemente, die der„Brief“ aufnimmt, sich auch im „Prozeß“ auffinden lassen. Möglich ist es, dass Kafka sie in den fünf Jahren später entstan­denen „Brief“ direkt aus dem Roman übernommen hat. Allerdings sind dies Inhalte, die wiederholt im Werk von Kafka und in seiner geistigen Auseinandersetzung auftauchen. Sie müssen deshalb nicht notwendigerweise in direkter Verbindung mit dem Roman stehen. Deutlich wird, dass Kafka große Themen in Werk und Leben begleiten, die sowohl in den „Prozeß“ als auch in den „Brief an den Vater“ einfließen. Eben weil sich dies so darstellt, ist eine aufeinander bezogene Lektüre dieser Schriften in hohem Maße Gewinn bringend. Diese Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, die starken Bezüge und Parallelitäten herauszustellen. Dennoch möchte sie dem künstle­rischen Werk und der biografischen Äußerung ihre Eigenständigkeit belassen Sie blendet nur übereinander, ohne zu eindeutig zu vermischen. Diese Vorgehens­weise wird – so hoffe ich – Leben und Werk Franz Kafkas gerecht. Die zum Vorschein kommenden einzelnen Motive und Aspekte bilden schließlich das Grundmaterial für eine vertiefte Bearbeitung, die in einem weitere Schritt erfolgen müsste. Diese Arbeit ist also nur eine Sichtung und reiht die Motive und Elemente nebeneinander auf.

2. Das Schuldmotiv

Die Gemeinsamkeit im „Brief“ und im „Prozeß“, die sofort ins Auge fällt, ist das Motiv der Schuld. Sowohl für den „Brief“ als auch für den „Prozess“ stellt diese das Leitmotiv dar. In ihrem Wirkungsfeld entfaltet sich die Atmosphäre von Demütigung, Angst und Ungewissheit. Diese Schuld stellt das Machtmittel in der ins Unendliche ausgeprägten Hierarchie des Romans dar, so wie auch in der Familienstruktur im „Brief“ „Machtverhältnisse“ (B39) dominierend sind. Kafka versucht in beiden Schriften, dieser nur schwebenden Schuld habhaft zu werden.

3. Geschäftsbeziehungen

Der Bankbeamte K. wird offensichtlich vollkommen unvorbereitet in den Prozess verwickelt. Er führt ein Leben, das fast überdurchschnittlich normal ist. Geregelt und erfolgreich geht er seiner Arbeit als Prokurist nach. Abends führt ihn sein Weg auch schon einmal in eine Stammtischrunde. Und in einer geschäftsmäßigen Regelmäßigkeit trifft er sich einmal in der Woche mit seiner Geliebten. Das von mir als fast überdurchschnittlich normal bezeichnete Leben K.’s ist ein nur von geschäftsmäßigen Beziehungen bestimmtes. K. wohnt als Junggeselle in einer Pension. Mit ihren Bewohnern scheint ihn kaum etwas zu verbinden, jedenfalls nicht bis zur Verhaftung, die dazu führt, dass K. Kontakt zu Fräulein Bürstner aufnimmt. Von seinem „privaten“ Umfeld erfahren wir in den vollendeten Kapiteln kaum etwas. Nur im Kapitel mit seinem Onkel rückt die familiäre Situation ins Blickfeld. In den unvollendet gebliebenen Kapiteln ist der private Bereich in sehr viel größerem Maße thematisiert. Vielleicht nicht zufällig blieben sie deshalb unvollendet, denn ihre Auslassung stützt das Konzept des Romans. Ich möchte dennoch kurz auf einige Passagen eingehen, denn sie verraten einige Ausgangspunkte für die Konzeption des Romans.

Der einzige Freund K’s ist offensichtlich der Staatsanwalt Hasterer. Aber auch diese Freundschaft hat ihren Ausgangs- und Endpunkt im Geschäft. K. lernt ihn durch einen „Advokaten in der Bank“ (P20) kennen, knüpft tatsächlich auch Freundschaft zu ihm, insgeheim bestimmend für ihn ist jedoch auch hierbei seine Karriere in der Bank. So wird seine Stellung dort durch diese Freundschaft günstig beeinflusst. Wohl nicht zufällig ist es, dass K. in dem Moment seiner Verhaftung sich gleich mit dieser Bekanntschaft aus der Affäre ziehen möchte, doch im gegen ihn laufenden Prozess ist diese machtlos.

