Der Aufbau der Nationalen Volksarmee

Wehrmachtseinflüsse in der Kasernierten Volkspolizei und der NVA in ihren Gründerjahren


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

29 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur begrifflichen Klärung: Kaderarmee

3. Die getarnte Armee
3.1 Zum Aufbau der kasernierten Volkspolizei
3.2 Ehemalige Offiziere
3.3 Ehemalige Unteroffiziere und Mannschaftssoldaten

4. Von der Wehrmacht in die Volksarmee – Der Werdegang ehemaliger Wehrmachtangehöriger
4.1 Vinzenz Müller – General bei Hitler und Ulbricht
4.1.1 Ein Patriot im Zwiespalt?
4.1.2 Kriegsgefangenschaft
4.1.3 Karriere in der DDR
4.2 Major Bernhard Bechler, ein hemmungsloser Karrierist
4.2.1 Karriere in der Reichswehr und Wehrmacht
4.2.2 Ein Neuanfang in der SBZ
4.2.3 Bechler und die neuen Streitkräfte
4.3 Fritz Streletz – Unteroffizier bei Hitler und General der NVA
4.3.1 Sein Lebensweg

Schlusswort

Literatur

Anhang

1. Einleitung

Der Aufbau der Nationalen Volksarmee ist eines der interessantesten Forschungsgebiete in der Deutschen Militärgeschichte. Zum Einen war die Stimmung nach dem gerade erst verlorenen Krieg in beiden Teilen Deutschlands sehr pazifistisch orientiert. Zum anderen galt es zumindest in der sowjetisch besetzten Zone den Anspruch zu wahren, mit den Traditionen der Wehrmacht zu brechen. Genau hier liegt jedoch das Problem. Wie soll man eine Armee aufbauen, ohne auf bewährte, kriegserfahrene Fachleute zurückzugreifen? Und wenn man auf diese zurückgreift, wie politisch zuverlässig sind sie? Vor Allem soll uns aber die Frage interessieren, welche Persönlichkeiten warum zur Gründergeneration gehören. Als Beispiele werden in dieser Arbeit die Herren Müller, Bechler und Streletz genannt. Erstere stehen für die Generation der ehemaligen Wehrmachtoffiziere, Streletz gehört zur Aufbaugeneration.

Zur Literaturlage ist folgendes zu sagen: Der Aufbau und die Struktur der Kasernierten Volkspolizei ist durch die Arbeiten von Rüdiger Wenzke, Torsten Diedrich und Stephan Fingerle recht gut zu erschließen. Mit den Wehrmachteinflüssen in der KVP / NVA beschäftigte sich Daniel Niemetz in seinem Buch „Das Feldgraue Erbe – Die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ / DDR“ wissenschaftlich. Die Biographie von Vinzenz Müller lässt sich ebenfalls sehr gut erschließen. Eine herausragende Arbeit hierzu leistete Peter Joachim Lapp mit seinem Buch „General bei Hitler und Ulbricht, Vinzenz Müller – eine deutsche Karriere“. Zu Bechler und Streletz gibt es bisher keine derartig umfangreiche Biographie. Zu nennen sind hier die Aufsätze von Torsten Diedrich, der sich mit Bernhard Bechler beschäftigte, und Armin Wagner, der zu Fritz Streletz arbeitete. Quellentechnisch gibt es zu allen drei genannten recht umfangreiches Material, dieses ist vor Allem im Bundesarchiv – Militärarchiv in Freiburg zu finden, aber auch im Bundesarchiv Berlin.

2. Zur begrifflichen Klärung: Kaderarmee

Die NVA war in ihrem Wesen eine Kaderarmee im doppelten Sinne. Zum Einen galt sie als „Aufwuchsarmee“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass sie erst durch die Einberufung ihrer Reservisten ihre volle Kampfkraft erreicht hätte[1]. Zum Anderen galt sie aber auch als von „Sozialistischen Kadern“ geführte Armee. Diese „Sozialistischen Kader“ waren meist Parteimitglieder, die den Prinzipien der SED-Kaderpolitik unterlagen. Man unterschied also zwischen Parteikadern und militärischen Kadern. Zu letzteren zählten nach dem Verteidigungsminister Stoph:

„...diejenigen, die in der Lage sind bzw. sein werden, andere Armeeangehörige politisch und militärisch auszubilden, sie zu erziehen und im Gefecht zu führen sowie die, die anderweitig Aufgaben auf technischem, administrativem, medizinischen usw. Gebiet innerhalb der Streitkräfte zu lösen haben. Deshalb rechnen wir zu den militärischen Kadern alle Offiziere, Unteroffiziere und auch die Soldaten, die die Entwicklungsfähigkeit zum Unteroffizier oder Offizier haben. Das gilt sowohl für die Armeeangehörigen im aktiven Dienst als auch in der Reserve[2] “.

