Thomas Mann: Der Erwählte. Stoffgeschichte und Gnadenthema


Hausarbeit (Hauptseminar), 1994

29 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Stoffgeschichte
2.1. Die Rezeption der mittelalterlichen Vorlage "Gregorius"
2.2. Ödipus als Typus der griechischen Tragödie im Vergleich zu "Gregorius" und dem "Erwählten"

3. "Der Erwählte" als ein Roman des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu "Gregorius" unter besonderer Berücksichtigung des Gnadenthemas im "Erwählten"
3.1. Inhaltlicher Vergleich des "Erwählten" und des "Gregorius"
3.1.1. Die Reue der Mutter
3.1.2. Die Sünde der Mutter
3.2. Die Gnade im "Erwählten"

5. Literaturverzeichnis

ANHANG I
Anhang II - Paper zum Referat
ANHANG III - ZITATE

1. Einleitung

Mit seinem Roman "Der Erwählte" erzählt Thomas Mann nicht eine gänzlich neue Begebenheit, sondern läßt eine mittelalterliche Legende, die von dem Papst Gregorius, wiederaufleben. Thomas Mann hält sich bei seiner Neugestaltung an die Vorlage Hartmanns von Aue.

"An den äußeren Gang der Handlung, wie Hartmann sie sich aneignet, hielt ich mich so getreu wie bei den Josephromanen an die Daten der Bibel. [...] Aber wenn es das Alte und Fromme, die Legende parodistisch belächelt, so ist dies Lächeln eher melancholisch als frivol, und der verspielte Stil-Roman, die Endform der Legende, bewahrt mit reinem Ernste ihren religiösen Kern, ihr Christentum, die Idee von Sünde und Gnade."[1]

Inhaltlich wird die Idee von Sünde und Gnade, die auch schon bei den Joseph-Romanen und im "Doktor Faustus" eine bedeutende Rolle spielt, als ein großer Themenkomplex im "Erwählten" in positiver Weise ausgedeutet.

Hinter offensichtlich von Thomas Mann verwerteten Quellen finden sich auch Textstellen, die auf keine nachweisbaren Quellen schließen lassen. Diese betreffen allesamt das Thema der Auserwähltheit, das sich als Leitmotiv nicht nur im "Erwählten" niederschlägt, sondern sich durch das gesamte Werk Manns zieht (Hanno, Tonio Kröger, Aschenbach, Goethe, Joseph).

Der erste Teil unseres Referates wird sich mit diesem Thema der Gnade und den damit zusammenhängenden Begriffen der Sünde, Sühne, Schuld und Buße beschäftigen, während im zweiten Teil die angesprochene Erwähltheit der Figuren und außerdem der Erzähler und die Sprache des Romans behandelt werden.[2]

Die vorliegende schriftliche Ausarbeitung des Referates beschränkt sich auf den ersten Teil der Ausführungen, über die Stoffgeschichte des "Erwählten" und das Gnadenthema im "Erwählten".

2. Stoffgeschichte

"Gewissermaßen dichte im am Faustus fort, indem ich, auf der altdeutschen Linie weiter zurückgehend, den mittelhoch-deutschen «Gregorius» noch einmal erzähle. Ich tue es mit ähnlichem Leichtsinn, wie damals, als ich nach Abschluß des Joseph das «Gesetz» hinwarf. Mich verlangt durchaus nach Komik."

Dies schreibt Thomas Mann in einem Brief an Agnes E. Meyer vom 28.4.1948.

Der mittelalterliche Stoff der Gregorius-Legende war Thomas Mann erstmals in einer Vorlesung des Münchener Germanisten W. Hertz über mittelalterliche Dichtung im Wintersemester 1894/95 begegnet. Bei seiner Arbeit am "Doktor Faustus", im Jahre 1945, stößt er in den Gesta Romanorum erneut auf diese Legende. Thomas Mann bearbeitet sie im "Doktor Faustus" im XXXI. Kapitel, indem er Adrian Leverkühn aus den Gesta Romanorum einzelne Geschichten musikalisch umsetzen läßt. Teile dieses Kapitels lesen sich wie eine Vorwegnahme und Beschreibung Thomas Manns eigener Arbeitstechnik:

"Im höchsten Grade waren sie [die Gesta] danach angetan, Adrians parodistischen Sinn aufzuregen, und der Gedanke, mehrere dieser Geschichten [...] musikalisch zu dramatisieren, beschäftigte ihn [...]. [...] Kernstück der Suite, der Geschichte »Von der Geburt des seligen Papstes Gregor«, einer Geburt, bei deren sündiger Ausgefallenheit es keineswegs sein Bewenden hat, während doch all die entsetzlichen Bewandtnisse des Helden nicht nur ein Hindernis sind für seine schließliche Erhebung zum Statthalter Christi, sondern ihn nach Gottes wundersamer Gnade geradezu besonders berufen und vorbestimmt dafür erscheinen lassen. Die Kette der Verwicklungen ist lang, und es erübrigt sich wohl für mich, die Geschichte des verwaisten königlichen Geschwisterpaars [...] hier zu reitieren."[3]

Im Sommer 1947 beginnt er, seinen Plan von der Neuerzählung des Gregorius zu verwirklichen.

"Ich möchte ein viel erzählte Legende des Mittelalters, «Gregorius auf dem Steine» in moderner Prosa noch einmal erzählen, eine Abart der Ödipus-Sage, die Erwählung eines furchtbar inzestuösen Sünders durch Gott selbst zum römischen Papst. Es ist eine fromme Groteske, bei deren Conception ich viel lachen muß, handelt aber eigentlich von der Gnade."

(Thomas Mann in einem Brief an Agnes E. Meyer vom 17.2.1948)

So entsteht zwischen dem 21.1.1948 und dem 26.10.1950 der Roman "Der Erwählte". Thomas Mann beginnt, in seiner ihm eigentümlichen Weise Material für die Erzählung zusammenzusammeln, liest eine mittelhochdeutsche Ausgabe von Hartmanns "Gregorius", Übersetzungen anderer mittelhochdeutscher Epen (z. B. "Parzival" und "Tristan"), liest in Werken über Literatur- und Kunstgeschichte (hier vor allem Scherers "Geschichte der deutschen Literatur"), holt sich bei Fachleuten Rat (z. B. bei Samuel Singer, Germanist an der Universität Bern, über mittelalterlichen Sprachgebrauch) und schlägt in Lexika nach.[4] Diese vorbereitende, auf die eigene Erzählung bezogene Materialsammlung dauert für den "Erwählten" circa vier Wochen.[5]

In seinem montageartigen Umgang mit und dem Nacherzählen von Quellen freut Thomas Mann sich sichtlich, als er in Scherers Literaturgeschichte liest, daß schon Hartmann von Aue ein Nacherzähler (nämlich einer altfranzösischen Vorlage, «La vie du Pape Saint Grégoire») gewesen sei.

2.1. Die Rezeption der mittelalterlichen Vorlage "Gregorius"

Um die eigene Art des "Erwählten" zu verdeutlichen, gehe ich im folgenden kurz auf die Rezeptionsgeschichte der mittelalterlichen Vorlage von Hartmann von Aue ein.

Dessen Gregorius hat insbesondere unter der Thematik der Schuld, die eng mit dem zu behandelnden Thema der Gnade zusammenhängt, unterschiedlichste Interpretationen hervorgebracht, die sich grob in vier Gruppen einteilen lassen: 1) theologisierende, 2) theologisch argumentierende, literaturwissenschaftliche Aspekte mitberücksichtigende, 3) literaturwissenschaftliche (philologische) und 4) sozialgeschichtlich orientierte Interpretationen.[6]

Trotz der Methodenvielfalt und unterschiedlichen Interpretationsergebnisse ergeben sich Gemeinsamkeiten in der Fragestellung: Gibt es persönliche Schuld bei Gregorius? Wenn ja, welche: ererbte Schuld der Eltern als Inzest-Kind, überhebliche Selbstverliebtheit, der Klosteraustritt? Oder ist Gregorius unschuldig? Welche kirchliche Bußauffassung und welches Gnadenverständnis herrschte zur Zeit Hartmanns und spielen sie eine Rolle im Text? Inwieweit muß auch auf Sophokles Tragödie von König Ödipus zurückverwiesen werden?

