Ernst Toller - Von der Utopie zur Wirklichkeit

Fünf Stücke aus der Weimarer Republik


Forschungsarbeit, 2005

41 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Hauptteil
1 Themen der Dramen
1.1 Die Wandlung
1.2 Masse Mensch
1.3 Hinkemann
1.4 Hoppla, wir leben!
1.5 Feuer aus den Kesseln
1.6 Entwicklungstendenzen
2. Figuren
2.1 Die Wandlung
2.2 Masse Mensch
2.3 Hinkemann
2.4 Hoppla, wir leben!
2.5 Feuer aus den Kesseln
2.6 Entwicklungstendenzen
3. Sprache
3.1 Die Wandlung
3.2 Masse Mensch
3.3 Hinkemann
3.4 Hoppla, wir leben!
3.5 Feuer aus den Kesseln
3.6 Entwicklungstendenzen
4. Surrealistische Elemente
4.1 Die Wandlung
4.2 Masse Mensch
4.3 Hinkemann
4.4 Hoppla, wir leben!
4.5 Feuer aus den Kesseln
4.6 Entwicklungstendenzen
5. Individuum und Gemeinschaft
5.1 Die Wandlung
5.2 Masse Mensch
5.3 Hinkemann
5.4 Hoppla, wir leben!
5.5 Feuer aus den Kesseln
5.6 Entwicklungstendenzen
6. Von Sieg und Scheitern der Revolution
6.1 Die Wandlung
6.2 Masse Mensch
6.3 Hinkemann
6.4 Hoppla, wir leben!
6.5 Feuer aus den Kesseln
6.6 Entwicklungstendenzen
7. Pazifismus gegen Gewalt
7.1 Die Wandlung
7.2 Masse Mensch
7.3 Hinkemann
7.4 Hoppla, wir leben!
7.5 Feuer aus den Kesseln
7.6 Entwicklungstendenzen
8. Religiöse Symbolik und Menschheitsglaube
8. 1 Die Wandlung
8.2 Masse Mensch
8.3 Hinkemann
8.4 Hoppla, wir leben!
8.5 Feuer aus den Kesseln
8.6 Entwicklungstendenzen

Zusammenfassung / Schluss

Bibliographie
Werkausgaben
Sekundärliteratur
Hilfsmittel

I. Einleitung

Thema der vorliegenden Arbeit ist die vergleichende Analyse von fünf Dramen Ernst Tollers aus der Zeit der Weimarer Republik. Untersucht werden Die Wandlung (1917/18) , Masse Mensch (1919) , Hinkemann (1921/22) , Hoppla, wir leben! (1927) und Feuer aus den Kesseln (1930).[1] Die Wandlung ist zwar noch im ausgehenden Kaiserreich entstanden, aber erst 1919 gedruckt und uraufgeführt worden, so dass das Stück hier zu Tollers Werken aus der Weimarer Zeit gezählt wird.

Ziel des Vergleichs ist es, herauszufinden, in welche Richtung sich das dramatische Schaffen Ernst Tollers während der Weimarer Republik entwickelt hat. Hierbei liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf den inhaltlichen und nicht auf den formalen Aspekten der Dramen. Dabei wird auch untersucht, ob und inwieweit sich aus den Stücken ein ethischer und politischer Überzeugungswandel des Dichters ablesen lässt. Zu diesem Zweck erfolgt eine vergleichende Inhaltsanalyse der Dramen unter den Aspekten: Thema des Dramas, Figuren, Sprache und surrealistische Elemente sowie eine Untersuchung verschiedener in den Dramen wiederkehrender Themenfelder: Individuum und Gemeinschaft, Sieg und Scheitern der Revolution, Pazifismus gegen Gewalt, Religion, Menschheitsglaube und religiöse Symbolik. Unter jedem Punkt der Analyse erfolgt eine chronologische Abhandlung der fünf Dramen.