Demzufolge galten alle Berufsoffiziere und Unteroffiziere, die den Status des Berufssoldaten erreicht haben, als militärische Kader. Ab 1973 galt dies auch für Fähnriche (Offizierschüler), Offiziere auf Zeit und die Unteroffizieranwärter. Als „Parteikader“ galten nur die Politoffiziere sowie die hauptamtlichen Partei- und FDJ-Funktionäre. Die Kommandeure, die zwar politische und militärische Führer in Personalunion sein sollten, zählten trotz oftmaliger Zugehörigkeit zur SED nicht zu den Parteikadern.

3. Die getarnte Armee

3.1 Zum Aufbau der kasernierten Volkspolizei

Bedingt durch die politische Lage nach 1945 begann die militärische Frage wieder eine zentrale Bedeutung für die Staatswerdung im geteilten Deutschland einzunehmen. In der Sowjetischen Besatzungszone entstand ab 1948 / 1949 eine kasernierte Truppe, die offiziell der Polizei untergeordnet war. Man sprach zwar von der Kasernierten Volkspolizei, de facto jedoch handelte es sich um eine getarnte Armee. Eine Wiederherstellung der Wehrmachtsstrukturen war in der DDR offiziell nicht erwünscht. Die neu entstehende Armee sollte in ihrem Sozialprofil, ihrer Tradition und ihrem Auftrag von Anfang an ein Gegenbild zur Wehrmacht darstellen. Hierbei trat jedoch ein entscheidendes Problem auf: Wie sollte man eine Armee aufbauen, ohne auf Fachleute aus der Wehrmacht zurückgreifen zu können? Zwar hatte die KPD / SED in ihren eigenen Reihen einige ehemalige Spanienkämpfer, Erich Mielke sei hier als Beispiel genannt, aber diese waren weder quantitativ, noch qualitativ in der Lage neue Offiziere auszubilden.

3.2 Ehemalige Offiziere

Demzufolge war man dazu gezwungen ehemalige Wehrmachtoffiziere als führende Fachleute zu gewinnen. Dies gestaltete sich zunächst aber sehr schwierig. Dies lag zum Einen an der allgemeinen Lage nach dem gerade erst verlorenen Krieg. Die allgegenwärtige Kriegsmüdigkeit und der damit verbundene Anstieg des Pazifismus machte es nicht gerade leicht, junge Männer für den Dienst an der Waffe zu begeistern. Zum Anderen musste aber eine neue militärische Elite erst einmal ausgebildet werden. Wie aber sollte dies geschehen? Laut Rüdiger Wenzke nennt der Soziologe Werner Baur hierzu drei theoretische Möglichkeiten:

Man greift vollständig auf die alte Elite zurück.[3]

Man bildet eine neue Elite, ohne Berücksichtigung der alten.[4]

Man kombiniert beide Möglichkeiten[5]

Da die DDR offiziell mit den Traditionen der Wehrmacht brechen wollte, versuchte sie den zweiten Weg zu gehen. Es sollte keine Wiederholung der alten Zustände geben. In der Tat hatten anfangs ehemalige Offiziere und Berufssoldaten kaum eine Rolle in den Polizeikräften der SBZ gespielt. Sie waren unter Anderem durch die Einstellungsrichtlinie für die Polizei aus dem Jahre 1947 weitgehend von dem Dienst in den bewaffneten Organen ausgeschlossen. Sie unterlagen bis 1949 gemäß den alliierten Bestimmungen wegen ihrer Tätigkeiten während des Nationalsozialismus bestimmten Beschränkungen im gesellschaftlichen wie im beruflichen Leben. Ehemalige Wehrmachtoffiziere gehörten anfangs nicht zu den erwünschten Kreisen, aus denen das neue Offizierkorps hervorgehen sollte. Vielmehr zählten dazu vor Allem Arbeiter[6] sowie Mitglieder der SED. Besonders erwünscht waren jene Genossen, die bereits Kampferfahrungen gesammelt hatten. Walter Ulbricht sagte auf der Innenministerkonferenz der SBZ in Werder / Havel im April 1948:

