Die „Traumleinwand“

Bertram D. Lewins psychoanalytische Traumtheorie im Vergleich zum Kinoerlebnis


Seminararbeit, 2009

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Bertram Lewins Konzept der „Traumleinwand“ (dream screen)
a. Essen und gegessen werden
b. Isakower-Phänomen

3. René Spitz` Erweiterung des Konzepts der „Traumleinwand“

4. Mechthild Zeul: „Traumleinwand“ und „Urhöhle“ in der Welt des Kinos

5. Jean-Louis Baudry: Realitätseindruck in Traum und Kino

6. Schluss

1. Einleitung

Die folgende Arbeit ist eine Verschriftlichung des Referats, gehalten von Franziska Roeder am 10. Juli 2009, und behandelt mit dem Konzept der „Traumleinwand“ einen psychoanalytischen Zugang zum Themenkomplex Traum/ Film/Kino. Zunächst wird Bertram Lewins Konzept der „Traumleinwand“ (dream screen) und das Isakower-Phänomen erläutert sowie auf die Erweiterung beider Konzepte bei René Spitz eingegangen. Im zweiten Teil werden diese Konzeptionen des Traumerlebnisses auf die Welt des Films übertragen. Mechthild Zeul stellt die Konzepte von Lewin und Spitz in den Vergleich mit dem Kino- beziehungsweise Filmerlebnis. Jean-Louis Baudrys Überlegungen bezüglich des im Traum und im Kino ausgelösten Realitätseindrucks sowie seine Hypothese von der Simulationsmaschine Kino wurden ebenfalls von Lewins Konzept beeinflusst.

2. Bertram Lewins Konzept der „Traumleinwand“ (dream screen)

Im Jahr 1946 entwickelte der Psychoanalytiker Bertram Lewin mit dem Konzept der „Traumleinwand“ (dream screen) eine psychoanalytische Traum- beziehungsweise Schlaftheorie auf Basis von Patienten-Gesprächen. Die Traumleinwand bezeichnet einen leinwandartigen Hintergrund, auf den sich im Schlaf die Träume projizieren und der gewöhnlich nicht wahrgenommen wird. „The dream screen, as I define it, is the surface on to which a dream appears to be projected. It is the blank background, present in the dream though not necessarily seen, and the visually perceived action in ordinary manifest dream contents takes place on it or before it.”1 Er wählt den Begriff der Traumleinwand bewusst in Analogie zur Kinoleinwand, denn wie der Kino-Zuschauer nimmt auch der Träumende die Leinwand nicht wahr oder ignoriert sie zugunsten der Bilder, die auf sie projiziert werden. „The term was suggested by the motion pictures; because, like its analogue in the cinema, the dream screen is either not noted by the dreaming spectator, or it is ignored due to the interest in the pictures and action that appear on it.”2 Auslöser für Lewins Theorie war ein traumähnliches, hypnagoges Phänomen einer Patientin, welches diese beim Aufwachen erlebte und von dem sie in einer Sitzung wie folgt berichtete: „I had my dream all ready for you; but while I was lying here looking at it, it turned over away from me, rolled up, and rolled away from me - over and over like two tumblers.”3 Den wegrollenden Traum deutet Lewin als den Traumhintergrund, die “Traumleinwand”, die sich wie ein Teppich oder Vorhang von der Patientin rotierend wegbewegt. „[T]he dream screen with the dream on it bent over backwards away from her, and then like a carpet or canvas rolled up and off into the distance with the rotary motion of machine tumblers.”4 Für gewöhnlich wird die Traumleinwand nicht wahrgenommen, sie kann aber in besonderen Träumen, so genannten Leeträumen oder blank dreams, isoliert in Erscheinung treten. „[T]here should be dreams without visual content in which the dream screen appears by itself.“5 Die leere Traumleinwand fungiert dabei nicht ausschließlich als Projektionsfläche für die visuellen Inhalte, sondern ist selbst Inhalt. Lewin setzt den Leertraum mit der Erfüllung des infantilen Wunsches nach Schlaf gleich. Demgegenüber stören die auf die Traumleinwand projizierten visuellen Inhalte den Schlaf. “The visual content of the dream in general represents the wakers; the dream screen, primary infantile sleep.”6 Die Entstehung der Traumleinwand führt Lewin auf die Situation des gestillten Säuglings, der an der Mutterbrust einschläft und dabei die Brust als visuelles Perzept verinnerlicht, zurück. „Theoretisch korrekter ist es, wenn wir sagen, dass der Säugling einen ‚bildlosen Traum’ (‚blank dream’) hat, eine ‚Erscheinung’ (vision) gleichförmiger Leere, die ein andauerndes Nachbild der Brust ist.“7 Dieses unausgefüllte Bild der abgeflachten Brust bleibt im späteren Leben als eine Art Hintergrund oder Projektionsschirm für die Träume erhalten. Lewin geht in seinen Überlegungen von der in der Psychoanalyse bekannten Idee aus, dass mit dem Schlaf eine Regression zum Säugling oder Baby im Uterus stattfindet, die bewusst oder unbewusst mit der Idee des gesättigten Säuglings, der an der Brust einschläft, assoziiert ist. „There ist nothing new, therefore, in the idea that sleep, even in adults, repeats an orally determined infantile situation, and is consciously or unconsciously associated with the idea of being a satiated nursling [...].”8 Die Traumleinwand im erwachsenen Schlaf erscheint in diesem Licht als ein oral determiniertes Regressionsphänomen.

a. Essen und gegessen werden

Lewin zieht von seinen Beobachtungen Parallelen zur entdifferenzierten Situation, in der sich der Säugling befindet. Das Neugeborene kann noch nicht zwischen sich und der Umwelt beziehungsweise eigenem Körper und nährender Mutterbrust unterscheiden. „The baby does not distinguish between its body and the breast [...].”9 Genauso wenig trennt das Neugeborene das Traumerlebnis vom Wacherlebnis. „[T]he very young ego carries dream wishes and dream mechanisms into waking life, with less distortion to be sure. The young ego does not seperate dreams from waking.”10 Im Schlaf und Traum zerfällt das Ich und verbindet sich mit der Brust wie beim Stillen zu einer Einheit. „Ego boundaries are lost when there is a fusion with the breast; the absence of ego boundaries implies an antecedent oral event.”11 Die Verschmelzung von Ich und Brust ist an die orale Phantasie vom Essen und Gegessen werden geknüpft. Der Säugling identifiziert sich beim Trinken der Milch mit der Nahrung und übernimmt damit die Phantasiemöglichkeit des Gegessenwerdens. „The effect of eating is an identification with the thing eaten. [...] [T]here is primarily no appreciation in the baby of the distinction between itself - that is, its skin and mouth - and the surface of the mother`s breast. The baby does not know what it is eating: it may be eating something on the breast or in the breast, or something that belongs to itself.”12 Der Schlafwunsch des Säuglings wird dieser Logik folgend auch mit dem Wunsch, zu essen und gegessen zu werden, vermengt. „Strict analytic logic compels us to see in the wish to sleep a wish to be eaten up. Falling asleep coincides with the baby`s ingestion of the breast; the result is an identification with what was eaten. Hence, the wish to fall asleep means an assumption of the qualities of what was eaten, including, in accord with animistic mentality, the wish to be eaten.”13 Die Traumleinwand, die als Repräsentanz der Brust dem Säugling im Schlaf beziehungsweise Traum erscheint, steht dabei stellvertretend für den Wunsch zu schlafen, zu essen und gegessen zu werden. „The sleeper has eaten himself up, completely or partially [...] and become divested of his body - which then is lost, merges in its identification with the vastly enlarged and flattened breast, the dream screen.”14 Das Ich verbleibt während des Schlafes oder Traumes in diesem Verschmelzungszustand, der gleichsam durch die Traumleinwand, obgleich nicht wahrgenommen, repräsentiert wird.

b. Isakower-Phänomen

Der Psychoanalytiker Isakower, dessen Forschungen auch Lewin zu Rate zog, setzte sich ebenfalls mit halluzinierten Wahrnehmungen seiner Patienten auseinander, die diese in hypnagogen Zuständen, also mit erhöhter Temperatur oder kurz vor dem Einschlafen erfuhren. Die Patienten berichteten von coenästhetischen Empfindungen, also Körperhalluzinationen, die den Mund, die Hautoberfläche und das Tastgefühl der Hände betrafen. „Die etwas vagen Empfindungen werden beschrieben als etwas Faltiges oder etwas Körnig-Trockenes, etwas Weiches, das den Mund füllt; es wird zugleich an der Hautoberfläche des Körpers und in den Handflächen gefühlt.“15 Diese Wahrnehmungen wurden begleitet von der visuellen Vorstellung eines herannahenden und sich wieder entfernenden Objektes, das sich hauptsächlich durch sein starkes Anwachsen und wieder Verkleinern charakterisierte. „Diese Empfindungen konnten manchmal optisch als ein schattenhaftes, unbestimmtes, rundes Etwas wahrgenommen werden, das sich näherte und zu ungeheurer Größe anwuchs - dann wieder zu einem Nichts zusammenschrumpfte!“16 Wie Lewin entdeckte Isakower also die Brust als das erste visuelle Perzept in der menschlichen Wahrnehmung. „Sowohl Lewin wie Isakower meinen, dass die von ihnen beschriebenen Phänomene auf die Erinnerung einer vermutlich ersten visuellen Wahrnehmung zurückgehen, und zwar der mütterlichen Brust.“17 Während Lewin mit dem Konzept der Traumleinwand seine Untersuchungen auf die visuellen Aspekte der Wahrnehmung konzentriert, legt Isakower sein Augenmerk zu einem größeren Teil auf die Halluzinationen in der Körperwahrnehmung, von denen seine Patienten berichteten. René Spitz griff die

[...]


1 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 420.

2 Lewin, Bertram D.: Interferences from the dream screen. In: The Internationale Journal of Psycho-Analysis, Volume XXIX, London, 1948. S. 224

3 Zitiert nach: Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 420.

4 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 420.

5 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 422.

6 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 427f.

7 Lewin, Bertram D.: Das Hochgefühl. Zur Psychoanalyse der gehobenen, hypomanischen und manischen Stimmung. Frankfurt/M., 1982. S. 79.

8 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 419f.

9 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 427.

10 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 422.

11 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 427.

12 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 428.

13 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 431.

14 Lewin, Bertram D.: Sleep, the Mouth and the Dream Screen. In: The Psychoanalytic Quarterly, Nr. 4, 1946, New York. S. 419-434, hier S. 427.

15 Spitz, René A.: Die Urhöhle. Zur Genese der Wahrnehmung und ihrer Rolle in der psychoanalytischen Theorie. In: Psyche. Eine Zeitschrift für psychologische und medizinische Menschenkunde. IX. Jahrgang, 11. Heft, Berlin/Heidelberg, Februar 1956. S. 641-667, hier S. 642.

16 Spitz, René A.: Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr (1965). Stuttgart, 1967. S. 95.

17 Spitz, René A.: Die Urhöhle. Zur Genese der Wahrnehmung und ihrer Rolle in der psychoanalytischen Theorie. In: Psyche. Eine Zeitschrift für psychologische und medizinische Menschenkunde. IX. Jahrgang, 11. Heft, Berlin/Heidelberg, Februar 1956. S. 641-667, hier S. 642.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Die „Traumleinwand“
Untertitel
Bertram D. Lewins psychoanalytische Traumtheorie im Vergleich zum Kinoerlebnis
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Kulturwissenschaft)
Veranstaltung
Geträumtes Denken - gedachtes Träumen - geträumtes Träumen
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
14
Katalognummer
V144685
ISBN (eBook)
9783640556861
ISBN (Buch)
9783640556786
Dateigröße
467 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit ist eine Verschriftlichung des Referats, gehalten von Franziska Roeder am 10. Juli 2009, und behandelt mit dem Konzept der „Traumleinwand“ einen psychoanalytischen Zugang zum Themenkomplex Traum/ Film/Kino.
Schlagworte
Traum, Kino, Psychoanalyse, Lewin, Film, Regression, Spitz, Baudry, Zeul, Leinwand, Brust, Säugling, Schlaf, Urhöhle, Isakower, dream screen, Leertraum
Arbeit zitieren
Franziska Roeder (Autor:in), 2009, Die „Traumleinwand“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144685

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