Auch das Verhältnis zur Familie, zur Verwandtschaft ist nicht sehr eng. Seine Mutter hat er schon drei Jahre lang nicht mehr gesehen. Er verdächtigt sich sogar der „Rührseligkeit“ (P199) in dem Vorhaben eines Besuches. Mit diesem abwertenden Wort wehrt er sich offensichtlich gegen eine emotionale Bindung an die Mutter. So bekennt er auch, dass er die „Zärtlichkeit der Mutter [...] immer eher abgelehnt als hervorgelockt hatte“ (P206). Auch dem Vater gesteht K. im Roman Einfluss zu. Von dem Verhältnis zu ihm wird gesagt, dass „er die Fürsorge des eigenen Vaters, der sehr jung gestorben war, niemals erfahren hatte“ (P206). K’s Vormund wird der Onkel und dieser vertritt damit die Familie.

Geschäftsmäßigkeit im direkten Sinn des Wortes ist auch in K’s Verhältnis zur Tänzerin Elsa zu finden. Denn aus der Regelmäßigkeit seiner Besuche kann angenommen werden, dass er sie für die Nächte bezahlt. K. ist also bis in sein innerstes Bankbeamter, seine Beziehungen gestalten sich nur auf der Grund­lage des Geschäftes, das heißt des Geldes. Seine Bestechungsversuche, für die er allerdings immer Ausreden parat hat, sind auch unter diesem Aspekt zu betrachten. Ein anderer Hintergrund fehlt K. völlig. Im Domkapitel des „Prozesses“ wird erwähnt, dass K. einmal „Mitglied des Vereins zur Erhaltung der städtischen Kunstdenkmäler“ gewesen war. Nicht jedoch, wie sofort hinzugefügt wird, aus Kunstinteresse, sondern nur aus „geschäftlichen Gründen“ (P170). Dieses Kapitel kann auch als Thematisierung von K.’s Verhältnis zur Religion, oder allgemeiner, zu einer metaphysischen Ebene aufgefasst werden. K. will sich darauf nicht einlassen: „Was für eine Stille herrschte jetzt im Dom! Aber K. mußte sie stören, er hatte nicht die Absicht hierzubleiben.“ (P178). Dem Geistlichen weiß er schließlich nichts anderes zu erwidern als: „Ich bin hierhergekommen, um einem Italiener den Dom zu zeigen.“ (P179), wegen eines geschäftlichen Auftrags also offensichtlich. Der Geistliche weist ihn aber zurecht: „Laß das Nebensächliche.“ (P179). Das für den Geistlichen Unwich­tige stellt die Hauptsache für K. dar. Durch den Prozess wird sich dies allerdings ändern.

4. Innere Flucht

Kann für eine solche Beamtenexistenz auch im „Brief“ eine Parallele gefunden werden? Ich glaube, wenn auch ein wenig versteckt, ja. Der „Brief“ geht den vergeblichen Bemühungen Kafkas nach, Autonomie zu gewinnen. Kafka analysiert, wie die verquere Beziehung zu seinem Vater zu einer innerlichen Abhängigkeit von ihm geführt hat. Diese lässt seine Ausbruchversuche aus dem Kreis der Familie hin zu einer erwachsenen, nicht nur äußerlich unabhängigen Existenz immer wieder scheitern. Eine innere Kraft bindet ihn. Dass Kafka „oft beherrschende Gefühl der Nichtigkeit“ (B11) neben einem als übermächtig empfundenen Vater resultiert daraus und verfolgt Kafka und seinen Romanhelden auf Schritt und Tritt. Schon als Kind mobilisierte er Kräfte, um diesem unglückseligen Einfluss zu entrinnen. Kafka schreibt zu dieser Autonomiebewegung: „Das nächste äußere Ereignis dieser ganzen Erziehung war, daß ich alles floh, was nur in der Ferne an Dich erinnerte.“ (B31f.). Das betrifft den Bereich des väterlichen Geschäftes, wo er den Vater als einen über das Personal „Tyrannei“ (B33) ausübenden Menschen erlebte. Aber auch im intimeren Bereich der Familie ist der Eindruck, den der Vater auf das Kind ausübt, nicht vertraulicher. Neben Familie und väterlichem Geschäft muss Kafka als dritten Bereich auch die Religion fliehen: „Ebensowenig Rettung vor Dir fand ich im Judentum.“ (B44). Meine These ist nun die, dass die Fluchtbewegungen, die Kafka im „Brief“ beschreibt, eine innere Befindlichkeit erzeugen, die ein bedeutsames Element der Daseinsweise K.’s im „Prozess“ darstellt. Eine Stelle im „Brief“ charakterisiert diese Befind­lichkeit: „[...] meine kalte, kaum verhüllte, unzerstörbare, kindlich hilflose, bis ins Lächerliche gehende, tierisch selbstzufriedene Gleichgültigkeit eines für sich genug, aber kalt phanta­sierenden Kindes“ (B52f.). Die hier erwähnte „Gleichgültigkeit“ macht auch dem Onkel im „Prozess“ zu schaffen: „Josef, nimm dich doch zusammen. Deine Gleich­gültigkeit bringt mich noch um den Verstand“ (P85). K.’s Position ist zunächst, auch wenn sich das im Verlauf des Prozesses ändern wird, souverän und unabhängig. Die erwünschte Flucht Kafkas im „Brief“ scheint in der Figur K.’s gelungen zu sein. Der Preis, den K. dafür zahlen muss, ist allerdings hoch. Er muss sich vollkommen von seiner Vergangenheit, seiner Herkunft, seinen Wurzeln lösen und beraubt sich somit der Möglichkeit eines nicht nur oberflächlichen Daseins. Alle seine Beziehungen sind vom Geschäft diktiert. Familie, Freunde, Kunst, Religion sind für ihn bedeutungslos. Aus all diesen Bindungen scheint er sich gelöst zu haben.

5. Der Prozess

Das gegen K. laufende Verfahren im „Prozeß“ wird diese Oberfläche scheinbarer Autonomie aber aufbrechen. So gewinnt beispielsweise durch den Prozess seine Familie wieder an Einfluss. Auf die Bedrängnis durch seinen Onkel und ehemaligen Vormund erwidert K.: „Ich weiß sehr gut, daß ich der Familie Rechenschaft schuldig bin“ (P83). Dieser Prozess ist nicht durch ein bestimmtes strafrechtliches oder auch ein sonstiges einmaliges Vergehen hervorgerufen, er ist auch nichts von außen an K. Herangetragenes. Es ist kein öffentlicher Prozess, sondern ein Vorgang, der in seinem Inneren abläuft und als Widerspiegelung dessen aufgefasst werden kann. Eine Passage im unvollendeten Kapitel „Das Haus“ spricht dies unverhüllt aus:

„[,,,] so durcheilte er nun mit langen Schritten das Gerichtsgebäude kreuz und quer. Er kannte sich immer sehr gut in allen Räumen aus, verlorene Gänge, die er nie gesehen haben konnte, erschienen ihm vertraut, als wären sie seine Wohnung seit jeher, Einzelheiten drückten sich ihm mit schmerzlicher Deutlichkeit immer wieder ins Hirn.“ (P209)

Der Prozess, der an K. verfolgt werden kann, ist die langsame Wiedererinnerung dieser Räume des Inneren. Die Schuldgefühle eines kindlichen Gewissens werden wiederbelebt, wie insgesamt eine aus kindlicher Perspektive unverständliche Welt auftaucht. Die Gerichtskanzleien in den Vororten und in fast kaum aufzufindenden staubigen Dachkammern befinden sich in einer ähnlichen Peripherie wie die Erinnerungen Kafkas im „Brief“. Der „Brief“ kann parallel zur oben zitierten Textstelle verstanden werden, genau diese „Einzelheiten“ von „schmerzlicher Deutlichkeit“ ruft sich Kafka wieder ins Gedächtnis. Eine entscheidender Unterschied zum „Prozeß“ liegt jedoch darin, dass der „Prozeß“ nicht so sehr von Einzelheiten ausgeht, sondern, wie das Wort schon besagt, den Verlauf, die Struktur eines solchen inneren Kampfes darstellt, das ‚Procedere’, das Voranschreiten darstellt. Davon, welche Funktion der „Brief“ im Leben Kafkas bedeuten könnte, gibt eine Textstelle im Roman Auskunft:

„Öfters schon hatte er überlegt, ob es nicht gut wäre, eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten und bei Gericht einzureichen. Er wollte darin eine kurze Lebensbeschreibung vorlegen, aus welchen Gründen er so gehandelt hatte.“ (P98)

Das nicht zu Bewältigende eines solchen Vorhabens wird gleich zu Anfang des „Briefes“ angesprochen:

„Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.“ (B5)

Ähnliches sagt der Kaumann Block im Roman:

„Sie müssen Bedenken, daß in diesem Verfahren immer wieder Dinge zur Sprache kommen, für die der Verstand nicht mehr ausreicht.“ (P149)

Die Tatsache, dass im Roman nur über die Verteidigungsschrift gesprochen wird, verdeutlicht noch einmal: Ziel des Romans ist es offensichtlich nur, die Struktur des Prozesses darzustellen und nicht konkret fassbare Inhalte zu formulieren.

Im Weiteren möchte ich näher dem Verlauf des Romans folgen und versuchen, den „Brief an den Vater“ und den „Prozeß“ weiter übereinanderzublenden.

6. Die Verdrängung

Die Verhaftung trifft K. vollkommen unvorbereitet. Das ist verwunderlich, denn worum es in diesem Prozess geht, ist etwas, was K. in seinem Innersten betrifft. In diesem Sinn wundert sich auch der Onkel K.’s:

„Solche Dinge kommen doch nicht plötzlich, sie bereiten sich seit langem vor, es müssen Anzeichen dessen gewesen sein.“ (P84)

Diese Auffassung des Onkels entspricht genau dem, was unter ‚Prozess‘ ganz buchstäblich zu verstehen ist: ein sich kontinuierlich entwickelnder Vorgang. K. hat dagegen eine völlig andere Auffassung dieses Wortes, er versteht darunter im üblichen Gerichtsgebrauch: eine Straftat wurde begangen, ein Prozess wird eröffnet und endet in einem Urteil. Über diese fälschliche Auffassung klärt ihn der Geistliche auf:

„Du mißverstehst die Tatsachen [...], das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.“ (P180)

Genauso wie das Urteil nicht schlagartig gefällt wird, so setzt der Prozess auch nicht mit einem Mal ein. K. hat, da sein Wachbewusstsein vom Prozess nichts wissen will, die ihm vorausgehenden Signale übersehen. Der Prozess kann von daher für ihn nicht anders als überfallartig beginnen. K. gibt vor, von einer Schuld seinerseits nichts zu wissen, und die Beteuerungen seiner Unschuld werden bis zu seiner Hinrichtung nicht abebben. Er ist sich keines Vergehens bewusst:

„Jemand musste K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (P7)

Die Worte „etwas Böses“ geben einen Hinweis auf eine kindliche, aber auch religiös-moralische Sicht. Die Schuld eines Sünders, auch nicht die Erbsünde des Menschen in der jüdisch-christlichen Religion, oder das Schuldgefühl eines Kindes scheinen für K. nicht zu existieren. Aber Schuld oder nur Schuldgefühl in irgendeiner Form muss vorhanden sein, denn im „Prozess“ wird gesagt:

„Unsere Behörde [...] sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird [...] von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken.“ (P11).

Nicht also von der „Behörde“, vom „Gericht“ geht die Initiative aus, die Behörde selbst wird lediglich angezogen von der Schuld. Obwohl K. seine Schuld leugnet, kann es nicht anders sein, als dass er tatsächlich eine Schuld in sich fühlt. Es besteht eine Divergenz zwischen einer von Rationalität bestimmten Aussage und eines inneren, trotz der bemühten Rationalität nicht zu überwindenden Schuldgefühls.

[...]

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Gemeinsame Lektüre von Franz Kafkas „Prozeß“ und „Brief an den Vater“
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Fachbereich 10 / Institut für deutsche Sprache und Literatur II)
Veranstaltung
Franz Kafkas "Der Prozeß" und ausgewählte Erzählungen
Note
1
Autor
Jahr
1991
Seiten
21
Katalognummer
V146340
ISBN (eBook)
9783640569793
ISBN (Buch)
9783640570416
Dateigröße
453 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Franz Kafka, Romane, Brief an den Vater, Lektüre, Parallelen, Interpretation, Literaturwissenschaft, Felice Bauer, Gericht, Prozess, Urteil, Hierarchie, Patriarchat
Arbeit zitieren
Magister Artium Bernhard Paha (Autor:in), 1991, Gemeinsame Lektüre von Franz Kafkas „Prozeß“ und „Brief an den Vater“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146340

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