„Wir brauchen Leute, die Fronterfahrungen, Leute, die Spanienerfahrungen oder sich auch sonst im Kampf bewährt haben. Ein Mann, der am Ebro gekämpft hat, ist nicht für uns zu ersetzen, er gehört in eine leitende Stellung, in die Polizei. In der Polizeifrage verstehen wir keinen Spaß. Dort sollen kampferfahrene Leute hineinkommen.“[7]

Im Wesentlichen lag genau hier das Problem. Es gab zwar einige erfahrene Spanienkämpfer in den Reihen der SED, Heinz Hoffmann sei als Beispiel genannt, aber es waren viel zu wenige. Zudem hatten diese oftmals als einfache Brigadisten oder Kommissare gedient und verfügten somit über ein militärisches Wissen, das eher als gering einzuschätzen ist. Auch diejenigen, die in Führungspositionen gedient hatten, waren nur bedingt geeignet, weil ihr Wissen nicht mehr dem aktuellen Stand der Taktik und Technik entsprach. Die Führung der SED befand sich also in einem Dilemma. Sollte man auf die fachliche Kompetenz ehemaliger Wehrmachtangehöriger verzichten, so würde man den gesamten Aufbau der Streitkräfte zumindest verzögern. Griff man auf sie zurück, so würde man das proletarisch-militärische Rekrutierungsideal aufweichen. Nicht zuletzt unter dem Druck der Sowjetmacht wich man gezwungenermaßen von diesem Ideal ab. Die Wiedereinstellung von Wehrmachtoffizieren stieß anscheinend bei den sowjetischen Machthabern nicht auf so eine starke Ablehnung wie bei den deutschen Kommunisten, deren Ziel es war ein militärisches Führerkorps auszubilden, das in seiner politischen und sozialen Zusammensetzung nichts mit dem bisherigen Offizierkorps gemein hatte. Die Sowjets waren es auch, die als Erstes mit Hilfe spezieller Kommissionen ab 1947 begannen, in den Kriegsgefangenenlagern Wehrmachtangehörige gezielt für den „Polizeidienst“ in der SBZ anzuwerben. Man wollte von den Erfahrungen der ehemaligen Berufsmilitärs profitieren, indem man sie mit größtmöglichem Nutzen zur Verwirklichung der eigenen politischen Interessen der UdSSR kontrolliert einsetzte. Diese Praxis hatte sich bereits seit 1943 mit der Gründung des Nationalkommitees Freies Deutschland (NKFD) sowie des Bundes Deutscher Offiziere (BDO) bewährt. In beiden Organisationen erhielten die ehemaligen Soldaten politische Schulungen und konnten dadurch beweisen, dass sie auf die Seite der Sowjetunion gewechselt sind. Es waren also jene Soldaten und Offiziere, die nach dem Willen der Sowjets den Grundstock einer neuen Streitmacht bilden sollten. Sie waren vor Allem deshalb besonders geeignet für diese Funktion, weil sie zum Einen – wie bereits erwähnt – politisch geschult wurden, was zumindest eine einigermaßen politische Zuverlässigkeit gewährleistete[8], zum Anderen waren sie durch ihre Ausbildung und ihre Erfahrungen im Felde auf einem wesentlich höheren Wissensstand als die meisten Spanienkämpfer.

