250 Jahre Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Zur Bedeutung und Aktualität der Gymnastik für die Jugend für den Schulsportunterricht von Heute


Masterarbeit, 2009

57 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Vorwort

„GuthsMuths – gut tut’s!“ - Der Slogan des Jubiläumsjahres zum 250. Geburtstag von Johann Christoph Friedrich GutsMuths sollte den Ideen GutsMuths’ wieder neues Leben einhauchen. Denn anlässlich des Festaktes „250 Jahre GutsMuths“ am 9. August 2009 in Schnepfenthal, schien der bedeutende Reformpädagoge aktueller denn je. Das Leben und Wirken von J. Chr. F. GutsMuths geriet zwar im 19. und 20. Jahrhundert nicht in Vergessenheit, aber viel mehr Achtung und Würdigung galten dem Verdienst von Friedrich Ludwig Jahn, dem die unmittelbaren Einführung des Turnens zugesprochen wurde. Umso sonderbarer schien die Nachricht des Landessportbundes Thüringens: „Thüringen hat ab sofort ein Copyright mehr. Der wahre Turnvater kommt aus Thüringen!“ (Vgl. Juli/August 2009, 3). Sowohl GutsMuths als auch Jahn sollte laut Prof. Dr. Gudrun Doll-Tepper, Vizepräsidentin des Deutschen Olympischen Sportbundes, der Ehrentitel anerkannt werden.

Warum diese Erkenntnis 250 Jahre dauern musste, soll nicht Gegenstand meiner Arbeit sein. Viel wichtiger scheint mir, dass wir nach 250 Jahren, insbesondere in diesem Jahr, einem Deutschen gedenken, dem für seine richtungweisenden Impulse in der Schulsportentwicklung Würde gebührt. Auch ich nehme dieses Jubiläum zum Anlass, das Gedankengut, die Lehren und Ansichten von J. Ch. F. GutsMuths in Erinnerung zu rufen und dessen Verdienste im Hinblick auf unseren heutigen Schulsportunterricht auf Aktualität zu hinterfragen.

Zu Beginn meiner Arbeit bot sich mir ein umfangreiches Rechercherepertoire, angefangen bei den zahlreichen Bibliographien zur GutsMuths-Forschung bis hin zur aktuellen Sportpädagogikliteratur. Ich ging entlang den Spuren der Zöglinge und erforschte ein Stück meiner Heimat aus einer anderen Perspektive. Mit dem Abschluss der vorliegenden Arbeit kann ich sagen, dass ich nun mehr ein halbes Jahr in der Sportgeschichte versunken war und mich dennoch ein Stück weit in der Gegenwart befunden habe.

1 Einführung

Die Bedeutung von Johann Christoph Friedrich GutsMuths wird in Veröffentlichungen zur Leibeserziehung und Sportgeschichte mit Attributen wie „Wegbereiter des deutschen Volksturnens“ (Müller 1939, in Einband), „Groß- und Erzvater der deutschen Turnkunst“ (Gasch in Krüger 1993, 28) oder „Wegbereiter der neuzeitlichen deutschen Körperkultur“ (Schröder in Geßmann/Lämmer 1998, 15) hervorgehoben. Setzt man GutsMuths mit derartigen Titeln gleich, wird in diesem Zusammenhang auch die erste theoretisch fundierte „Körperbildung“ gepriesen. Die 1793 von GutsMuths veröffentlichte „Gymnastik für die Jugend“ ist das „erste Lehrbuch der körperlichen Erziehung […] Mit diesem Buch erreicht die Theoriebildung eine neue Stufe“ (Bernett in: Ueberhorst 1980, S. 205). Bernett spricht damit die anthropologische Begründung der „Gymnastik“ und der damit verbundenen fundamentalen menschlichen Bildung an.

Auf dem Weg bis zu seinem Wirken als Pädagoge und Leibeserzieher wird er geprägt von Gedanken der aufgekommenen Aufklärung. Er schließt sich den Ideen der „Menschenfreunde“, den Philanthropen an. GutsMuths Maxime, die stark an Rousseau erinnert „[…] daß eine gesunde Seele im starken, gesunden Körper sei.“ (GutsMuths, S. 23)[1], deutet bereits auf seine Gewichtung der Leibeserziehung im Rahmen jugendlicher Bildung hin. Sein Streben als Lehrer am Philanthropin Schnepfenthal war es, die gymnastische Ausbildung als Teil der Bildung junger Menschen national einzuführen. Abgrenzen will er sich von seinen philanthropischen Gleichgesinnten, indem er den Wandel in der körperlichen Erziehung nur in der Umsetzung der theoretischen Grundsätze sieht. „Daher steht der bei weitem größte Teil der Vorschläge jener Männer nur in gedruckten Buchstaben, aber nicht in der Ausführung da, so daß eine gänzliche Reform der körperlichen Erziehung erst noch bevorstehen muss.“ (GutsMuths, S. 75). An dieser Reform wird sich GutsMuths beteiligen, auch wenn sein Appell damals nicht die ganze Nation erreichte.