Dies sind einige der Kernfragen an den Hartmannschen Text, die auch für den "Erwählten" von Thomas Mann interessant sind.[7]

2.2. Ödipus als Typus der griechischen Tragödie im Vergleich zu "Gregorius" und dem "Erwählten"

Th. Mann sieht die Ödipus-Sage als Ursprung der Gregorius-Legende:

"Der Entwicklungsweg der Sage scheint von Ödipus über Judas, Andreas, Paulus von Caesarea zu Gregorius zu gehen, wobei hie und da das Motiv des Vatermordes durch eine zweite -und zwar wissentliche- Inzest-Versündigung ersetzt wird, entweder begangen zwischen Vater und Tochter oder zwischen Bruder und Schwester."[8]

Tatsächlich liegen Parallelen offen auf der Hand: Trotz der Warnung des Delphischen Orakels zeugt Laïos mit Iokaste den Sohn Ödipus. Entgegen dem Willen der Götter wird also das Kind gezeugt. Dem entspricht beim "Gregorius" als auch beim "Erwählten" die sündhafte Selbstliebe der Eltern Wiligis und Sibylla ( >Zitat 2, 3, 13[9] ).[10]

Ödipus und Gregorius werden nach ihrer Geburt ausgesetzt ( >Zitat 12), gerettet, der eine als Hirte unter Hirten groß, der andere als Fischerskind unter Fischerskindern. Hier wird allerdings schon ein Unterschied deutlich: Gregorius wird mit sechs Jahren ins Kloster geschickt. Dadurch wird einerseits Gregorius von seinen vermeintlichen Geschwistern abgegrenzt (Anderssein, Erwähltheit) und andererseits das christliche Umfeld des Textes verdeutlicht, was der griechischen Tragödie natürlich fremd ist.

Ödipus erschlägt unwissentlich den eigenen Vater, womit sich der Orakelspruch erfüllt, befreit Theben von der Sphinx und heiratet die Königin. Gregorius Vater stirbt, wenn auch nicht durch Hand seines Sohnes, Gregorius befreit die Stadt der Herzogin Sibylla und heiratet sie daraufhin. Beide Paare zeugen Kinder. Soweit verlaufen die Handlungsstrukturen parallel.

Doch das Schicksal des Ödipus verläuft ab diesem Punkt konträr zu dem Schicksal des Gregorius. Ödipus entdeckt selbst seine Untat, seine Frau und Mutter Iokaste erhängt sich, Ödipus sticht sich die Augen aus, wird aus dem Land vertrieben und stirbt als armer Bettler.

Welch andere Wendung hingegen das Schicksal des Gregorius! Als er seine Frau als seine Mutter erkennt, ist er sofort zur Buße bereit ( >Zitat 36) und wird später zum Papst berufen.

Auffällig ist, daß sich gerade an dem Punkt höchster Verstrickung der Protagonisten in unwissentliche und unbewußt-wissentliche Schuldgeflechte die weiteren Handlungsabläufe in so konträrer Weise -ins tiefste Verderben und in höchste Erhebung- entwickeln.

In der antiken griechischen Götterwelt behalten die Götter immer die Macht, hinter ihnen waltet das unausweichliche Schicksal. Die Tragödie wird in der Antike demnach bestimmt durch die innere Form des Tragischen: Mit einem Mythos als Grundstruktur wird den ZuschauerInnen eine Wandlung von Glück in Unglück an einem durchschnittlichen Protagonisten vorgestellt; der Held wird unschuldig schuldig durch Verblendung, im Leichtsinn oder in Selbstüberschätzung; sowohl durch Schrecken und Schauder als auch durch daraus erwachsender Katharsis (psychischer Reinigung) werden die ZuschauerInnen am Geschehen beteiligt.

Die Tragik besteht bei Ödipus darin, daß er objektiv schuldig, subjektiv hingegen nicht schuldig ist.

Im christlichen Rahmen des "Gregorius" als auch des "Erwählten" wird diese objektive Schuld durch subjektive Schuldzuweisung als subjektive Schuld angenommen. Die Übernahme der Schuld als Sünde ist Grundlage für die Vergebung, die durch Sühnung der Sünde erlangt werden kann. Hierzu bedarf es nun der Gnade, da der Mensch sich nicht selbst von Sünde befreien kann.

Anders als in der griechischen Tragödie kann und wird also beim "Gregorius" und beim "Erwählten" das Bild des unvermeidbar in Schuld und daraus resultierendem Untergang verstrickten Menschen durch das christliche Umfeld mit seinem Gnaden- und Erlösungsglauben aufgehoben.

Die Ödipus-Tragik wird in christlicher Sichtweise aufgefangen. Am Schluß des "Gregorius" und des "Erwählten" steht nicht die antike Tragik, sondern die göttliche Erwählung.

Zwischen Christenlehre und Ödipus-Schicksal, zwischen kirchlicher Bußlehre und unschuldiger Schuld und tragischer Entdeckung der Wahrheit, aber eben in christlicher und somit anti-tragischer Form stellen sowohl Hartmann als auch Thomas Mann dieses Thema der Verstrickung in Schuld und Sünde des Menschen dar.