Aber auch nach der Einbeziehung jener NKFD- und BDO- Mitglieder reichten die personellen Ressourcen der Ostzone nicht aus, um den Aufbau der Hauptabteilung Grenzpolizei und Bereitschaften[9], der einen Personalumfang von 10.000 Mann erforderte, voranzutreiben. Es war also erforderlich, dass weiteres Personal gewonnen wurde. Dieses Personal fand man auch, nämlich noch weiter östlich: in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern. Und so kam es, dass sich die Sowjetregierung dazu entschloss, den deutschen Kommunisten 5000 Menschen als personellen Grundstock für die zukünftige Armee zur Verfügung zu stellen. Zwischen dem 8. beziehungsweise 13. September[10] und dem 6. Oktober 1948 trafen 4934 Heimkehrer aus der Sowjetunion in der Sowjetischen Besatzungszone ein, von denen 4774 für den Polizeidienst gewonnen werden konnten. Allerdings war hier zu bemängeln, dass viele der Heimkehrer mit falschen Versprechungen von den sowjetischen Behörden geworben wurden.[11] So wurde ihnen beispielsweise versprochen, dass sie nicht kaserniert werden würden oder dass sie sich nur für den Polizeidienst „bereithalten“ müssten. Zudem kamen ca. 900 von ihnen aus Arbeitslagern. Diese haben kaum politische Schulungen erhalten. Zumeist waren sie ehemalige Berufssoldaten mit Unteroffiziersdienstgrad. Viele von ihnen waren zudem Mitglieder in der NSDAP. Diese dürften zunächst wohl kaum als politisch zuverlässig gegolten haben. Erst nach intensiven Gesprächen waren 835 Mann aus dem ersten Transport bereit, in der KVP zu dienen. Es mangelte also zumindest beim ersten der insgesamt drei Transporte an einer soliden Vorauswahl. Bei den anderen Transporten hingegen kam es zu keinerlei nennenswerten Problemen, was sowohl auf eine bessere Auswahl der Kandidaten, als auch auf die Androhung des Rücktransports in die UdSSR im Falle einer Weigerung zurückzuführen ist.[12] Damit war der personelle Grundstock für den Aufbau kasernierter militärischer Einheiten gelegt.

Ebenfalls im September 1948 entließen die Sowjets im Rahmen der so genannten „5+100 – Aktion“ fünf Generäle und 100 Offiziere der ehemaligen Wehrmacht in die SBZ. Es handelte sich hierbei um den Generalleutnant Vinzenz Müller, auf den im Folgenden noch eingegangen wird, Generalarzt Prof. Dr. Karl Schreiber, sowie um die Generalmajore Arthur Brandt, Hans von Weech und Hans Wulz. Bis auf Schreiber, der nach seiner Ankunft um seine Entpflichtung gebeten hatte und sich am 18. Oktober 1949 in den Westen absetzte, nahmen alle General ihren Dienst auf. Diese Generäle haben während ihrer Kriegsgefangenschaft angeblich (oder tatsächlich) mit ihren Traditionen gebrochen und wären gewillt, einen Teil ihrer Schuld wieder gutzumachen.[13]

Bei der Auswahl der Offiziere überließ man nichts dem Zufall. Seit dem Frühsommer 1948 wurden seitens des NKWD entsprechende Sondierungsgespräche mit vermeintlichen Kandidaten in den Kriegsgefangenenlagern geführt. Besonders interessierte man sich für die Absolventen der so genannten Antifa-Schulen. Die ausgewählten Kandidaten wurden in einem Lager bei Moskau zusammengezogen. Von den 150 Offizieren erklärte sich über die Hälfte nach der Bearbeitung durch den sowjetischen Geheimdienst zum Dienst in der Volkspolizei bereit.[14] Zu ihnen stießen noch etliche Offiziere, die gerade den 11. Lehrgang der Zentralen Antifa-Schule Krasnogorsk abgeschlossen haben, also sozusagen von der Schulbank wegrekrutiert wurden.[15]

Die politische Zuverlässigkeit scheint nicht das einzige Auswahlkriterium gewesen zu sein. So scheint auch die Herkunft eine Rolle gespielt zu haben, wie Niemetz vermutet.[16] Es sollen Offiziere bevorzugt worden sein, die aus dem Gebiet der SBZ stammten oder dorthin familiäre Verbindungen hatten. Unzweifelhaft erscheint es, dass die fachliche Qualifikation eine Rolle gespielt haben muss. Es ist als einleuchtend zu betrachten, dass es wenig Sinn macht, einen Offizier im Hauptstab[17] einzusetzen, der über keinerlei Generalstabserfahrung verfügt. Es dürfte also kein Zufall gewesen sein, dass Vinzenz Müller für die Funktion des Stabschefs der HA GP/B ausgewählt wurde, schließlich diente er sowohl im Generalstab der Reichswehr als auch in dem der Wehrmacht und galt sogar als einer der begnadetsten Köpfe. Ähnliches gilt auch für Brandt und von Weech, die beide am Aufbau der Luftwaffe beteiligt waren.