Ergänzend und vergleichend werden verschiedene Darstellungen über Werk und Leben Ernst Tollers herangezogen. Auf Grund der angestrebten Kürze der Arbeit kann die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur jedoch nur schlaglichtartig erfolgen. Auch musste aus der inzwischen ziemlich umfangreichen Literatur zu Ernst Toller eine Auswahl getroffen werden.[2] Ich habe mich vor allem auf seit 1990 erschienene Untersuchungen konzentriert, da die älteren Titel schon gründlich rezipiert worden sind. Auch stützt sich meine Untersuchung in erster Linie auf die Dramentexte selbst und erst in zweiter Linie auf die Forschungsergebnisse der Sekundärliteratur.

Textgrundlage für die Dramenanalyse sind die fünfbändige Toller- Werkausgabe von Spalek und Frühwald[3] sowie der Auswahlband Ernst Toller: Prosa, Briefe, Dramen, Gedichte[4].

II. Hauptteil

1 Themen der Dramen

1.1 Die Wandlung

Das expressionistische Stationendrama Die Wandlung ist Tollers erstes Stück und stark von seiner Auseinandersetzung mit dem Trauma des ersten Weltkriegs geprägt. Das Programm des Dramas ist bereits im vorangestellten Gedicht Aufrüttelung enthalten: „Den Weg! Den Weg! – Du Dichter weise.“ Dem Dichter kommt hier also eine Führungsrolle zu: Er soll die Menschheit aus dem Blutbad des „Erdgemetzels“ befreien und sie in eine bessere Zukunft führen. Dementsprechend steht ein Künstler im Zentrum des Stücks: der sensible Außenseiter Friedrich, der durch eigenes Leiden das Leid der Menschheit erkennt und durch eine mystische Schau den Weg zum „unbedingten“ Menschsein findet. Er wandelt sich vom enthusiastischen Kriegsfreiwilligen zum pazifistischen Revolutionär. Seine Wandlung ist beispielhaft für den geistigen Erkenntnisprozess, den jeder Einzelne durchlaufen muss, damit aus den veränderten einzelnen Menschen schließlich eine veränderte und bessere Gesellschaft entsteht. Das Stück endet mit Friedrichs Aufruf zur gewaltlosen Revolution durch innere Umkehr.

Das Drama spielt in Europa „vor Anbruch der Wiedergeburt“.

Die Wandlung ist stark autobiographisch geprägt. Für Toller war das Stück nicht nur individuelles Bekenntnis, sondern auch politisches „Flugblatt“, das er zur Antikriegspropaganda nutzte.[5]

1.2 Masse Mensch

In Masse Mensch, einem expressionistischen Ideendrama, gestaltet Toller den Konflikt zwischen ethischem Ideal und politischer Wirklichkeit. Die Hauptfigur Sonja Irene L. ringt vor dem Hintergrund der Revolution um ihre pazifistische Überzeugung. Dabei muss sie sich als Streikführerin sowohl mit der gewalttätigen Masse, verkörpert durch den Namenlosen, als auch mit sich selbst als Teil der Masse auseinandersetzen. Sonja kehrt zwar nach einer kurzen Phase der Verirrung zu ihrem Ideal der Gewaltlosigkeit zurück, wird jedoch nach Niederschlagung des Umsturzversuchs von den Gegnern der Revolution erschossen.

Einerseits geht es um die Frage, ob Gewalt oder Pazifismus zur „neuen Gesellschaft“ führen. Andererseits geht es darum, ob sich die Masse überhaupt Pazifismus leisten kann oder ob eine solche ethische Position nur dem Einzelnen möglich ist. Da jeder Einzelne aber gleichzeitig auch Teil der Masse ist, lebt er in einem unauflösbaren Konflikt. Dieser Konflikt ist zentrales Thema von Masse Mensch.

Ort und Zeit der Handlung bleiben unbestimmt.