3. "Der Erwählte" als ein Roman des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu "Gregorius" unter besonderer Berücksichtigung des Gnadenthemas im "Erwählten"

Bei weitem ist Thomas Manns Roman nicht nur Nacherzählung der christlich gefärbten Gregorius-Legende. Thomas Mann selbst:

"Und wie damals war mein eigenes Dichten ein Amplifizieren, Realisieren und Genaumachen des mythisch Entfernten, bei dem ich mir alle Mittel zunutze machte, die der Psychologie und Erzählkunst in sieben Jahrhunderten zugewachsen sind."[11]

Thomas Mann entfernt sich von der Struktur der Erzählung her gesehen nicht sehr von Hartmann von Aue. Es sind kleine, zunächst unauffällige -scheinbare- Nebensächlichkeiten in Thomas Manns "Erwähltem", die bei genauer Lektüre und genauem Vergleich die unterschiedlichen Bedeutungen der Texte verdeutlichen.[12]

Das schon aus Mythen bekannte Thema des Geschwisterinzests bereitete dem mittelalterlichen Dichter Hartmann keine großen Schwierigkeiten, und Thomas Mann übernimmt mühelos den Inhalt der Hartmannschen Formel "Sîn muoter, sîn base, sîn wîb / diu driu heten einen lîp".[13]

[...]


[1] Thomas Mann: Bemerkungen zu dem Roman "Der Erwählte", in: Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 1953, S. 261/263.

[2] Vgl. Anhang.

[3] Thomas Mann: Doktor Faustus, Frankfurt a. M. 1988, S. 316 ff.

[4] Vgl. Wysling, Hans: Thomas Manns Verhältnis zu den Quellen. Beobachtungen am "Erwählten", in: Paul Scherer/Hans Wysling: Quellenkritische Studien zum Werke Thomas Manns. Thomas-Mann-Studien, Band I, Bern 1967, S. 260 ff.

[5] Im Vergleich dazu zum "Doktor Faustus" zwei Monate.

[6] Vgl. Gössmann, Elisabeth: Typus der Heilsgeschichte oder Opfer morbider Gesellschaftsordnung? Ein Forschungsbericht zum Schuldproblem in Hartmanns Gregorius (1950-1971), in: Euphorion 68, Heft 1, 1974, S. 42.

[7] Die Ergebnisse der einzelnen Interpretationen sollen hier nicht behandelt werden. Die Fragen sollen lediglich auf einige inhaltliche Motive aufmerksam machen, unter deren Gesichtspunkt auch Thomas Manns "Erwählter" betrachtet werden kann.

[8] Thomas Mann: Bemerkungen, S. 260.

[9] Die Zitate und die Nummerierung beziehen sich hier und im folgenden auf die Zitatensammlung im Anhang dieser Arbeit: Anhang, S. III/IV.

[10] Die Tatsache, daß Gregorius im Unterschied zu Ödipus im Inzest gezeugt wird, verkompliziert seine Stellung im christlichen Umfeld, hat aber auf die Grundstruktur der Erzählung keine Auswirkung.

[11] Thomas Mann: Bemerkungen, S. 261.

[12] Ich spreche hier von der Bedeutung des Textes, soweit diese faktisch im Text nachzuweisen ist, und nicht von der Intention des Autors, da die vom Autor intendierte Bedeutung nicht immer mit der nachweisbaren Bedeutung des Textes übereinstimmt.

[13] Hartmann von Aue: Gregorius, hg. v. Hermann Paul, neu bearbeitet von Burghart Wachinger, 14., durchges. Aufl., Tübingen 1992, v. 3831 f.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Thomas Mann: Der Erwählte. Stoffgeschichte und Gnadenthema
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Theologisches Institut)
Veranstaltung
Theologische Themen im Werk Thomas Manns
Note
1
Autor
Jahr
1994
Seiten
29
Katalognummer
V14525
ISBN (eBook)
9783638199018
ISBN (Buch)
9783640265886
Dateigröße
573 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
auch Fachgebiet Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/Germanistik
Schlagworte
Mann, Erwählte, Stoffgeschichte, Gnadenthema, Thomas Mann, Gregorius, Ödipus, Reue, Sünde, Gnade, Tragödie, Hartmann von Aue, Papst Gregorius
Arbeit zitieren
M.A. Sabine Lommatzsch (Autor:in), 1994, Thomas Mann: Der Erwählte. Stoffgeschichte und Gnadenthema, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14525

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