Die Partei stand den ehemaligen Offizieren stets misstrauisch gegenüber. „Die Aufgeschlossenheit der sowjetischen Führung“, so Wenzke, „und auch einiger ostdeutscher Altkommunisten für eine Zusammenarbeit mit ausgewählten ehemaligen »Hitleroffizieren« konnte jedoch nicht über die tiefsitzenden Ressentiments der Mehrheit der kommunistischen Parteikader gegenüber diesen Personenkreis hinwegtäuschen“.[18] Bereits im Kriegsgefangenenlager war das Miteinander von ehemaligen Wehrmachtoffizieren und ehemaligen KPD-Funktionären nicht problemlos verlaufen. Gegenseitige Ressentiments und Vorurteile waren ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens in den Lagern. Zwar einte die beiden Fraktionen anfangs ein gemeinsames Ziel, nämlich die Beendigung der NS-Herrschaft, dies aber fiel nach dem Ende des Krieges weg. Und so ist es trotz der oftmals kaum vorhandenen politischen Vorbelastung vieler ehemaliger Offiziere[19] nicht verwunderlich, dass diejenigen, die sich zum Dienst in der KVP / NVA verpflichteten, mit Argusaugen beobachtet wurden. Vinzenz Müller beispielsweise wurde intensiv vom MFS bzw. dessen Vorgängerorganisation beobachtet.

3.3 Ehemalige Unteroffiziere und Mannschaftssoldaten

Wenn man bedenkt, dass bis zum Ende des Jahres 1948 eine Streitmacht von 10.000 Mann aufgebaut werden sollte, und für diese Personalstärke 600 Offiziere benötigt wurden, dann wird klar, dass man nicht mit 100 Offizieren und 5 Generälen auskommt. Es mussten also mehr Offizierstellen besetzt werden. Dies ging aber nur durch schnellere Beförderungen ehemaliger Unteroffiziere, von denen man unter den 5.000 Heimkehrern aus dem Jahre 1948 mehr als genug fand. Diese waren in der Regel militärfachlich gut ausgebildet und konnten aufgrund dieser Ausbildung auch höhere Dienstposten besetzen. Viele von ihnen mussten während des Krieges die Funktionen ihrer gefallenen oder gefangen genommenen Offiziere erfüllen, und hatten somit Erfahrung im Führen von Kompanien und Zügen. Des Weiteren war es in der Wehrmacht üblich, dass niedere Dienstgrade für den nächst höheren Kommandoposten ausgebildet wurden. So konnte ein Mannschaftsdienstgrad den Posten eines Unteroffiziers übernehmen, der Unteroffiziersdienstgrad den eines Feldwebels und so weiter. Dies war für die KVP insofern von unschätzbarem Vorteil, als dass es eben diese Posten waren, die es neu zu besetzen galt. Ein weiterer Vorteil war, dass die ehemaligen Mannschaftssoldaten und Unteroffiziere (mit und ohne Portepee) meist aus der erwünschten Klasse, nämlich der Arbeiterklasse[20], stammten. Zwar hatten diese einen geringeren Bildungsstand[21], sie hatten aber einen hohen politischen Organisationsgrad und galten somit als politisch zuverlässiger als die ehemaligen Wehrmachtoffiziere. Fingerle spricht davon, dass die neuen HVA-Offiziere mit proletarischer Herkunft eine ungenügende fachliche Qualifikation[22] gehabt hätten. Hier ist jedoch die Frage zu klären, ob dieser Fakt nicht etwas differenzierter zu betrachten ist. Dies mag auf jene zutreffen, die weitaus höhere Kommandoposten eingenommen haben, als den eines Kompaniechefs. Streletz wäre ein solches Beispiel, da er einen kometenhaften Karrieresprung gemacht hat. Jene Unteroffiziere, die eine Kompanie oder einen Zug führen sollten, sind zu Wehrmachtszeiten genau dafür ausgebildet worden. Bei diesen Leuten von fachlicher Inkompetenz zu sprechen ist zumindest fragwürdig. Einige der 48er sind später in den Rang eines Generals erhoben worden[23].

4. Von der Wehrmacht in die Volksarmee – Der Werdegang ehemaliger Wehrmachtangehöriger

4.1 Vinzenz Müller – General bei Hitler und Ulbricht

Einer der Generäle der ersten Stunde war Vinzenz Müller. Seinen gesamten Werdegang zu schildern würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher werden im Folgenden die wichtigsten Eckdaten genannt.

4.1.1 Ein Patriot im Zwiespalt?

„Um die Wahrheit zu finden, muss sich jeder einmal in seinem Leben von allen übernommenen Auffassungen frei machen und sich aufs Neue und von Grund auf das System seiner Erkenntnisse aufbauen.“[24] Mit diesen Worten von Descartes beginnt Vinzenz Müllers Biographie. Aber erklärt dieser Satz seine Persönlichkeit wirklich? Er war ein Katholik aus bürgerlichem Hause und ein passionierter Soldat. Er galt als sehr intelligent. Seine Leidenschaft zur Kunst war stets vorhanden. Meist schwankte Müller zwischen zwei Extremen. Er konnte gegenüber seinen Untergebenen beispielsweise einerseits väterliche Zuneigung zum Ausdruck bringen, andererseits aber auch sehr ungeduldig reagieren, was sich in Form von cholerischen Ausbrüchen zeigen konnte. Gegenüber seinen Vorgesetzten schwankte er meist zwischen einem selbstbewussten Auftreten und tiefer Verunsicherung. Zweifelsfrei galt er als Patriot, aber als einer mit politischer Nachdenklichkeit. Wer also war nun Vinzenz Müller? Geboren wurde er am 5. November 1894 in Aichach bei Augsburg. In den Jahren 1905 bis 1913 besuchte er das Klostergymnasium Metten, seine Eltern schickten ihn dort hin, weil die Schule einen hervorragenden Ruf genoss. Anschließend verpflichtete er sich beim 1. Bayrischen Pionierbataillon und diente seither in allen deutschen Armeen, mit Ausnahme der Bundeswehr. Seine Generalstabsausbildung schloss Müller im Jahre 1927 ab. In diesem Jahr erfolgte auch seine Beförderung zum Hauptmann. Nachdem er bereits mehrfach durch seine gute Arbeit aufgefallen ist, wurde er im Jahre 1935 zum Generalstab des Heeres versetzt. 1943 schließlich erfolgte seine Beförderung zum Generalleutnant. Später war er kommandierender General des 12. Armeekorps und stellvertretender Kommandeur der 4. Armee. In sowjetische Gefangenschaft geriet der Generalleutnant im Jahre 1944.

4.1.2 Kriegsgefangenschaft

Sofort nach seiner Gefangennahme schloss Müller sich dem Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) an. Bereits am Tag nach seiner Gefangennahme sprach er mit einem Armeebeauftragten des NKFD und fragte diesen, ob es sich hierbei um eine frei und selbständig agierende deutsche Organisation handele.[25] Auf diese Frage fand wohl auch der Armeebeauftragte, ein Feldwebel der Wehrmacht, keine befriedigende Antwort und beschränkte sich darauf auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass Hitler gestürzt werden müsse.[26] Daraufhin soll er geantwortet haben:

„ Mir ist eines klar: Dieser Krieg ist verloren und muss sofort eingestellt werden. Wenn ich gestern den Befehl gab, den Kampf einzustellen, so geschah dies, weil es mir die Vernunft und die Menschlichkeit geboten.“[27]

Kurz nach der Gefangennahme hatte Müller ein längeres Gespräch mit dem Sowjetischen Generalleutnant Lew Sacharowitsch Mechlis, seines Zeichens Mitglied des Kriegsrates bei der 2. Belorussischen Front und davor zeitweise Leiter der politischen Hauptverwaltung der Roten Armee, geführt. Während der Unterredung soll es zunächst einmal um militärische Fachfragen gegangen sein[28], später sei man dann auf die Deutschlandfrage zu sprechen gekommen. Müller hätte zugegeben am Aufbau Nazideutschlands mitgearbeitet zu haben und somit eine Mitschuld zu tragen. Er selbst sei aber kein Nazi gewesen. Deutschland würde wohl kaum eine Perspektive haben. Müller scheint also einen sehr pessimistischen Blick auf seine eigene Zukunft und die Deutschlands gehabt zu haben. In dieser Situation hat Mechlis ihm wohl [indirekt] eine Zukunft in Aussicht gestellt, wenn dieser die richtigen Konsequenzen, also einen Beitritt zum NKFD oder BDO [d. Autor], zog.[29] Der Historiker Peter Joachim Lapp vermutet, dass dieses Gespräch ein Schlüsselerlebnis für Müller war. Er begründet dies damit, dass man Müller von sowjetischer Seite eine gewisse Wertschätzung entgegengebracht wurde, was seine Phantasie und seinen Ehrgeiz angestachelt habe.[30] Diese Chance hat Müller ergriffen. Er trat in den Dienst der Sowjets. Eine seiner ersten Aufgaben war das Führen von Gesprächen mit dem Generalfeldmarschall Paulus und die Berichterstattung über diese Gespräche. Das Ziel dieser Zusammenkünfte war es, Paulus von der Notwendigkeit eines Beitritts zum NKFD zu überzeugen, was ihm wohl auch gelang. Am 8. August 1944 erklärte auch der Generalfeldmarschall seinen Beitritt zum NKFD, nachdem Müller selbst diesem offiziell am 3. August 1944 beitrat. Müller hatte damit einen Schlussstrich unter seine Vergangenheit gezogen[31] und mit allem gebrochen, was ihn mit der Wehrmacht und Nazideutschland verband. Im November 1944 besuchte Müller gemeinsam mit Arno von Lenski, Generalmajor und „Stalingrader“, einen Halbjahreslehrgang im Antifa – Lager Krasnogorsk. Beide Wehrmachtgenerale genossen dort eine Vorzugsbehandlung und Privilegien, wie zum Beispiel eine Sonderverpflegung. Gelehrt wurden Grundlagen des Marxismus – Leninismus, Politische Ökonomie, die Geschichte Russlands, der Sowjetunion und Deutschlands, letzteres auch unter Beachtung der Arbeiterbewegung. Durchgeführt wurden auch spezielle Schulungsmaßnahmen, so gab es beispielsweise Aussprachen zu aktuellen Fragen oder den gemeinsamen Empfang von Nachrichtensendungen. Dass diese stets von den sowjetischen Behörden gefiltert und in ihrem Sinne überarbeitet wurden, ist wohl nicht in Frage zu stellen. Zum Lehrpersonal in Krasnogorsk zählte auch der ehemalige Interbrigadist im spanischen Bürgerkrieg und spätere Verteidigungsminister der DDR Heinz Hoffmann. Das Verhältnis der beiden war von Anfang an nicht gut. Hoffmann misstraute Müller. Er glaubte nicht, dass der Generalleutnant sich tatsächlich gewandelt hat. Dieses Misstrauen – nicht nur von Hoffmann – wird Müller zeitlebens begleiten.

Während seiner Kriegsgefangenschaft engagierte sich Müller immer stärker im NKFD und ging dabei auch Kontroversen nicht aus dem Weg. So bezweifelten einige Generäle, dass die Sowjets an einem Gesamtdeutschland festhalten werde. Müller selbst hatte dem Anschein nach nie solche Zweifel. Er war vielmehr der Meinung, dass man mehr Vertrauen zur Sowjetunion haben sollte, ja sogar musste, um das deutsche Vaterland zu erhalten und dessen eigenstaatliche Existenz [in welcher Form auch immer, d. Autor] zu sichern.[32] Deshalb war Müller bereit, den deutschen Kommunisten für eine gewisse Zeit maßgeblichen Einfluss im Innern eines neuen Deutschlands zu gewähren. Er war der Meinung, dass ein künftiges Gesamtdeutschland wirtschaftlich stark genug sein würde, um mit den Sowjets auf Augenhöhe zu verhandeln. Müller war der Ansicht, dass Stalin ein mit der UdSSR verbündetes Deutschland wollte, das zwar antifaschistisch-demokratisch, nicht aber kommunistisch sein sollte. Letztendlich blieb das aber eine Vermutung, die sich nie erfüllen sollte.

[...]