Toller hat hier seine eigenen Revolutionserlebnisse verarbeitet.[6] Auch er hatte, ähnlich wie die Frau in Masse Mensch, als Politiker der Münchener Räterepublik nicht verhindern können, dass Menschen durch die Revolutionäre zu Tode kamen.[7] Entscheidend ist für ihn die Frage nach Schuld und Verantwortung des Einzelnen: „Muss der Handelnde schuldig werden, immer und immer! Oder wenn er nicht schuldig werden will, untergehen?“[8]

1.3 Hinkemann

In der „proletarischen Tragödie“Hinkemann setzt sich Toller mit der Situation eines Menschen auseinander, dem auch die „neue Gesellschaft“ keine Hoffnung bringen könnte: Eine Kriegsverletzung hat die Hauptfigur Eugen Hinkemann zum Kastraten gemacht. Durch sein eigenes Leid ist er sensibel geworden für das Leid aller Kreatur. Doch seine wirtschaftliche Not und die Angst, seine Frau Grete zu verlieren, treiben ihn dazu, gegen seine eigene ethische Überzeugung zu handeln: Er gibt sich als Mäuse- und Rattenblut trinkender „Homunkulus“ auf dem Rummelplatz der Lächerlichkeit preis.

Hinkemann erkennt den scheinbar unausweichlichen Kreislauf des menschlichen Elends. Er hat keine Kraft, mit dieser Erkenntnis weiterzuleben und erhängt sich, nachdem seine Frau sich aus dem Fenster gestürzt hat. Sein Schicksal steht symbolisch für die ewige menschliche Not.[9]

Es geht hier also um die Grenzen der Revolution. Auch in einer gerechteren Gesellschaft wird es immer Menschen geben, die leiden, weil es nicht in der menschlichen Macht liegt, alles Leid abzuschaffen. Parallel zur Auseinandersetzung mit diesem unauflösbaren menschlichen Leid kritisiert Toller die Spaltung der Arbeiterbewegung, die nach seiner Überzeugung mitschuldig ist am Scheitern der Revolution.[10]

Hinkemann spielt um 1921 in Deutschland.

Toller schrieb das Stück in einer Phase tiefer Depression.[11] Es löste Stürme der Entrüstung aus.[12]

1.4 Hoppla, wir leben!

In der Zeitrevue Hoppla, wir leben! geht es um den Konflikt zwischen Utopie und Wirklichkeit. Im Zentrum des Stücks steht Karl Thomas, ein „der Welt abhanden gekommener“ Idealist und Revolutionär. Nach Teilnahme an der Revolution verhaftet und zum Tode verurteilt, wurde er überraschend begnadigt. Über die nervliche Anspannung verrückt geworden, verbrachte er acht Jahre im Irrenhaus und scheitert nach seiner Entlassung an der Konfrontation mit der Realität der Weimarer Republik. An dieser Konfrontation werden einerseits die Ideale der Revolutionszeit 1918 den tatsächlichen korrupten Verhältnissen der Republik 1927 gegenübergestellt, wenn etwa ein ehemaliger Revolutionär inzwischen im Ministersessel sitzt und mit der Reaktion paktiert. Andererseits aber werden diese Ideale auch kritisch auf ihre Umsetzbarkeit überprüft. An drei ehemaligen Kampfgenossen Karls zeigt Toller die mühsame Umsetzung der hehren revolutionären Ziele im Alltag. Karl und seine Utopie der Revolution dagegen scheitern an der neuen Zeit, er wird für ein Attentat verhaftet, das er nicht begangen hat (aber fast begangen hätte) und erhängt sich in seiner Zelle – gerade, als man den wahren Mörder gefasst hat. Gleichzeitig entfaltet das Stück ein breit gefächertes Panorama der gesellschaftlichen Verhältnisse der Weimarer Zeit.

Laut Personenverzeichnis spielt das Stück „in vielen Ländern“, „acht Jahre nach einem niedergeworfenen Volksaufstand“ im Jahr 1927. Aus dem Stück selbst wird jedoch deutlich, dass es in der Weimarer Republik spielt.

Toller setzt sich in der Figur des revolutionären Idealisten Karl Thomas auf ironische Weise mit seinen früheren politischen und künstlerischen Positionen auseinander. Auf die endgültige Fassung des Dramas hat Erwin Piscator großen Einfluss genommen.[13]

1.5 Feuer aus den Kesseln

Das Dokumentarstück Feuer aus den Kesseln fällt etwas aus dem Rahmen, weil es sich hier ausdrücklich um ein „historisches Schauspiel“ handelt und viele der porträtierten Personen tatsächlich gelebt haben und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch lebten.[14] Toller bringt in der Buchausgabe sogar dokumentarische Belege für das historische Geschehen. Er hat jedoch auch einige Änderungen vorgenommen.[15]

Das Stück handelt von den deutschen Marineunruhen 1917 und den juristischen wie revolutionären Folgen. Der Aufstand der Matrosen resultiert aus dem (Klassen-)Konflikt zwischen Offizieren und Mannschaft, festgemacht an der ungleichen Verpflegung und dem sinnlosen Drill, dem die Matrosen unterworfen werden. Erstmals stellt Toller hier eine Gruppe von handelnden Personen in den Mittelpunkt eines Stücks: Die Menagekomission der SMS „Prinzregent“, bestehend aus den Matrosen Köbis, Reichpietsch, Beckers, Weber und Sachse. Er zeigt seine Protagonisten zunächst in der Schlacht vor Skagerrak, dann in der Auseinandersetzung mit Offizieren und Politikern um eine fairere Behandlung, bei ihren „aufrührerischen“ Aktionen, vorm Kriegsgericht und in der Todeszelle. Letztlich werden zwei von ihnen, Köbis und Reichpietsch, hingerichtet. Den Einstieg in das Stück bildet ein Untersuchungsausschuss des Reichstags 1926, der nicht etwa die Rechtmäßigkeit der (Todes-) Urteile überprüfen soll, sondern die Frage, ob die Marineunruhen „aus der deutschen Marine hervorgegangen oder wie weit sie in diese hineingetragen sind“.[16] Justizkritik und Zeitkritik gehen hier also Hand in Hand, denn kritisiert wird nicht nur der Justizmord an den Matrosen Köbis und Reichpietsch, sondern auch dessen unzureichende Aufarbeitung in der Weimarer Republik.

Das Stück spielt vor Skagerrak, in Wilhelmshaven, Rüstersiel, Kiel und Berlin in den Jahren 1917, 1918 und 1926.

Feuer aus den Kesseln wurde ein finanzieller Flop.[17]

1.6 Entwicklungstendenzen

Die Stoffe der ersten beiden Stücke sind überzeitlich gewählt und die Handlungsorte bleiben unbestimmt. Die Konflikte in den Dramen sind autobiographisch geprägt. In den folgenden Stücken dagegen wendet Toller sich zeitaktuellen Themen und tatsächlich existierenden bzw. realistisch gestalteten Orten zu.

Die ersten drei Dramen, alle in Festungshaft geschrieben, setzen sich stark mit Bewusstsein und -werden des Einzelnen auseinander. In der Folge wird der einzelne „Held“ durch eine Gruppe von Hauptpersonen ersetzt. Die Konfliktebene wird aus dem Bewusstsein einer einzelnen Hauptperson zunehmend nach außen auf die Gesellschaft verlagert.

2. Figuren

2.1 Die Wandlung

Die Wandlung ist ganz auf die Hauptfigur Friedrich konzentriert. Daher beziehen sich auch alle anderen Figuren in ihrem Handeln und Argumentieren auf ihn.[18] Es handelt sich bei ihnen nicht um Individuen, sondern um Typen und Verkörperungen von Ideologien. Sie sind nach ihren Funktionen bezeichnet, nach „besonderen“ Merkmalen oder nach Eigenschaften (Mutter, Arzt, alter Herr mit dem Abzeichen, Irrer, etc.). Nur die Hauptfigur Friedrich und die Schwester seines Freundes, Friedrichs Geliebte Gabriele, tragen einen Namen. Der Name Friedrich stammt vom althochdeutschen Fridurich (von ahd. fridu = Frieden + rihhi = Herrschaft, bzw. = mächtig, reich)[19], bedeutet also soviel wie „Friedensherrscher“, „friedensreich, -mächtig“. Er bezieht sich unmittelbar auf die pazifistische Position, die Friedrich nach seiner „Wandlung“ vertritt.

In der Aufzählung der Personen steht das Volk an zweiter Stelle, ein wichtiger Hinweis auf die Bedeutung und Macht, die ihm im Stück zugesprochen wird (entsprechend der Widmung „Ihr seid der Weg.“). Friedrichs Schwester hat als eine Art Prophetin eine Schlüsselfunktion inne: Nur durch sie gelingt es Friedrich, seinen „Weg“ zu erkennen. Als allegorische Figur tritt der Tod in verschiedenen Gestalten auf. Er wird im Personenverzeichnis als „Feind des Geistes“ bezeichnet. Da der Friedenstod den Kriegstod im Vorspiel als Diener der Kriegsmaschinerie entlarvt und dann lachend davon geht, ist anzunehmen, dass im folgenden Stück mit „Tod“ nur der Kriegstod gemeint ist.[20] Er verkörpert alles, was am alten Staats- und Gesellschaftssystem die mörderische Kriegs- und Zerstörungsideologie stützt.

Bei der Hauptfigur Friedrich handelt es sich um einen Juden bürgerlicher Herkunft. Sein Ringen um den richtigen Weg steht exemplarisch für Kampf und Wandlung, die jeder einzelne Mensch durchstehen muss, um die angestrebte neue Menschheit zu erschaffen. Zunächst Außenseiter auf Grund seiner jüdischen Herkunft, erlangt er durch seinen freiwilligen Kriegsdienst eine Zugehörigkeit zu seinem (dem deutschen) Volk, die ihm selbst aber falsch erscheint. Er erkennt, dass es nicht um Volk und Nation, sondern um „den Menschen an sich“ geht. Nach seiner Wandlung zum Pazifisten wird Friedrich zu einer fast jesusgleichen Figur, im Stück ist von Kreuzigung und Wiederauferstehung die Rede. Er kann sich nun in das Leiden jedes Menschen einfühlen, ist frei von Hass und jeglichen negativen Gefühlen. Er ist ein „Erfüllter im Geist“, der die Macht hat, auch andere sehend zu machen.

Nach Grunow-Erdmann wird in der Figur Friedrichs auch „[die] Trennung von künstlerischer und menschlicher Sendung [aufgehoben]“.[21]

2.2 Masse Mensch

Nur eine der beiden Hauptfiguren, Sonja Irene L., eine Frau, besitzt einen Namen, der allerdings nur im Personenverzeichnis genannt wird. Ihre Namen bedeuten „Weisheit“ (Sonja als russische Verkleinerungsform von Sofia, griech. sophia), auch im Sinne von Lebensweisheit, und „die Friedliche“ (Irene zu griechisch eirene = Frieden).[22] Auch hier korrespondieren Name und Charakter der Figur, denn Sonja vertritt im Stück die pazifistische Position. Ihr Kontrahent trägt als Verkörperung der Masse schlicht die Bezeichnung „der Namenlose“. Er fordert eine Revolution durch Gewalt und wird am Ende des Stücks von Sonja als „Bastard des Krieges“ entlarvt, der keine Liebe für die Menschen empfindet. Eine besondere Position nimmt „der Begleiter“ der Frau ein, der nur in den Traumbildern auftritt. Er hat eine ähnliche Funktion wie die Schwester und der nächtliche Begleiter in der Wandlung: Er regt Sonja zur Auseinandersetzung mit ihren Überzeugungen an und ermöglicht ihr eine innere Weiterentwicklung. Die Masse als „Person“ zeigt sich im Stück leicht manipulierbar, verführbar und von gewalttätigen Instinkten beherrscht.

Im Personenverzeichnis existiert eine Aufteilung der Personen in „Spieler“ und in „Gestalten“, letztere treten in den Traumbildern auf. Sonja Irene L. wird in beiden Gruppen angeführt. Obwohl sie die zentrale Rolle im Stück spielt, wird sie im Personenverzeichnis der „Spieler“ als Letzte genannt. Dafür steht sie bei den „Gestalten“ der Traumbilder an erster Stelle – ein Hinweis darauf, dass die wesentlichen Auseinandersetzungen, denen sich Sonja stellen muss, nicht die mit dem Namenlosen sind, sondern die, die sie auf der Ebene der Traumbilder mit sich selbst auszukämpfen hat. An erster Stelle bei den „Spielern“ stehen die Arbeiter, an zweiter die Arbeiterinnen – entsprechend der Widmung des Stückes („Den Proletariern.“). Alle anderen Personen tragen Funktionsbezeichnungen (Offizier, Priester, etc.). Sie sind sehr schablonenhaft gezeichnet und stellen weniger wirkliche Menschen als vielmehr die Verkörperung bestimmter Weltanschauungen oder gesellschaftlicher Schichten dar. Als „irreales“ Element treten in einem der Traumbilder Schatten von im Kampf um die Revolution Getöteten auf.

Sonja ist bürgerlicher Herkunft. Sie vertritt eine pazifistische Position, von der sie sich nur kurzfristig durch die schiere Übermacht der Masse und des Namenlosen abbringen lässt. Nach ihrem Ringen mit sich und ihrer Schuld muss sie ihre neu gefestigte Überzeugung gegen verschiedene Ideologieträger verteidigen. Sie ist die Einzelne, die stellvertretend für alle kämpft und um Erkenntnis ringt. Am Schluss sprengt sie den Rahmen ihrer persönlichen Existenz: Sie wird „ewig“, weil sie stellvertretend für die kommende Menschheit steht.[23] So wird sie im übertragenen Sinn weiterleben, auch wenn sie am Ende des Stückes von der Reaktion erschossen wird.

2.3 Hinkemann

Viele Figuren der Tragödie tragen sprechende Namen, so die Hauptfigur Hinkemann, ein Kriegsinvalider, der angeberische und „sexbesessene“[24] Paul Grosshahn, der recht simpel gestrickte Michel Unbeschwert, der eine automatische Lösung aller Probleme der Welt durch den zwangsläufig kommenden Sozialismus erwartet, der notorisch kritische und unbequeme Max Knatsch usw. Die Arbeiter werden als Typen, nicht als Individuen gezeigt, sie fungieren als Träger verschiedener Ideologien. Auch die anderen Nebenfiguren werden teils schon im Personenverzeichnis als „Typen“ bezeichnet, wobei ihre Bezeichnung nach „Funktionen“ an die expressionistischen Stücke Tollers erinnert (z.B. Liebesmaschinchen, Kontrollzähler, Gummiknüppel).

Hinkemanns Vornahme Eugen bedeutet „der Wohlgeborene“ (zu griechisch eu-genes = edel, wohlgeboren).[25] Zufall oder bewusste Wahl Tollers, um auf den Hohn des menschlichen Schicksals zu verweisen? Der Name seiner Frau Grete bedeutet „die Perle“ (Grete als Kurzform von Margareta, Margarete zu lateinisch margarita aus griechisch margarites = Perle).[26] Grete zeigt sich als naiv und leicht manipulierbar, auch ihre Religiosität ist von Naivität geprägt und letztlich nur Flucht aus einer Welt, die sie nicht versteht und die ihr Angst macht. Aber ihre Liebe überwindet am Ende ihre Furcht und ihren Ekel vor Hinkemann, so dass ihr Name vielleicht auch metaphorische Bedeutung hat.

Hinkemann ist eine tragische und widersprüchliche Figur. Einerseits ist er durch seine Kriegsverletzung, die ihn entmannt hat, sensibel geworden für das Leid aller Kreatur. Im Gegensatz zu Friedrich und Sonja ist er aber unfähig, sein Leid zu transformieren. Seine größte Furcht ist es, von seiner Frau wegen seiner Impotenz verlacht zu werden. Aus wirtschaftlicher Not und der damit verbundenen Angst, Grete zu verlieren, tritt er gegen seine ethische Überzeugung und sein Schamgefühl als Rattenblut trinkender „Homunkulus“ auf dem Rummelplatz auf. Nach einer Lüge Großhahns glaubt er, Grete habe ihn tatsächlich ausgelacht. Aus seiner Frustration heraus wird er grausam und ungerecht gegen sie und will Grete sogar töten. Erst angesichts ihrer Augen, die die „der gehetzten, der geschlagenen, der gepeinigten, der gemarterten Kreatur“[27] sind, begreift er, wie brutal und mitleidlos auch er selbst sein kann.

Selbst Gretes fortdauernde Liebe kann ihm nicht die nötige Kraft zum Weiterleben geben, da er alle Illusionen über die Menschen und sich selbst verloren hat: Hinkemann: „Ich bin durch die Straßen gegangen, ich sah keine Menschen … Fratzen, lauter Fratzen. Ich bin nach Haus gekommen, ich sah Fratzen … und Not … sinnlose, unendliche Not der blinden Kreatur … Ich habe die Kraft nicht mehr. Die Kraft nicht mehr zu kämpfen, die Kraft nicht mehr zum Traum. Wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben.“ (3. Akt, 3. Szene:)[28]

[...]


[1] Die Jahreszahlen beziehen sich auf die Entstehungsjahre der Stücke.

[2] Zum Stand der Forschung über Leben und Werk Tollers siehe Reimers 2000, S. 13-18. Seit 1999 erscheint auch eine neue Schriftenreihe der Ernst-Toller-Gesellschaft mit Sitz in Neuburg an der Donau, die auch eine umfangreiche Sammlung von Primär- und Sekundärliteratur zu Toller besitzt und diese dem deutschen und internationalen Leihverkehr zur Verfügung stellt (Neuhaus/Selbmann/Unger 1999, S. 259-61).

[3] Zitiert als „GW“.

[4] Zitiert als „Toller: Prosa“.

[5] Toller: Prosa, S. 55 (Brief an Henri Barbusse).

[6] GW Bd. 4, S. 222f.

[7] Ebd., S. 157.

[8] Ebd., S. 222.

[9] Toller: Prosa, S. 66.

[10] Dove 1993, S. 145.

[11] Ebd., S. 145f.

[12] Rothe 1983, S. 89f.

[13] Vgl. Frühwald/Spalek 1979, S. 182ff (Brief Piscators an Toller).

[14] Der ehemalige Matrose Sachse saß sogar im Premierenpublikum. Vgl. Frühwald/Spalek 1979, S. 190.

[15] So änderte Toller z.B. den Namen des Kriegsgerichtrates Dobring in Schuler. Vgl. GW Bd. 3, S. 327.

[16] GW Bd. 3, S. 123.

[17] Vgl. Frühwald/Spalek 1979, S. 190.

[18] Vgl. Reimers 2000, S. 47.

[19] Weitershaus 1978, S. 97.

[20] Zum Gegensatz zwischen Kriegs- und Friedenstod vgl. Kim 1998, S. 48ff.

[21] Grunow-Erdmann 1994, S. 52.

[22] Weitershaus 1978, S. 170, S. 118.

[23] Vgl. Grunow-Erdmann 1994, S. 74.

[24] Vgl. Kim 1998, S. 170.

[25] Weitershaus 1978, S. 92.

[26] Weitershaus 1978, S. 139.

[27] GW Bd. 2, S. 243.

[28] Ebd., S. 244f.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Ernst Toller - Von der Utopie zur Wirklichkeit
Untertitel
Fünf Stücke aus der Weimarer Republik
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Seminar für deutsche Literatur und Sprache)
Veranstaltung
FLS Drama und Theater der Weimarer Republik II
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
41
Katalognummer
V144355
ISBN (eBook)
9783640542499
ISBN (Buch)
9783640542765
Dateigröße
836 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Forschungslernarbeit zur Zwischenprüfung Deutsche Literaturwissenschaft.
Schlagworte
Ernst Toller, Dramen, Weimarer Republik, Die Wandlung, Masse Mensch, Hinkemann, Hoppla wir leben!, Feuer aus den Kesseln, Revolution, Pazifismus, Inhaltsanalyse
Arbeit zitieren
Magistra Artium Corinna Heins (Autor:in), 2005, Ernst Toller - Von der Utopie zur Wirklichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144355

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