Die vorliegende Arbeit mit dem Thema „250 Jahre Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Zur Bedeutung und Aktualität der „Gymnastik für die Jugend“ im Schulsportunterricht von heute“ soll zunächst GutsMuths selbst mit seinem ersten pädagogischen Werk von 1793 vorstellen. Welche Umstände und welche Stationen im Leben GutsMuths’ dazu führten, dass wir ihn heute mit oben genannten Titeln rühmen, soll im ersten Abschnitt thematisiert werden. Im Hinblick auf die Ideen und das Wirken GutsMuths’ soll anschließend der Versuch unternommen werden, eine Brücke zu schließen zwischen den anfänglichen pädagogischen Ideen GutsMuths und dem Schulportunterricht, wie wir ihn heute kennen. Vordergründig geht es mir daher um die Beantwortung der Fragen - Warum eigentlich beschäftigen wir uns in der heutigen Zeit noch mit Johann Christoph Friedrich GutsMuths und seinen Lehren? Was hat GutsMuths vollbracht, dass man ihn heute noch ehrt? Und - Sind seine Lehren heute noch aktuell? Welche Bedeutung können den individuellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen zugesprochen werden, wenn man die Ausrichtung der Sportpädagogik betrachtet?

Aufbauend auf meinen theoretischen Grundlagen beinhaltet diese Arbeit Auswertungen einer praktischen Untersuchung, die im Sportunterricht an der Grundschule durchgeführt wurde. Ziel der Unterrichtsversuche sollte es sein, meine bisherigen Erkenntnisse zu stützen. Dazu ließ ich von Schülern gymnastische Übungen und Spiele im Sinne von GutsMuths durchführen. Als empirisches Faktotum dienten mir Fragebögen, die mir aufschlussreiche Rückmeldungen im Hinblick auf die aktuelle Rezeption der Übungen, aber auch zum Bewegungsverhalten der Schüler geben sollten.

2 Leben und Wirken des Philanthropen J. Chr. F. GutsMuths

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 – Porträt GutsMuths’ aus: „Gymnastik für die Jugend“ (1793) in der Neuauflage von 1957, S. XVI

GutsMuths wurde am 9. August 1759 als Sohn eines Rotgerbers in Quedlinburg geboren. Er war das einzige Kind seiner Eltern und wuchs in einem wohlhabenden Umfeld auf. Im Sinne des Pietismus’ wurde er als Junge streng zur Genügsamkeit und Selbstdisziplin erzogen, wozu unter anderem der aufgezwungene Verzicht auf Spielgefährten gehörte (Vgl. Schröder 1996). Die gewerblichen Einkünfte des Vaters ermöglichten GutsMuths eine gute Schulbildung. Er besuchte zunächst eine privat organisierte Winkelschule bevor er mit elf Jahren auf das Gymnasium seiner Heimatstadt wechselte. Müller schreibt in seiner Schrift zum Gedenken an GutsMuths, dass bereits in diesem Lebensabschnitt des späteren Philanthropen entscheidende Grundlagen hinsichtlich seines Schaffens gesehen werden können. Am Gymnasium wurde GutsMuths mit schriftlichen Quellen vertraut gemacht, die ihm „das wissenschaftliche Nützzeug mitgaben“. „Es ist bezeichnend, dass GutsMuths erste Bücher die ‚Acerra philogica’ mit ihren Schilderungen der Gymnastik der Perser und Griechen und ein altes geographisches Buch waren.“ (Müller 1939, S. 1).