[1] Dieses Prinzip gab es auch in den westlichen Armeen, auch die Bundeswehr gilt bis heute als Kaderarmee in diesem Sinne

[2] Referat von W. Stoph, die Lehren aus der Entwicklung der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und des Marxismus-Leninismus über die Rolle, Bedeutung der Kader und ihre Anwendung für die Arbeit mit den Kadern in der NVA [1959], Zitiert nach Fingerle, Stephan: „Waffen in Arbeiterhand? Rekrutierung des Offizierkorps der NVA und ihrer Vorläufer“, 1. Aufl., Berlin, Links Verlag 2001, S. 13f

[3] Vgl.: Wenzke, Rüdiger: Das unliebsame Erbe der Wehrmacht und der Aufbau der DDR-Volksarmee, In: Müller, Rolf Dieter, Volkmann, Hans-Erich: Die Wehrmacht, Mythos und Realität, Oldenbourg-Verlag, München 1999, S. 1117

[4] ebd.

[5] ebd.

[6] Der Begriff des Arbeiters war nicht exakt definiert, es zählten nahezu alle Berufsgruppen dazu, vor allem jedoch Industrie- und Landarbeiter

[7] zit. nach: Niemetz, Daniel: Das feldgraue Erbe, die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ / DDR“, Links-Verlag, Berlin 2006 S. 50

[8] Es ist wohl kaum zu erwarten, dass ein Mensch durch zwei Jahre „Schulung“ seine gesellschaftliche Sozialisation komplett vergisst.

[9] im Folgenden HA GP/B genannt

[10] Die Registrierung begann am 13. September

[11] Vgl. Wenzke, Wehrmacht S. 1119

[12] ebd.

[13] ebd.

[14] Vgl. Niemetz, Das feldgraue Erbe, S. 55.

[15] ebd.

[16] ebd.

[17] Die NVA hatte keinen Generalstab, de facto übernahm der Hauptstab diese Funktion.

[18] s. Wenzke, das unliebsame Erbe, S. 1122

[19] Selbst eine Mitgliedschaft in der NSDAP musste nicht unbedingt bedeuten, dass der Betreffende nationalsozialistisch gesinnt sein musste.

[20] zur Sozialstruktur s. Fingerle, Waffen in Arbeiterhand, S. 92-96

[21] Hier wird nicht vom Militärfachlichen Bildungsstand gesprochen!

[22] vgl. Fingerle, Waffen in Arbeiterhand, S. 95

[23] s. Anhang, Tabelle 1

[24] zit. nach: Diedrich, Torsten: Vinzenz Müller – Patriot im Zwiespalt, In: Ehlert, Hans; Wagner, Armin (Hrsg.): Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen, Links-Verlag, Berlin 2003, S. 125

[25] Diese Frage mag einem sehr töricht erscheinen, es ist wohl kaum anzunehmen, dass die Sowjets eigenständige deutsche Organisationen in ihren Lagern erlaubt hätten.

[26] s. Lapp, Peter Joachim: General bei Hitler und Ulbricht, Vinzenz Müller – Eine deutsche Karriere; Links-Verlag, Berlin 2003, S. 142

[27] s. ebd.

[28] Man kann den Verlauf des Gespräches nur sehr ungenau rekonstruieren, weil Müllers Memoiren nicht von ihm selbst verfasst oder zumindest beendet wurden (er starb vor der Fertigstellung) und daher eine Politisierung nicht ausgeschlossen ist (d. Autor).

[29] s. Lapp, Vinzenz Müller, S. 142f

[30] s. Lapp, Vinzenz Müller, S. 143

[31] s. Lapp, Vinzenz Müller, S. 145

[32] s. Lapp, Vinzenz Müller, S. 147

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Der Aufbau der Nationalen Volksarmee
Untertitel
Wehrmachtseinflüsse in der Kasernierten Volkspolizei und der NVA in ihren Gründerjahren
Hochschule
Universität Potsdam  (Historisches Institut)
Veranstaltung
Militärgeschichte der DDR
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
29
Katalognummer
V146138
ISBN (eBook)
9783640585304
ISBN (Buch)
9783640585588
Dateigröße
498 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
NVA, Nationalsozialismus, Militärgeschichte, DDR, General, Genosse, KVP, Kasernierte Volkspolizei
Arbeit zitieren
Michael Breska (Autor:in), 2007, Der Aufbau der Nationalen Volksarmee, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146138

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Aufbau der Nationalen Volksarmee



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden