Verfolgt, verdrängt, vergessen - Die Klavierwerke des tschechisch-jüdischen Komponisten Karel Reiner


Diplomarbeit, 2004

108 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung
I.1 Gegenstand und Fragestellung
I.2 Quellen und Material

II. Geburtsstunden: Kindheit und Jugend Karel Reiners zwischen Weltkrieg und Neubeginn in der ersten Tschechoslowakischen Republik.
II.1 Politische Wirren der Nachkriegszeit
II.2 Vielfalt in der Einheit: Auf der Suche nach dem persönlichen Stil

III. Lehrjahre
III.1 Josef Suk und Alois Hába
III.2 Musikalischer Spagat zwischen „Volkston“ und „Viertelton“
III.3 Vielschichtige Aufgaben: Emil František Burian und das Theater D 34-38

IV. Wachsende Bedrohung: Nationalsozialistische Machtübernahme und Liquidierung der Tschechoslowakischen Republik.
IV.1 Flucht in die Illegalität: Private Hauskonzerte
IV.2 Musikalischer Protest

V. Theresienstadt
V.1 „Mehr als nur die physische Existenz “: Musik hinter Stacheldraht und Ghettowall
V.2 „Freizeitgestaltung“ als Propaganda.

VI. Dem Tode entkommen: Rückkehr nach Prag
VI.1 Neubeginn in der „Sozialistischen Republik“
VI.2 Kader, Kunst und Komponisten.

VII. Gescheiterte Träume: Der „Prager Frühling“ und seine Konsequenzen
VII.1 Parteiaustritt mit Folgen.
VII.2 Erneute Verdrängung.
VIII. Zu Möglichkeiten und Grenzen der „Oral History“ für die Biografie- Forschung am Beispiel des Komponisten Karel Reiner.

IX. Politische Dimensionen im (Klavier)-Werk Karel Reiners

Verzeichnisse.

Nachweis der Abbildungen

Nachweis der Notenbeispiele

Register der Klavierwerke Karel Reiners

Personenregister

Literatur und Quellen

I. Einleitung

Musik und Politik weisen unterschiedlichste Berührungsebenen auf. Diese sind über das Funktionalisieren von Musik und ihrer Wirkung für politische Interessen, beispielsweise bei Märschen, Hymnen oder Propagandaliedern hinaus, auch anhand der konkreten Biografien von Künstlern und deren Werken nachvollziehbar, wenn auch nicht in jedem Fall eindeutig verifizierbar. Die Methoden des konkreten Nachweises dieser Zusammen- hänge reichen dabei von musikanalytischen Verfahren in Verbindung mit der Biografieforschung über kulturwissenschaftliche Interpretationen bis hin zu psycholo- gischen Erklärungsversuchen. Die Komplexität des Gesamtphänomens macht das Abwägen von Mitteln und Methoden für den jeweiligen Einzelfall jedes Mal aufs Neue unumgänglich.

Karel Reiner, einer der wichtigsten Vertreter der tschechischen Avantgarde-Musik, war unter zwei Diktaturen aus unterschiedlichen Gründen politischer Verfolgung bzw. Diskriminierung ausgesetzt. Die vorliegende Arbeit versucht, am Beispiel der Biografie und des Klavierwerkes dieses jüdischen Komponisten die komplexen Zusammenhänge von politischen Rahmenbedingungen und dem Schaffen dieses Künstlers aufzuzeigen und zu erörtern.

I.1 Gegenstand und Fragestellung

Ausgehend von Selbstzeugnissen Karel Reiners und Aussagen engster Vertrauter und Freunde sowie umfangreicher Archivrecherchen, werden in der vorliegenden Arbeit biografisch und künstlerisch relevante Stationen des Werdeganges eines Opfers zweier Diktaturen aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht.

In der Darstellung werden bewusst biografische und werkanalytische Gesichtspunkte miteinander verflochten, da auf diesem Wege die Beantwortung der Frage nach den wechselweisen Zusammenhängen von politischem Kontext, Entstehungsgeschichte und Komponistenintention am ehesten realisierbar scheint.

Da Karel Reiner als hervorragender Pianist eine besondere Affinität zum Klavier hatte und in jeder seiner noch genauer einzugrenzenden Schaffensphasen Kompositionen für dieses Instrument entstanden, lassen sie einen repräsentativen Einblick in die künstlerische Entwicklung des Komponisten zu. Daher stehen seine Solo-Klavierwerke im Zentrum dieser Arbeit. Wo es sinnvoll und nötig erscheint, werden die Ausführungen mit Beispielen aus dem umfangreichen kammermusikalischen, konzertanten und musikdramatischen Schaffen des Komponisten ergänzt.

Eine Rekonstruktion des Lebensschicksals des Komponisten lässt sich nur mit Hilfe von Zeitzeugenbefragungen durchführen: Für die Zeit seiner Inhaftierung im Ghetto Theresienstadt und in den Lagern Dachau und Auschwitz sind die Aussagen von Mitgefangenen und seine eigenen Darstellungen des Geschehenen die einzigen Informationsquellen, die neben den bürokratischen Zeugnissen des NS-Apparates, wie beispielsweise Transportlisten und Protokollen medizinischer Untersuchungen, zur Klärung der tatsächlichen Lebensumstände beitragen können. Ähnliches lässt sich über die Problematik der politischen Repressalien unter der kommunistischen Diktatur nach 1968 sagen. Auch hier kommt den Aussagen von Personen mit ähnlichen Erfahrungen, die damit die „Opfersicht“ verkörpern, eine besondere Bedeutung zu.

Die vergleichende Analyse dieser Zeugnisse und der vorhandenen Dokumentationen der jeweiligen offiziellen Instanzen der politischen Systeme veranschaulicht aber auch, dass grundsätzlich eine deutliche Trennung vorgenommen werden muss: Zwischen der existentiellen Bedrohung und den physischen Qualen, wie sie von den Nationalsozialisten ausgingen, einerseits, und den sich hauptsächlich an politischen Schikanen, wie Aufführungs- oder Reiseverboten festmachenden Repressalien des totalitären kommunistischen Machtapparates in der Tschechoslowakei, insbesondere nach den Ereignissen des Sommers 1968, andererseits.

Die große Bedeutung, die der Befragung von Zeitzeugen für die Rekonstruktion von Leben und Werk des Komponisten zukommt, wird in einem der abschließenden Kapitel in einen übergeordneten Zusammenhang gebracht. Dort wird der „subjektzentrierte“ Zugang zur Thematik in Hinblick auf methodische Probleme und seine themenspezifische Relevanz diskutiert. Im Mittelpunkt wird dabei die Frage stehen, inwieweit und auf welche Art und Weise der offenkundig vorhandenen Überlast an Täterdokumentation unterschiedlichster Form, die sich trotz der ständig wachsenden Zahl von Selbstzeugnissen ehemaliger Gefangener nach wie vor insbesondere für das nationalsozialistische KZ-System konstatieren lässt, ein regulierendes und aufklärendes Gegengewicht an so genannter Opferdokumentation gegenübergestellt werden kann.

Im Rahmen dieser Arbeit soll auch kritisch hinterfragt werden, warum die Musik Karel Reiners, der als Komponist und Pianist im Ghetto Theresienstadt wirkte, bis heute kaum Beachtung im Rahmen sich ständig mehrender Gedenkkonzerte findet. Diese Gedenkkonzerte werden nur allzu oft mit Bezeichnungen, wie „Musik aus Theresienstadt“ etikettiert und wirken damit gelegentlich sogar der eigentlichen Intention solcher Veranstaltungen kontraproduktiv entgegen, indem sie den Fokus auf die zweifellos zahlreichen kulturellen Aktivitäten hinter Stacheldraht richten, nicht jedoch auf die eigentliche von Elend und Tod geprägte Lagerrealität. So gibt es bis heute keine eigenständige Monographie über Karel Reiner, wie sie für viele seiner „Theresienstädter Kollegen“, denen es allerdings - anders als ihm - nicht vergönnt war, zu überleben, bereits existieren.1

Dies verwundert umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, welch hohen Bekanntheitsgrad Karel Reiner bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatte und welche bedeutende Rolle er auch für die Entwicklung der tschechischen Neuen Musik nach 1945 spielte.

I.2 Quellen und Material

Eine besondere Bedeutung kam sowohl für den Bereich biografischer Fakten als auch in Hinblick auf Noten- und Archivmaterial unterschiedlichster Art der zeitaufwendigen Recherche nach geeignetem Quellenmaterial zu. In Ermangelung aussagekräftiger Sekundärquellen, die über das Leben Karel Reiners hinreichend Auskunft geben - sieht man einmal von der Zeit seiner Inhaftierung im Ghetto Theresienstadt ab, für die zumindest die Lebensumstände genauer recherchiert sind2 - entstammen die biografischen Informationen hauptsächlich Gesprächen mit der Witwe des Komponisten, Hana Reinerová, der in diesem Zusammenhang mein besonderer Dank gilt.

Zusätzlich wurden zahlreiche Zeitzeugen schriftlich oder mündlich befragt, die den Komponisten entweder während der Zeit seiner Internierung im nationalsozialistischen KZSystem kennen lernten, ihn bereits zuvor kannten oder auch erst in der Zeit nach dessen Rückkehr nach Prag 1945 seine Bekanntschaft machten. Hierbei handelt es sich vorwiegend um Freunde und Künstlerkollegen Karel Reiners.

Vom Komponisten selbst existiert ein so genannter „Kommentar zum Lebenslauf“,3 in dem Karel Reiner auf Bitte des Tschechischen Musikfonds [Český Hudební Fond] - ergänzend zu bereits vorhandenen Artikeln - seinen musikalischen Werdegang skizziert, und über einzelne Etappen seines Lebens sowie seine wichtigsten ]Lehrer berichtet. Ergänzt werden die Ausführungen durch eine umfangreiche Dokumentation von Briefwechseln, in denen sich Karel Reiner über einzelne Werke oder Aufführungsproblematiken äußert.

Dieser Kommentar war ursprünglich in Auftrag gegeben worden, um als Grundlage für eine geplante Monografie zu dienen, zu deren Umsetzung und Herausgabe es jedoch nie kam.

Durch diesen Umstand existiert der Kommentar nur als Manuskript, das vom Komponisten nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war und daher öffentlich nicht zugänglich ist. Der überwiegende Teil der Recherchen wurde vor Ort in Prag in Musikverlagen, Museen, Gedenkstätten, Bibliotheken, privaten Sammlungen und städtischen wie staatlichen Archiven vorgenommen.4 Darüber hinaus bestanden Kontakte zu Organisationen und Personen, die sich speziell mit einzelnen für diese Arbeit relevanten Ereignissen und Zeitabschnitten der tschechischen Geschichte befassen.5

Insbesondere für die Ereignisse des Sommers 1968 und die anschließende systematische „Säuberung“ aller Parteiorgane und Institutionen von nicht-systemkonformen Funktionsträgern und kritischen Intellektuellen sind konkrete Dokumente und Schriftquellen, die im Rahmen dieser Arbeit von Interesse sind, nur schwer oder gar nicht zugänglich. Gerade hier konnte die Rekonstruktion der Geschehnisse durch Zeitzeugen und Personen, die sich speziell der Erforschung dieser Ereignisse widmen, erhellende Einsichten bieten und durch Gespräche die mangelhafte Quellenlage ausgleichen.

Das für die Arbeit herangezogene Notenmaterial stammt zum einen aus noch käuflich zu erwerbenden Restbeständen der ehemaligen Herausgeber des Notenmaterials von Karel Reiner (Verlag Panton bzw. Supraphon), sowie aus antiquarischen Beständen, zum anderen (dies gilt in erster Linie für die benutzten Autographen, die teilweise nie in Druck gegangen sind) aus dem Privatbesitz von Hana Reinerová. Ähnliches lässt sich über die Tondokumentationen sowohl der pianistischen als auch der kompositorischen Zeugnisse des Künstlers sagen, die von privaten Tonaufnahmen über Rundfunkproduktionen bis hin zu Konzertmitschnitten reichen.

II. Geburtsstunden: Kindheit und Jugend Karel Reiners zwischen Weltkrieg und Neubeginn in der ersten Tschechoslowakischen Republik

Karel Reiner wurde am 27. 6. 1910 als Sohn von Sime (Sabine)6 Reinerová, geborene Scherlag, und Josef Reiner im nordböhmischen Žatec (Saaz) geboren. Die weltoffene Erziehung durch das Elternhaus, die politischen Rahmenbedingungen und die kulturellen Gegebenheiten seiner unmittelbaren Umgebung ließen ihn während der ersten Lebensjahre in einem von Toleranz und ethnisch-kultureller Vielseitigkeit geprägten Klima aufwachsen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Geburtshaus Karel Reiners In Žatec (Saaz)7

Seine Mutter, aus einer Wiener Familie und sehr einfachen Verhältnissen stammend, wirkte dabei ebenso auf ihn ein, wie sein Vater, der sich vor allem der musikalischen Ausbildung seines Sohnes widmete. Josef Reiner selbst arbeitete zur Zeit der Geburt Karel Reiners als Oberkantor der jüdischen Gemeinde von Saaz. Er stammte ursprünglich aus Czernowitz, dem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum der Bukowina, die bis 1918 zur Habsburger Monarchie gehörte. Dieser Treffpunkt jüdischer Tradition und vielseitiger Kulturen der Ostkarpaten prägte die Jugend Josef Reiners, der seine musikalische Ausbildung später in Wien vollendete und am dortigen Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde 1897 seine Reifeprüfung in Gesang und dramatischer Darstellung ablegte. Erst nach einer Stimmbanderkrankung, die einer Gesangskarriere entgegenstand, entschied sich Josef Reiner für den Beruf des Kantors, der ihm eine existenzielle Sicherheit bot. Er sollte ein hohes Niveau der musikalischen Gottesdienstumrahmung garantieren. So entstanden unter anderem auch eigene Kompositionen für Orgel und den Gemeindechor, den Josef Reiner leitete.

Seine umfangreichen Aufgaben als Kantor stellten jedoch lediglich eine berufliche Nebentätigkeit dar, die sein hauptberufliches Engagement als Klavier- und Gesangspädagoge ergänzten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2: Abschlusszeugnis des Musikstudiums Josef Reiners vom 15. Juli 1897

Die Familie Reiners erlebte den Beginn des 20. Jahrhunderts in Žatec/Saaz in einer Atmosphäre aus aufkeimendem romantischem Nationalismus und zunehmender Etablierung tschechischer Traditionen und Kultur inmitten der Habsburger Monarchie. Insbesondere die tschechische Musik mit Bedřich Smetana, Antonín Dvořak und später Leoš Janáček als exponiertesten Vertretern gewann international großes Ansehen und weckte in den Musikzentren das Interesse an explizit tschechischer Musiktradition. Die politischen Ideen, die sich aus dem zunehmenden nationalen Selbstbewusstsein und aus den Konsequenzen des Umbaus der k. u. k. Monarchie allmählich entwickelten, ließen sich jedoch nicht zu einem einheitlichen Programm oder Konsens nationaler Interessen vereinigen.8 So brachte der überraschende Kriegsausbruch 1914 zunächst viele offene Fragen insbesondere in Bezug auf die Position Böhmens und Mährens mit sich.

Wie viele Reservisten musste auch Josef Reiner dem Einberufungsbefehl folgen, den er 1915 erhielt. Nach dem Besuch einer Offiziersschule in Uničov und einer sich ab 1916 anschließenden Tätigkeit bei der Eisenbahnkommandantur in Trient kehrte nach einer für ihn und seine Familie entbehrungsreichen Zeit am Ende des Krieges vermutlich direkt aus Trient zurück.9

II.1 Politische Wirren der Nachkriegszeit

Die Folgen des Krieges und die konkreten Auswirkungen im alltäglichen Leben dürfte auch der junge Karel Reiner zu spüren bekommen haben. Neben den Beeinflussungen und Veränderungen in seinem direkten Umfeld, wie beispielsweise in der Schule, war es in allen Landesteilen insbesondere das erstarkende Nationalbewusstsein, das, getragen von dem Wunsch nach Eigenständigkeit der tschechischen Gesellschaft, breite Bevölkerungs- schichten ergriff. Die Ausrufung der Ersten Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918 schien der vorläufige Höhepunkt und das angestrebte und nun erreichte Ziel aller nationalstaatlichen Bestrebungen zu sein.10 Dass die kulturelle und ethnische Vielfalt aus deutschen, jüdischen, tschechischen und österreichischen Elementen, die Karel Reiner während seiner Kinderzeit begleitet hatten, auf politischer Ebene zum Teil zu antagonistischen Fronten avancierten und zahllose Probleme heraufbeschworen, war der Preis, den der junge Staat für seine Souveränität zahlen musste. Im Vergleich zu ihren Nachbarn gelang es der jungen Republik jedoch recht schnell, diese Probleme mit demokratischen Mitteln zu bewältigen, sich als Rechtsstaat zu konsolidieren und die Wirtschaft zu stärken.11

In dieser Aufbruchs- und Umbruchsstimmung der Anfangsjahre der Ersten Tschechoslowakischen Republik mag es für einen jungen Menschen wie Karel Reiner besonders schwierig, aber auch herausfordernd gewesen sein, nach Orientierung, eigenen Maximen und Zielen zu suchen. Während der Schulzeit Karel Reiners zeichnete sich neben seinem großen Interesse für gesellschaftliche und politische Fragen auch seine außerordentliche Begabung auf musikalischem Gebiet ab. Insbesondere seine bemerkens- werten pianistischen Fähigkeiten und seine rasche Auffassungsgabe ermöglichten ihm dabei sowohl die schnelle Aneignung des klassisch-romantischen Repertoires als auch der Werke moderner tschechischer Komponisten seiner Zeit. Wie sich Hana Reinerová erinnerte, war er „ein sehr guter Pianist. Besonders, weil er direkt von Noten - also vom Blatt - spielen konnte, und […] ein sehr guter Gesang-Begleiter.“12

Als erstes öffentliches Konzert des jungen Künstlers ist ein Schulkonzert belegt, bei dem Karel Reiner im Alter von 16 Jahren als Pianist in Erscheinung trat.13 Ihm sollten in den darauf folgenden Jahren zahlreiche Konzerte im In- und Ausland folgen.

II.2 Vielfalt in der Einheit: Auf der Suche nach dem persönlichen Stil

Neben seinen Klavierstudien begann Karel Reiner schon frühzeitig mit autodidaktischen Kompositionsstudien. Gerade 18jährig schrieb er Neun lustige Improvisationen (1928/29), die zu Beginn der 1930er Jahre als sein op. 114 gedruckt wurden und die der Autor selbst am 23. 11. 1934 in einem Konzert uraufführte.15 Von den ursprünglich 25 kurzen Impro- visationen, die der Komponist schrieb, hielten lediglich neun seiner Selbstkritik stand. Hierbei handelt es sich um rhythmisch und melodisch stark kontrastierende Miniaturen, die - häufig auf der Ganztonskala basierend - die Vorliebe Reiners zu „Kurzformen und ungebundener Melodiebildung“16 erkennen lassen.

Die einzelnen Stücke sind mit folgenden Bezeichnungen versehen:

I. Moderato - II. Allegretto - III. Moderato - IV. Allegro - V. Živě [lebhaft]- VI. Allegro moderato - VII. Moderato - VIII. Allegro - IX. Rychle [schnell].

Zusätzlich gibt Karel Reiner für seine Kompositionen genaue Metronomzahlen vor und notiert trotz der Kürze der einzelnen Stücke zahlreiche und sehr genaue Interpretations- vorgaben in Bezug auf Dynamik, Artikulation, Phrasierung, Tempo und Agogik. Diese Genauigkeit der Notation, die dafür spricht, dass Karel Reiner sehr konkrete Vorstellungen über die Art und Weise des Vortrags seiner Kompositionen hatte, lässt sich für all seine Werke konstatieren und wird insbesondere bei seinen Klavierkompositionen auf eigene Spielerfahrungen gegründet sein. Auch Rückschlüsse auf die eigene Spielweise des Komponisten sind denkbar. Dennoch lassen die zahlreichen Interpretationsvorgaben noch genügend Raum für vielseitige Interpretationen dieser kontrastierenden Miniaturen. Die Improvisation Nr. I (Moderato) exponiert eine lyrische Melodie, die in der linken Hand von einer mit Chromatik spielenden und sich stetig leicht verändernden Bassfigur begleitet wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Notenbeispiel 1: Improvisation Nr. I, T. 1-617

Improvisation Nr. II (Allegretto) ist eine Art Mini-Scherzo, während Nr. III (Moderato) mit den Läufen in der linken Hand, die zu Beginn konsequent und im weiteren Verlauf nach einem bestimmten Muster die schwarzen und weißen Tasten abwechseln, in der Konzeption an eine Etüde erinnert.

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Notenbeispiel 2: Improvisation Nr. III; T. 1-6.

In Nr. IV (Allegro) verarbeitet der Komponist Sequenzen von Ganztonskalen, die in ihrer schnellen Abfolge immer wieder von rhythmisch prägnanten Akkordakzenten unterbrochen werden. Improvisation Nr. V (Živě) hingegen bildet einen scharfen klanglichen Gegensatz zur vorhergehenden Miniatur. Die impressionistisch anmutende Melodie, deren chromatische Elemente spannungsgeladen ineinander verwoben sind, erschafft einen fast sphärenhaften Klangteppich, der so gar nicht für eine Miniatur geschaffen scheint, sich aber trotz der Kürze voll entfalten kann.

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Notenbeispiel 3: Improvisation Nr. V, T. 1-3.

Improvisation Nr. VI (Allegro moderato) bildet das konzeptionelle Gegenstück zu Nr. III, indem hier die Etüdenfiguren in der rechten Hand erscheinen, wobei durch das geschickte Spiel mit Chromatik und Ganztonskala der etüdenhafte Charakter weniger stark ausgeprägt scheint. Dieser Miniatur folgt mit Nr. VII (Moderato) ein Stück, das die vom Komponisten bis dahin eingebrachten Elemente aufgreift, sie jedoch förmlich karikiert. Besonders die absichtlich einfach gestaltete Liedmelodie, die in der Ganztonleiter (T. 17ff.) ihren Höhe- punkt findet, versucht auf spielerische Weise alle bisher genutzten musikalischen Elemente, vor allem melodische Bögen und dynamische Differenzierungen, in Frage zu stellen.

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Notenbeispiel 4: Improvisation Nr. VII, T. 16-30.

Aufgeregte Septimensprünge sind das charakteristische Merkmal der Improvisation Nr. VIII (Allegro) und offenbaren ausgelassene Spielfreude. Das Werk endet in Nr. IX mit einem Stück, das einem Eilmarsch ähnelt, und dessen melodische Floskeln und Einwürfe an Spielmannszüge mit Trommeln und Pfeifen erinnern. Insgesamt lässt das Werk bereits die erstaunliche Vielseitigkeit und den Einfallsreichtum des Komponisten erahnen - Merkmale, die für sein späteres Schaffen charakteristisch werden sollten.

Zu den Jugendwerken des Komponisten gehören auch die 27 kleinen Inventionen (1929) und die 5 Jazzstudien (1930) für Klavier. Beide Werke wurden nicht gedruckt und existieren daher lediglich als Autographen. Während die Jazzstudien bereits 1935 durch Erwin Schulhoff (1894-1942), einen Pianisten- und Komponistenkollegen Reiners, uraufgeführt wurden, erklangen die Inventionen erstmalig und vom Komponisten selbst interpretiert 1946 in einem Konzert.18 Beide Werke heben sich neben den offenkundigen formalen und stilistischen Unterschieden vor allem durch ihre Klangsprache deutlich von den 9 lustigen Improvisationen ab. Reiner nutzt bekannte und gängige stilistische, rhythmische und melodische Elemente, kombiniert sie jedoch auf eine Art und Weise, die eine ganz neue Klangfarbe offenbaren, die sich der Komponist zu eigen macht. So entpuppen sich die kurzen Jazzstudien (handschriftlich 14 Seiten Din A3) bei genauerer Betrachtung weniger als explizite Jazzstücke mit Klangmerkmalen, wie sie zu Beginn der 1930er Jahre vielleicht zu vermuten gewesen wären, sondern vielmehr als Klangexperimente, bei denen der Komponist sich auszuprobieren scheint.

Auch die sehr kurzen 27 kleinen Inventionen (handschriftlich 18 Seiten Din A4) tragen Klangstudiencharakter. Beinahe spielerisch experimentiert Karel Reiner mit den Stimmen der einzelnen Inventionen, die mal miteinander, mal gegeneinander verlaufen und mal gleichberechtigt, mal klar hierarchisch konzipiert sind. So wetteifern die beiden Stimmen der Invention Nr. X miteinander und tragen innerhalb der ersten sieben Takte ein Frage- Antwort-Spiel aus, das - beginnend im Auftakt zu Takt 8 - in einer aufsteigenden Linie auf der Grundlage Schönbergscher Reihentechnik, und mit einem abschließenden Tonsprung über fast vier Oktaven ein Ende findet.

Die Invention Nr. XI hingegen ist eher homophon angelegt, wobei die Einzelstimmen bis auf wenige Ausnahmen in Gegenbewegung zueinander verlaufen und durch die konsequent eingesetzten Achtel- und Sechzehntelbewegungen, die erst im letzten Takt ein abruptes und unerwartetes Ende nehmen, kaum zur Ruhe kommen.

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Notenbeispiel 5: Inventionen Nr. X und XI, Autograph (S.6)

Bis auf zwei Ausnahmen sind alle der Inventionen zweistimmig. Lediglich Nr. XV und Nr. XVII sind einstimmig, wobei die erste dieser beiden Inventionen durchgängig im Bass- und die zweite im Violinschlüssel notiert ist. Der Schwierigkeitsgrad der einzelnen Stücke ist sehr verschieden und reicht von leicht bis pianistisch anspruchsvoll.

III. Lehrjahre

Die eigenen Berufs- und Lebenserfahrungen Josef Reiners mögen dazu geführt haben, dass er trotz der offenkundigen musikalischen Begabungen seines Sohnes dessen Plan, ein Musikstudium zu beginnen, ablehnend gegenüberstand und ihm stattdessen eine Ausbildung und das Erlernen eines „anständigen Berufes“19 nahe legte. So nahm Karel Reiner nach dem Abitur am deutschen Realgymnasium von Žatec 1928 ein Studium an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Prager Karlsuniversität auf, das er erfolgreich 1933 mit der Promotion zum Dr. jur. abschloss.20

Im Anschluss an diese Studien besuchte Karel Reiner - seinen Interessen folgend - in den Jahren 1934/35 auch musikwissenschaftliche Vorlesungen der Philosophischen Fakultät.

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Abb.3: Studienbuch Karel Reiners an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität

III.1 Josef Suk und Alois Hába

Weder die Empfehlungen des Vaters noch das intensive und zeitaufwendige Studium der Rechtswissenschaft konnten Karel Reiner davon abbringen, sich seinen eigentlichen musi- kalischen Interessen, insbesondere dem Komponieren, auch weiterhin zu widmen. Nach dem Besuch eines Konzertes der tschechischen Philharmonie, bei dem ein mit Jazzklängen experimentierendes Werk des Komponisten und Pianisten Erwin Schulhoff aufgeführt

wurde, wandte sich Karel Reiner an Schulhoff mit der Bitte, bei ihm Kompositionsunterricht nehmen zu dürfen. Dieser unterrichtete privat nur Klavier und kommentierte den Unterrichtswunsch des jungen Kollegen mit den Worten „Das brauchen Sie von mir nicht lernen; das können Sie schon.“21 Schulhoff blieb Karel Reiner jedoch freundschaftlich verbunden und vermittelte ihn an Alois Hába, bei dem Reiner parallel zu seinen JuraStudien in den Jahren 1929/30 privaten Kompositionsunterricht nahm.

Alois Hába, Schüler Vítězslav Nováks und Franz Schrekers, war zu diesem Zeitpunkt bereits eine bedeutende Persönlichkeit des Prager Musiklebens. Als Verfechter des Vierteltonsystems und Komponist zahlreicher Werke im Viertel-, Fünftel-, Sechstel- und im diatonisch-chromatischen Tonsystem erregte er in der Fachpresse des In- und Auslandes Aufsehen.22 Neben seiner Experimentier- freude, die er an seinen Schüler Karel Reiner weitergab, zeichnete

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.4: Alois Hába (1893-1973)

er sich besonders durch die Verwissenschaftlichung seiner Kompositionsmethoden, namentlich den „athematischen Musikstil“, aus. Diese etwas missverständliche Bezeichnung meint dabei nicht etwa den Verzicht auf thematische oder motivische Arbeit, sondern lediglich die Abgrenzung zu traditioneller „thematischer Arbeit“, die stark formabhängig ist. Hába betrachtet umgekehrt den musikalisch-thematischen Einfall als Grundlage, durch die letztlich die Form bestimmt wird. Sein theoretisches Werk „Neue Harmonielehre des diatonischen, chromatischen, Viertel-, Drittel, Sechstel und Zwölftonsystems“ (1927, Nachdruck 1978) diente auch Karel Reiner als Studiengrundlage.23

Auf Empfehlung von Alois Hába, der Karel Reiner nahe legte, nach seinen privaten Studien ein offizielles Kompositionsstudium zu absolvieren, ging der junge Komponist ans Prager Konservatorium und besuchte 1931 die Meisterklasse von Josef Suk. Die eigentlich zweijährige Ausbildung in der Meisterklasse absolvierte er in nur einem Jahr - nach wie vor parallel zu seinen Jura-Studien.

Suk, Schüler und späterer Schwiegersohn Antonín Dvořaks, ging - anders als Hába - von einer natürlichen Musiksprache aus. Im Spannungsfeld neoklassizistischer Tendenzen, der Musiktradition des 19. Jahrhunderts und der musikalischen Moderne entwickelte er eine eigene Klangsprache, deren Ausdrucksmittel harmonische Erweiterungen und polyphone Intensivierungen erfuhren. Das Aufbrechen metrischer Strukturen zeichnete seinen individuellen Kompositionsstil dabei ebenso aus, wie die Liebe zu kontrapunktischer Dichte. Josef Suk, in dessen Meisterklasse sich eine große Anzahl außerordentlich begabter Komponisten befand,24 äußerte sich stets positiv über Karel

Reiner und hob seine besonderen Begabungen hervor. Bei einem Konzert im Jahre 1934, das Schüler und ehemalige Studenten für ihren Lehrer Suk organisiert hatten, gab er Karel Reiner mit den Worten: „Dir, mein lieber Karel, mit deinem knabenhaften Alter und Aussehen, wünsche ich, dass du einer der herausragendsten Vertreter deiner Stilrichtung wirst…“25

seinem zu diesem Zeitpunkt bereits ehemaligen Studenten die besten Wünsche mit auf den Weg.

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Abb.5: Josef Suk (1874-1935)

Die großen Unterschiede zwischen Hába und Suk, die Karel Reiner als seine Lehrer maßgeblich prägten, wirkten sich überaus positiv auf das kreative Schaffen des jungen Komponisten aus, der von Hába zum Teil die so genannte „athematische“ Kompositionsmethode übernahm, aber aus den vielseitigen Anregungen, die ihm seine beiden Lehrer offerierten, einen ganz eigenen Stil entwickelte.

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Abb.6: Zeugnis Karel Reiners für die Kompositionsmeisterklasse Josef Suks 1931

Zu beiden Künstlerpersönlichkeiten entwickelte Karel Reiner ein freundschaftliches Verhältnis. Bis zu Suks Tod 1935 bestand ein enger Kontakt zwischen ihm und seinem ehemaligen Studenten.

Alois Hába blieb Karel Reiner auch nach dem Krieg freundschaftlich verbunden. Die eigentliche künstlerische Zusammenarbeit zwischen beiden entwickelte sich erst in dieser Zeit, auf die an späterer Stelle noch ausführlicher eingegangen wird.

III.2 Musikalischer Spagat zwischen „Volkston“ und „Viertelton“

Noch während des Unterrichts bei Josef Suk begann Karel Reiner 1931, nachdem er zwischenzeitlich mehrere Kammermusikstücke komponiert hatte, mit der Arbeit an einer Suite für Klavier in zwölf Sätzen, die er noch im gleichen Jahr beendete, und die aufgrund der Satzanzahl den Titel Dvanáct trug. 32 Jahre später, im Jahre 1963 griff der Komponist dieses Werk erneut auf, um es für Bläserquintett zu bearbeiten. Bekannt geworden ist insbesondere die Bläserfassung, die 1968 veröffentlicht wurde. Die Klavierfassung hingegen wurde nie ediert und existiert daher nur im Autograph.

Das Autograph ist mit dem Titel „dvanáct“, malá zábavní hudba pro klavír a 2ms. [„Zwölf“, kleine unterhaltsame Musik für Klavier zu zwei Händen] überschrieben. Im Gegensatz zur späteren Bläserfassung, deren Einzelsätze mit gängigen italienischen Satzbezeichnungen versehen sind, tragen die einzelnen Sätze der Klaviersuite tschechische Überschriften, die wie folgt lauten:

I. Uvod [Einleitung] - II. rychle [schnell] - III. pohodlně [bequem]- IV. pochod [Marsch] - V. tězce [schwer]- VI. hravě [spielend] - VII. malý slowfox [kleiner Slowfox]- VIII. etuda [Etüde] - IX. zvolna v 5/4 taktu [langsam im 5/4-Takt] - X. vesele [fröhlich] - XI. malá mezihra [kleines Intermezzo] - XII. finale.

Die Einzelsätze dieses größeren Klavierwerkes (handschriftlich 14 Seiten Din A4) sind charakterlich sehr verschieden und differieren auch in ihrem pianistischen Anspruch sehr stark.

Was die Genauigkeit und Ausführlichkeit der interpretatorischen Vorgaben anbelangt, so lassen sich auch hier die Eigenheiten konstatieren, die bei den zuvor besprochenen Stücken anzutreffen waren. Witz und Einfallsreichtum insbesondere in Bezug auf kurze motivische Einwürfe und harmonisches Experimentieren erinnern dabei stark an die 9 lustigen Improvisationen. Der Hörerwartung, die der Interpret und Publikum bei Sätzen wie dem malý slowfox in Erwartung des vermeintlich Bekannten haben mögen, wird auch hier nicht entsprochen. Gekonnt spielt Karel Reiner mit harmonischen Finessen und sucht nach Ausdrucksmitteln abseits gängiger Konventionen. Selbst die Etüde (Nr. VIII) erinnert mit ihren Unisono-Passagen zwischen rechter und linker Hand (T. 1-5) und den sich anschließenden Terzenfiguren mit immer wiederkehrenden Wechselnoten (T. 6ff.) eher an einen musikalischen Spaß, als an ein technisches Übungs- oder virtuoses Vortragsstück.

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Notenbeispiel 6: Nr. VIII etuda (Beginn) mit Bleistifteintragungen für spätere Bläserfassung, Autograph (S. 9)

Wieder ist es Karel Reiners Vorliebe zu „Kurzformen und ungebundener Melodiebildung“,26 die ein unvergleichbar breiteres Experimentierfeld bietet, als dies bei größer angelegten Werken der Fall sein könnte.

Das erste große Klavierwerk Karel Reiners ist nicht nur Synthese dessen, was er in den kleineren Studien experimentell entwickelt und erprobt hat, sondern markiert auch den Abschluss seiner gesamten ersten Schaffensperiode. Die I. Klaviersonate des Komponisten entstand ebenfalls noch in der Meisterklasse Suks 1931 unter dessen Anleitung und ist als musikalisches Ergebnis insbesondere auch der Anregung und Beeinflussung durch Alois Hába zu sehen. Karel Reiner widmete sie daher auch seinem ehemaligen Lehrer Hába.

Die ursprünglich mit der Opuszahl 10 versehene Sonate in drei Sätzen trug zunächst den Titel „Kleine Sonate für Klavier“ und war ein typisches Beispiel für die tschechische musikalische Avantgarde zu Beginn der 1930er Jahre.27

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Notenbeispiel 7: I. Sonate, 1. Satz Allegro energico, T. 1-7, mit Widmung für A. Hába

Bereits im Juni 1932 spielte Karel Reiner diese Sonate (nun unter dem Titel I. Sonate für Klavier) beim Internationalen Festival der Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) in Wien und erregte großes Aufsehen mit seinem Werk, das insbesondere durch zahlreiche kompositorische und stilistische Wagnisse gekennzeichnet war, die Karel Reiner in einer angenehm geschlossenen Form zusammenfügte.

Im „athematischen“ Stil und atonal komponiert, ist das Werk im Wesentlichen durch die auffällige Häufung kleiner Sekunden, Nonen und großer Septimen gekennzeichnet. Der erste Satz der dreisätzigen Sonate Allegro energico ist in sechs Abschnitte gegliedert, die in sich weitere Unterteilungen erfahren. Karel Reiner entwickelt aus zahlreichen kontrastierenden Gedanken immer neue Variationen; ein rhythmisch prägnantes und kraftvolles Hauptthema und lyrische Nebenthemen sind zu erkennen, erinnern in der Verarbeitung aber bestenfalls entfernt an die klassische Sonatenform. Offenkundig ist das gelegentliche Anklingen von Blues-Intonationen.

Der zweite Satz Andante con moto lässt sich in drei große Abschnitte unterteilen und ist von der Konzeption her polyphon. Ohne stilistische und kompositionstechnische Ähnlichkeiten aufzuweisen, erinnert dieser Satz in Stimmung und Ausdruck an frühe Klavierwerke Arnold Schönbergs. Weitgespannte, häufig über mehrere Takte reichende Melodiebögen, gepaart mit einer vom Komponisten geforderten sehr freien Agogik erschaffen zarte Klangfarben und fordern vom Interpreten ein besonderes Gespür für Klangmalerei und Spiel mit musikalischen Stimmungsbildern.

Den dritten Satz Allegro con brio beschreibt Karel Reiner selbst als Verbindung von Elementen des klassischen Scherzos, eines Finales und eines „pianistischen Bravourstückes“.28 Besonders auffällig sind die großen Intervallsprünge, die teilweise über die gesamte Klaviatur führen, ebenso die zahlreichen synkopischen Elemente. Nach melodisch und dynamisch stark kontrastierenden ersten Abschnitten folgt ein marschähnlicher Teil, dem nach kleineren verspielten Episoden eine Coda mit einem rasanten Abschluss folgt.

Trotz des beachtlichen Erfolges den Karel Reiner mit diesem Werk in der Fachpresse errang, wurde es erst im Jahre 1963, also mehr als 30 Jahre nach seiner Entstehung ediert und damit einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Der Solosonate folgte 1932 mit dem Konzert für Klavier und Orchester in einem Satz eine weitere groß angelegte Klavierkomposition, die jedoch im Rahmen dieser Arbeit aufgrund der Fokussierung auf die Solo-Klavierwerke des Komponisten nicht näher besprochen werden soll. Eine editorische Herausgabe der Noten erfolgte wie bei zahlreichen anderen Werken Karel Reiners nie, was zweifellos der Hauptgrund dafür ist, dass dieses Konzert bislang kaum zur Aufführung gelangt ist. Belegt sind lediglich zwei Konzerte, in denen es erklang. Das erste fand am 23. 6. 1933 im Gebäude des Tschechischen Rundfunks mit Karel Reiner als Solisten und dem Sinfonieorchester der Tschechischen Rundfunks unter Leitung von Otakar Jeremiáš, das zweite am 8. 4. 1936 im Prager Smetana-Saal mit der Tschechischen Philharmonie unter dem berühmter Dirigenten Karel Ančerl statt. Líza Fuchsová wirkte bei dieser Aufführung als Solistin.29 Auffällig ist, dass an beiden Aufführungen namhafte Orchester mitwirkten. Dies lässt sowohl einen Rückschluss zu auf den Bekanntheitsgrad, den Karel Reiner zu diesem Zeitpunkt bereits hatte, als auch auf die Akzeptanz seiner Kompositionen bei den Interpreten.

Wie sehr insbesondere Alois Hába Karel Reiner als Komponisten schätzte, wird aus einem Brief ersichtlich, den Hába an den bedeutenden kroatischen Komponisten und Dirigenten Krešimir Baranović sandte:

„[…] ich fand in Zagreb im Jahre 1937 bei Frau Zora Weiss in dem musikalischen Nachlass ihres Sohnes Leo Weiss30 ein außerordentlich interessantes und wertvolles Werk […]. Der künstlerische Wert dieses Werkes hat mich veranlasst, meinen besten Schüler, den Komponisten Dr. Karel Reiner, dessen Name von internationalen Musikfesten bekannt ist, zur Beendigung der Instrumentation dieses Werkes anzuregen […].“31

Dass der Einfluss seiner Lehrer - trotz der eigenständigen und einzigartigen Künstler- persönlichkeit des Komponisten - sich auch weiterhin im Werkschaffen Karel Reiners niederschlug, beweist insbesondere seine Beschäftigung mit der Vierteltonmusik, die er bei Alois Hába kennen gelernt hatte. Bereits 1932 schrieb Karel Reiner die Phantasie für Vierteltonklavier, die er erstmals im Frühjahr des gleichen Jahres auf einem Kongress für arabische Musik in Kairo (Ägypten) einer breiteren Öffentlichkeit präsentierte. Hába selbst

nahm Karel Reiner, der sich zuvor als hervorragender Interpret der ersten Vierteltonwerke Hábas erwiesen hatte, zu diesem Kongress mit. Karel Reiner bewies mit seiner Spielweise, seiner eigenen Komposition und zahlreichen Einspielungen von Werken für Vierteltonklavier von Alois Hába die Spielbarkeit und den Klangfarbenreichtum des nach den Vorgaben seines Lehrers konstruierten Instrumentes.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.7: Alois Hába an dem nach seinen Vorgaben gebauten Vierteltonklavier

Die erste Spielanweisung für dieses Instrument verfasste als erster bedeutender Vierteltonpianist Erwin Schulhoff 1926.32 Er betonte, dass neben vielen anderen Schwierigkeiten vorerst „die Einstellung des Gehörs auf Vierteltondifferenzierung von Nöten [sei], die energetisch psychische Umschaltung [verlange]“.33

Sowohl den mentalen wie auch den spieltechnischen Anforderungen, die dieses Instrument an die Interpreten stellte, schien Karel Reiner in besonderer Weise gerecht zu werden, so dass Alois Hába seine Werke bevorzugt durch ihn aufführen ließ. Sein Interesse am Instrument und dessen Möglichkeiten mag ihn zur Komposition seiner eigenen Phantasie bewogen haben, die nach den erwähnten Aufführungen unmittelbar nach ihrer Entstehung auch nach dem Krieg, am 14. Mai 1946, im Prager Rudolfinum im Rahmen des Musikfestivals „Prager Frühling“ ein weiteres Mal vom Komponisten selbst öffentlich gespielt wurde, dann jedoch etwas in Vergessenheit geriet. Ein Schicksal, das dieses Werk allerdings mit den Kompositionen für Vierteltonklavier anderer Komponisten teilt, was zweifellos mit der Problematik zu erklären ist, einerseits geeignete Pianisten zu finden und andererseits überhaupt ein solches Instrument zur Verfügung zu haben.

[...]


1 Vgl. dazu u.a.: Naegele, Verena: Viktor Ullmann - Komponieren in verlorener Zeit. Köln 2002; Peduzzi, Lubomír: Pavel Haas. Leben und Werk des Komponisten. Hamburg 1996. (Verdrängte Musik, Bd. 9); Slavický, Milan: Gideon Klein. A fragment of life and work. 2. Auflage, Prag 1998.

2 Die Anzahl der Publikationen über das kulturelle Leben, aber auch über den Alltag im Ghetto Theresienstadt ist immens und lässt auch Rückschlüsse auf die dortigen Lebensumstände Karel Reiners zu, der jedoch lediglich in einzelnen Publikationen Erwähnung findet.

3 Reiner, Karel: Kommentar zum Lebenslauf [Manuskript, Privatbesitz Hana Reinerová].

4 Vgl. dazu: Verzeichnis Literatur und Quellen, G: Archive und Sammlungen.

5 Vgl. dazu: Verzeichnis Literatur und Quellen, F: Korrespondenzen und Interviews.

6 Der Vorname Sime ist wahrscheinlich eine Abkürzung des Namens Sabine.

7 Quellenangaben zu allen abgedruckten Abbildungen: siehe Abbildungsverzeichnis.

8 Hoensch, Jörg K.: Geschichte der Tschechoslowakei. 3., verb. und erw. Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln 1992, S. 17.

9 Reiner, Karel (wie Anm. 3), S. 17.

10 Čorney, Petr; Pokorný, Jiří: A brief history of the Czech lands to 2004. Prag 2003, S. 41ff.

11 Gemeinsame Deutsch-Tschechische Historikerkommission (Hg.): Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, Entspannung: Skizze einer deutsch tschechischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert. München 1996, S. 21f.

12 Interview mit Hana Reinerová vom 26.7. 2001 (Prag), Transkript, S. 1.

13 Witthoefft, Cornelis: Karel Reiner. In: Initiative Hans Krása (Hg.): Komponisten in Theresienstadt. Hamburg 2001, S. 52-63, hier S. 53.

14 Die Opus-Zählung wurde im späteren Werkschaffen vom Komponisten nicht kontinuierlich fortgesetzt, daher existiert für die überwiegende Mehrheit der Werke Karel Reiners keine Opusnummer.

15 Městská knihovna v Praze (Hg.): Zasloužilý umělec Karel Reiner (27.6. 1910 - 17.10. 1979). Uplná bibliografie. [Der verdiente Künstler Karel Reiner (27.6. 1910 - 17.10. 1979). Vollständige Bibliografie]. 2., erg. u. erw. Aufl., Prag 1986, S. 2.

16 Reiner, Karel: Manuskript, Neun lustige Improvisationen [unnummeriert und undatiert], Privatbesitz Hana Reinerová.

17 Editorische Angaben zu allen aufgeführten Notenbeispielen: siehe Notenverzeichnis.

18 Městská knihovna v Praze (wie Anm. 15), S.2.

19 Interview mit Hana Reinerová (wie Anm. 12), S. 1.

20 Witthoefft, Cornelis (wie Anm. 13), S. 54.

21 Ebd., S.2.

22 Vysloužil, Jiří: Alois Hába. Život a dilo. Prag 1974, S. 12f.

23 Interview mit Hana Reinerová (wie Anm. 12), S. 2.

24 Interview mit Hana Reinerová (wie Anm. 12), S. 1.

25 Přítomnost (Hg.): 1 Ročník IX. Rytmus Sezona 1999/2000, S. 5.

26 Reiner, Karel (wie Anm. 16).

27 Reiner, Karel: Manuskript, I. Sonate [unnummeriert und undatiert], S. 1, Privatbesitz Hana Reinerová.

28 Ebd., S.2.

29 Městská knihovna v Praze (wie Anm. 15), S. 3.

30 Leo Weiss war ab 1926/27 Schüler Arnold Schönbergs an der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin; verstarb 1928 im Alter von 23 Jahren an einer Vergiftung.

31 Zit. nach: Gradenwitz, Peter: Arnold Schönberg und seine Meisterschüler. Berlin 1925-1933 Wien 1998, S. 284.

32 Schulhoff, Erwin: Wie spielt man auf dem Vierteltonklavier? In: Der Auftakt 6 (1926), S. 106-109.

33 Ebd., S. 107.

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Verfolgt, verdrängt, vergessen - Die Klavierwerke des tschechisch-jüdischen Komponisten Karel Reiner
Hochschule
Hochschule für Musik und Theater Rostock  (Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik)
Note
1,2
Autor
Jahr
2004
Seiten
108
Katalognummer
V146060
ISBN (eBook)
9783640569533
ISBN (Buch)
9783640570423
Dateigröße
7650 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Karel Reiner, Komponist, jüdischer Künstler, Tschechien, Tschechoslowakei, Formalismus, Ghetto, Theresienstadt, kultureller Widerstand, Nationalsozialismus, Klavier, Klavierwerk, Widerstand, Judentum
Arbeit zitieren
Anke Zimmermann (Autor:in), 2004, Verfolgt, verdrängt, vergessen - Die Klavierwerke des tschechisch-jüdischen Komponisten Karel Reiner, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146060

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