Der Tod seines Vaters war ein einschneidendes Ereignis in GutsMuths’ Leben. Mit nun vierzehn Jahren konnte er das Gymnasium nur weiter besuchen, wenn ihm finanzielle Mittel zur Verfügung stünden. Die Lösung aus der Not wurde ermöglicht, als ihm sein Lehrer Hergt eine Hauslehrerstelle in dem Hause von Dr. Ritter verschaffte. Die Hinwendung zum Erzieherberuf ergab sich daher für GutsMuths schon frühzeitig, denn im Hause Ritter fand er sein erstes pädagogisches Versuchsfeld. Auch sein späterer Hang zur Medizin und den Naturwissenschaften, insbesondere der Anatomie und Physiologie des Menschen basiert auf der Beziehung zu Friedrich Wilhelm Ritter, der als Arzt ein hoch angesehener Bürger Quedlinburgs war. Anfangs unterrichtete GutsMuths zwei Söhne des Dr. Ritters und nahm später noch einen Nachbarsjungen hinzu. In dieser Zeit bereitete er sich anhand der neuesten pädagogischen Literatur, besonders derer von Rousseau[2] und Basedow[3], auf seine Erziehungstätigkeit vor (Vgl. Schröder 1996). Da ihm nach seinem Schulabschluss 1778 keine finanziellen Mittel zur Verfügung standen und trotz Empfehlung des Schulrektors ein Stipendium zum Studium von den Quedlinburger Stadtvätern nicht bewilligt wurde, blieb er noch ein weiteres Jahr Hauslehrer im Hause der Ritter. Die Zeit nutzte er für sein Selbststudium und versuchte sich unter anderem im Zeichnen.

Im Jahre 1779 zog GutsMuths schließlich nach Halle, um sein Theologiestudium zu beginnen. Das war der übliche Bildungsweg für eine spätere Lehrtätigkeit, denn eine spezifische Lehrerausbildung gab es noch nicht. Schröder nimmt an, dass zur damaligen Zeit Dr. Ritter seinem Hauslehrer mit Geld für das Studium aushalf, unter der Bedingung, dass GutsMuths nach dem Abschluss wieder im Haus der Ritters unterrichte (Vgl. Schröder 1996). Aufgrund seiner geplanten Lehrtätigkeit nutzte der junge Student die Möglichkeiten an der Universität, sich neben seinen Pflichtvorlesungen mit einem breiten Fächerkanon zu beschäftigen. Er besuchte Vorlesungen in den Fächern Geschichte, neuere Sprachen, Mathematik, Physik und Pädagogik. Besonders aus den Schriften der Philanthropen empfing GutsMuths Anregungen für seine eigene pädagogische Arbeit. Dazu gehörte auch der Besuch der Pädagogikvorlesungen des Professors Trapp, der auf der Grundlage seiner praktischen Tätigkeit am Dessauer Philanthropin seine Erziehungsprinzipien in Halle vermittelte.

Nach insgesamt sechs Semestern (1779-1782), die GutsMuths in Halle studierte, nahm er seine Erziehertätigkeit bei der Familie Ritter in Quedlinburg wieder auf. Er war um die Erziehung von fünf Jungen und einem Mädchen bemüht und hätte die Verantwortung auch weiter übernommen, wenn nicht 1784 Dr. Ritter verstorben wäre. Diese Umstände führten zu einem Wandel im Leben des 25-jährigen GutsMuths, die Müller folgend huldigt – „GutsMuths aber blieb den Ritters treu, und dieser Treue verdanken wir die künftige Gestaltung seines Lebens, verdanken wir die Entstehung des Schulturnens.“ (Müller 1939, S. 2). Der Besuch von J. Ch. F. GutsMuths mit seinen beiden Zöglingen Johannes und Carl Ritter am 1784 gegründeten Philanthropin Schnepfenthal im Herzogtum Sachsen-Gotha führte zum Wendepunkt im Leben von GutsMuths und der Familie Ritter. Christian Gotthilf Salzmann, der Gründer dieser Erziehungsanstalt, bot Frau Ritter wegen ihrer Notlage eine Freistelle für einen ihrer Söhne an. Als sie im Frühjahr 1785 in Schnepfenthal eintrafen und Salzmann die Kinder an der Seite ihres Erziehers kennen lernte, war er von deren Wissensstand und dem Auftreten ihres Lehrers sehr beeindruckt. Daher bot er sowohl den beiden Zöglingen als auch GutsMuths an, gemeinsam an seiner Anstalt zu bleiben.

Am 1. Juni 1785 nimmt GutsMuths seine Tätigkeit als Erzieher an der philanthropischen Einrichtung auf.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 – In diesem Gebäude gründete C. G. Salzmann 1784 seine Erziehungsanstalt Quelle: Babock, 2009

J. Chr. F. GutsMuths wohnte in Schnepfenthal vorerst im Druckereigebäude, später in einem Nebenhaus der Anstalt mit Internats- und Lehrerwohnraum. Er lebte sich schnell ein und nutzte seine verbleibende Zeit zum Malen, Klavierspielen, Botanisieren und für Arbeiten in der anstaltseigenen Werkstatt. Der junge Lehrer unterrichtete anfangs in den Fächern Deutsch, Geschichte, Französisch und Geographie. Da am Philanthropin zunächst Lehrermangel herrschte, wurde von GutsMuths vielseitiger Einsatz in der Erziehertätigkeit gefordert. Seinen Tagesablauf an der Anstalt beschreibt er in einem Brief an Frau Ritter wie folgt „[…] Ich muß Ihnen doch etwas von meiner äußerlichen Lage mitteilen. Bis 6 Uhr Gartenarbeit, dann Gesang, Morgenbrot bis 7. Dann genießen die Kinder Unterricht bis 11. Bis 12 körperliche Übung. Von 12-2 Freiheit. Von 2-3 Musik, Buchbinden. Von 3-8 abwechselnder Unterricht, dann Abendbrot und Schlaf […]“ (GutsMuths am 10. Juli 1785 in Ulbricht, 1959). Im Jahre 1797 heiratet GutsMuths die Pfarrerstochter Sophie Eckardt aus Bindersleben. Aus der Ehe gehen acht Kinder hervor. Die Familie wohnte zunächst im alten Schnepfenthaler Gutshaus und bezog später ein eigenes Haus in Ibenhain (Abb.2).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3 - Wohnhaus GutsMuths’ in Ibenhain (Ortsteil Waltershausen) heute; privatisiert Quelle: Babock, 2009

GutsMuths Erfahrungen und Erkenntnisse, die er im Laufe seiner Tätigkeit in Schnepfenthal gesammelt hatte, schrieb er 1793 in seiner „Gymnastik für die Jugend“ nieder. Er ergänzte 1796 dieses übergreifende Lehrbuch für Körpererziehung mit dem ersten pädagogischen Spielebuch „Spiele zur Erholung des Körpers und des Geistes für die Jugend“ und 1798 mit dem „Kleine[n] Lehrbuch der Schwimmkunst“. Drei Jahre später begann er mit der Veröffentlichung seiner Reihe „Bibliothek der pädagogischen Literatur, die 20 Jahre lang regelmäßig erschien. Im Jahre 1804 erschien seine gänzlich überarbeitete Fassung der „Gymnastik für die Jugend“, die er als „durchweg methodischer und systematischer eingerichtet“ (GutsMuths 1804, XVI) bezeichnet. In Schnepfenthal widmete er sich neben seinen pädagogischen Arbeiten auch der Geographie. Einige bedeutsame Werke veröffentlicht er auf diesem Gebiet der Wissenschaft. Er beschäftigte sich neben seiner Lehrertätigkeit mit Hauswirtschaft sowie gärtnerischen und handwerklichen Tätigkeiten.

Nach 54 Jahren Schaffen am Schnepfenthaler Philanthropin verstarb J. Chr. F. GutsMuths im Alter von fast achtzig Jahren. Sein Wunsch, in der freien Natur die letzte Ruhe zu finden, wurde ihm gewährt. Auf der Schnepfenthaler Hardt, unweit vom Gymnastikplatz und dem Grab Salzmanns, liegt er begraben.

3 Die „Gymnastik“ der Philanthropen

Um das Wesen der körperlichen Erziehung in Schnepfenthal zu betrachten, bedarf es zunächst einen kleinen Diskurs um die zeitgenössischen Gedanken und Ideen.

Die Leibesübungen bezeichneten die Philanthropen als „Gymnastik“, um zu verdeutlichen, dass die Gymnastik in der Tradition der als vorbildlich erachteten griechischen Antiken stehen soll. GutsMuths würdigt das klassische Altertum mit Worten wie - „Zwei große Nationen […] geben den gymnastischen Übungen ein Gewicht […] Es waren die Römer und besonders die Griechen. Vortreffliches Volk.“ (GutsMuths, S. 89). Die Antike galt im 19. Jahrhundert nicht nur für die körperliche Erziehung als Vorbild, sondern generell für Bildung und Kultur und genoss hohes Ansehen bei den gebildeten und einflussreichsten Schichten in Deutschland (Vgl. Grupe/Krüger 2007). Diese Bezeichnung erleichterte die Anerkennung der „menschenfreundlichen“ Erziehung im Sinne der Philanthropen. Deren Auffassung war es, Menschen mit Hilfe und über körperliche Übungen und Spiele zu erziehen. Anlehnend an die Ideen der Aufklärung bestand der Kern des philanthropischen Erziehungskonzepts in der Vorstellung, dass die Erziehung „vernünftig“ und „natürlich“ sein müsste. Es ist bezeichnend, dass die Philanthropen, so auch GutsMuths, wichtige Bezugspunkte von Rousseau (1672-1747) übernahmen. Nach Auffassungen heutiger Sportwissenschaftler, wie Krüger und Prohl, missverstanden die Reformpädagogen die eigentlichen Absichten Rousseaus jedoch, indem sie die „rousseauistische natürliche Individualerziehung“ durch eine „vernünftig-natürliche Volkserziehung“ für eine Bürgergesellschaft versuchten umzusetzen (Vgl. 2004, 128f. & 2006, 29f.). Das Interesse der philanthropischen Erziehung lag daher vorrangig in der Ausbildung und dem Erwerb von nützlichen und lebenspraktischen Fertigkeiten. Ferner stand das philanthropische Erziehungskonzept für praxisorientierte Umsetzung und gleichzeitig für die theoretische Verbreitung in Wort und Schrift. Die Gymnastik sollte ein ganzheitliches, am Körper ansetzendes Erziehungsprogramm beinhalten, dass sich auf die Ausbildung körperlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten bezieht. Erreichen wollten die Philanthropen damit, eine Erziehung des ganzen Menschen einschließlich seiner charakterlichen Bildung. Parallel verfolgte GutsMuths neben diesen materialen Erziehungszielen, wie Fertigkeitsvermittlung und Berufsvorbereitung, auch formale Erziehungsaufgaben wie „körperliche Geschicklichkeit, verbunden mit Mut und Unerschrockenheit“ (GutsMuths, S. 111). Damit orientiert sich GutsMuths auch an Zielen zur Entfaltung menschlicher, personaler Kräfte, die ein gewisses „Selbstvertrauen“ bewirken, um „sich bei Beleidigungen selbst zu helfen.“ (ebenda). Der Typ der schulischen Gymnastik wird daher von GutsMuths definiert als „Arbeit im Gewande jugendlicher Freude“ (GutsMuths, S. 160).

3.1 Die Gesundheitserziehung in Schnepfenthal

Salzmann war fest davon überzeugt, dass die „Seelen“ seiner Zöglinge nur stark sein können, wenn ihr Körper gesund, gekräftigt, gefestigt und geschickt ist. Er war gleichfalls bestrebt, dass die Gesundheit der Zöglinge seiner Anstalt höchste Priorität einnimmt. Die geeigneten Mittel zur Gesunderhaltung der Kinder sah er in einfacher Kost, gesunder Luft und reinem Trinkwasser, in spartanischer Abhärtung sowie im Wechsel von geistiger Anspannung im Unterricht und aktiver Erholung in der Freizeit (Vgl. Schröder 1996). Die laut GutsMuths „allmähliche Abhärtung des verweichlichten Leibes“ (GutsMuths, S. 52) als Grundlage der Persönlichkeitsbildung sollte mit körperlicher Erziehung kombiniert werden. Medizinische Stütze und Empfehlungen erhielten Salzmann und GutsMuths von Johann Peter Frank oder Christoph Wilhelm Hufeland, deren Worte sie in ihren Veröffentlichungen wiederholend zitierten.

3.2 Die Gymnastik in Schnepfenthal

Als Lehrer bei Johann Bernhard Basedow[4] hatte Chr. G. Salzmann die Anfänge der neuzeitlichen Gymnastik verfolgt und übernahm diese auch in seiner Erziehungsanstalt. Über seine ersten Eindrücke der körperliche Erziehung am Philanthropin Schnepfenthal reflektiert GutsMuths wie folgt:

„Im Jahre 1785 betrat ich als Jüngling Schnepfenthal, da führte mich Salzmann auf einen hübschen Platz mit den Worten: ‚Hier ist unsere Gymnastik’. Auf diesem Plätzchen, am Rande eines Eichenwäldchens, entwickelte sich nach und nach die deutsche Gymnastik. Hier belustigten wir uns täglich mit fünf Übungen in ihren ersten ungeregelten Anfängen. Diese stammten von Dessau, wo Salzmann zuvor gewesen […]Ihre Bedeutung kannte ich.“ (GutsMuths 1817, S. 7f.)

An der philanthropischen Anstalt in Schnepfenthal übernahm man folglich das Dessauer Pentathlon[5], bestehend aus Laufen, Springen, Werfen, Tragen sowie Balancieren und Klettern. Körperübungen und Gesundheitserziehung nahmen bei Salzmann seit Bestehen seiner Anstalt einen festen Platz im Tagesablauf der Schnepfenthaler Zöglinge ein. Die Inhalte der gymnastischen Praxis bezeichnet Bernett als „merkwürdige Mischung aus ritterlichen Exerzitien, bürgerlichen Fertigkeiten und nachgeahmten Übungen der griechischen Gymnastik.“ (Bernett 1980, S. 199f.).

Die Anstalt in Schnepfenthal unterschied sich zu jener in Dessau insofern, dass sie mitten in der Natur lag und somit bessere Möglichkeiten zum Betreiben von Körperübungen möglich waren. Man nutzte folglich die Natur für Wanderungen und Läufe. Als Übungsplatz diente ein mit Eichen bestandener Hügel. Der Gymnastik- und Turnplatz war 1786 mit Geräten wie dem Voltigierbalken und den Hochsprungständern ausgestattet.

Ein wichtiger Aspekt bei der Erziehung der Zöglinge war der familiäre Charakter unter den Lehrern und Zöglingen sowie der Grundsatz, dass Standesunterschiede keine Rolle spielen durften. Dieses Prinzip verdeutlicht Salzmann mit der Auswahl seiner Zöglinge, die er in seine Anstalt aufnahm. Durch ein gestaffeltes System wurde nach einer Prüfung das zu bezahlende Schulgeld individuell an die Vermögensverhältnisse der Eltern angepasst. Salzmanns Erziehungsanstalt nahm anfänglich sechs Zöglinge auf, die sich bereits 1791 auf eine Anzahl von 64 Zöglingen vermehrten. Der Großteil der Jungen besuchte die Anstalt vier Jahre lang im Alter zwischen 10 und 12 Jahren (Vgl. Lindner 2006). Unterrichtet wurde in kleineren Gruppen, die nach dem Alter gestaffelt wurden. Ähnlich verlief auch die Organisation des Gymnastikunterrichts. Alle Zöglinge übten zur gleichen Zeit in altersgerechten Kleingruppen unter der Leitung des Erziehers.

Im Jahre 1786 übertrug Salzmann die körperliche Erziehung in Schnepfenthal J. Chr. F. GutsMuths.

[...]


[1] In Klammern erscheinende Seitenangaben beziehen sich bei GutsMuths-Zitaten auf die 1. Auflage der „Gymnastik für die Jugend“, nach dem Neudruck 1957. Wird nach der 2. Auflage der „Gymnastik für die Jugend“ zitiert, so erscheint zusätzlich die Jahresangabe 1804.

[2] wie der Erziehungsroman Emile, zu dem GutsMuths auch in seiner „Gymnastik für die Jugend“ mehrfachen Bezug nimmt

[3] z.B. „Das Methodenbuch für Väter und Mütter“ von 1770

[4] Gründer des Philanthropin in Dessau

[5] Fünf gymnastische Übungen - in Abwandlung des antiken Vorbildes

Ende der Leseprobe aus 57 Seiten

Details

Titel
250 Jahre Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Zur Bedeutung und Aktualität der Gymnastik für die Jugend für den Schulsportunterricht von Heute
Hochschule
Universität Erfurt  (Erfurt School of Education)
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
57
Katalognummer
V145060
ISBN (eBook)
9783640532995
ISBN (Buch)
9783640533251
Dateigröße
8029 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
7 Kapitel, 50 Seiten
Schlagworte
Jahre, Johann, Christoph, Friedrich, GutsMuths, Bedeutung, Aktualität, Gymnastik, Jugend, Schulsportunterricht, Heute
Arbeit zitieren
Yvonne Babock (Autor:in), 2009, 250 Jahre Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Zur Bedeutung und Aktualität der Gymnastik für die Jugend für den Schulsportunterricht von Heute, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145060

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: 250 Jahre Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Zur Bedeutung und Aktualität der Gymnastik für die Jugend für den Schulsportunterricht von Heute



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden