Narratives im 2. Satz von Beethovens 4. Klavierkonzert op. 58 G-Dur


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsangabe:

1. Einleitung

2. Das Konzept des Narrativen in der Instrumentalmusik

3. Harmonisch-thematische Analyse

4. Zusammenfassung

5. Literatur

1. Einleitung

Do we really add anything of value to the experience of, say, the slow movement of the Fourth Piano Concerto when we speculate about its entrenched literary associations or when we point to its kinship with certain dramatic techniques of opera?1

Leon Plantinga

Man mag über die Offenheit dieser Frage verblüfft sein - sie trifft aber den Nagel auf den Kopf. Und zwar nicht in dem Sinne, dass sie jegliche Überlegungen zu “literary associations” oder einer “kinship with certain dramatic techniques” von vornherein ad absurdum führt; sondern in der Implikation der Frage, welche Überlegungen über ein rein deskriptives Vorgehen hinaus zum besseren Verständnis eines Werkes sinnvoll sind, und welche nicht. Dabei ist es trotz des eingeschobenen „say“ sicher kein Zufall, dass hier gerade das Andante con moto aus dem 4. Klavierkonzert Beethovens als Beispiel herangezogen wird. Schließlich ist gerade in Bezug auf diesen Satz viel über eine mögliche „poetologische“ oder gar „programmatische“ Auslegung spekuliert worden - von Adolf Bernhard Marx’ ersten „orpheischen“ Deutungen über Owen Janders vieldiskutierten Aufsatz Beethovens „ Orpheus in Hades “ bis hin zu Versuchen jüngeren Datums (etwa von Joseph Kerman), eine mögliche „Szenerie“ über den Ruch programmatischer Auslegung hinaus zu bewahren. Zwar wurden einer allzu außermusikalischen Hermeneutik verpflichtete Deutungen, wie sie im 19. Jahrhundert vorherrschend gewesen waren, als unhaltbar gebrandmarkt. Zu Recht, möchte man als moderner westeuropäischer Konzertgänger vielleicht sagen; doch darf man dabei nicht vergessen, dass das Konzept der „absoluten“ Musik, wenn auch ästhetisch begründet, alles andere als naturgegeben oder historisch unumstritten ist. Jedenfalls ließ die Ernüchterung über die Blutarmut, welche die zu Anfang des 20. Jahrhunderts an Fahrt gewinnenden formalistisch-positivistischen Analysen oftmals aufwiesen, bald wieder den Ruf nach alternativen Blickwinkeln laut werden.

Dabei existiert mit dem Aspekt des „Dramatischen“ in der Instrumentalmusik ja bereits ein Konzept, mit dem literarische Strategien scheinbar erfolgreich auf die Interpretation von Tonkunst übertragen worden sind. Die Deutung musikalischer Vorgänge als Abfolge von Handlungen, die auseinander erwachsen („die Dominante wird zwar durch einen Vorhalt retardiert, führt aber anschließend wie erwartet zur Tonika“), und Charakteren, die miteinander agieren („durch die Einführung eines kantablen Seitenthemas wird der harsche Anfang etwas abgemildert“), hat sich in der Musikwissenschaft jedenfalls in den geradezu paradigmatisch als „dramatisch“ ausgerufenen Gattungen - der Sonate, dem Konzert, der Sinfonie - fast schon als Gemeinplatz

eingebürgert. Neigt doch der Mensch offenbar grundsätzlich zur Narrativierung, also zur Füllung semiotischer Lücken mit semantischem Inhalt. Damit ist sogleich ein Begriff eingeführt, der in der musikwissenschaftlichen Diskussion sehr viel mehr Widerspruch gezeitigt hat als der des Dramatischen: gemeint ist der Aspekt des Narrativen in der Instrumentalmusik. Dabei ist er als Pendant zur ebenfalls aus der Literaturwissenschaft stammenden Anleihe des „Dramatischen“ zunächst in gleichem Maße legitimiert - genauso übrigens wie weitere Begrifflichkeiten, die eine solche Perspektive einnehmen, wie etwa jener der musikalischen Prosa. Man muss eben nur sehen, ob dieser Vergleich auch einer genaueren Überprüfung standhält.

Genau das soll in dieser Arbeit versucht werden: nach einer bündigen Darstellung der Theorie des Narrativen in der Instrumentalmusik und ihrer Abgrenzung gegenüber anderen Begrifflichkeiten soll gezeigt werden, dass narrative Formkonzepte durchaus zum besseren Verständnis eines derart vielschichtigen Werkes wie des 2. Satzes Andante con moto aus Beethovens 4. Klavierkonzert in G-Dur führen können. Hier muss sogleich vorausgeschickt werden, dass mir dieses Konzept ebensowenig grundsätzlich zur Beschreibung eines jeden beliebigen musikalischen Werkes geeignet scheint, wie der gesamte Satz als „Narration“ bezeichnet werden kann. Dieser zeichnet sich jedoch durch ganz bestimmte musikalische Formstrukturen aus, die in einer Beschreibung, welche an ein genau definiertes Konzept des Narrativen in der Instrumentalmusik anknüpft, sehr wohl gut aufgehoben sind. Eine klare theoretische Abgrenzung scheint hier sinnvoller zu sein, als sich immer wieder mit Erklärungen im Einzelnen zu begnügen, warum das Andante con moto als „szenisch“, „opernhaft“, „rhetorisch“ oder gar „programmatisch“ zu verstehen sei - denn auch wenn das eine oder andere beim Hören unmittelbar einleuchtet, ist damit noch keine befriedigende Begründung erreicht.

2. Das Konzept des Narrativen in der Instrumentalmusik

Wie eingangs erwähnt, scheint der Mensch fast automatisch dazu geneigt, aus sich ihm in einer Zeitabfolge präsentierenden Gebilden Geschichten zu machen - dies lässt sich schon deutlich am Wort „Geschichte“ selbst ablesen, wovon jeder, der schon einmal historiographisch tätig war, ein Lied singen kann.

Dies muss an dieser Stelle zwar noch etwas ausdifferenziert werden, wozu sogleich die Metapher des „Liedes“ herangezogen werden kann: eigentlich ist nicht die Handlung das entscheidende, kennzeichnet sich doch (in aller hier gebotenen Kürze) der Begriff der musikalischen Lyrik, der ja ebenfalls eine Anleihe aus der Literaturwissenschaft darstellt, eben nicht durch Aktion, sondern durch Verharren und Reflexion aus. Doch betrachtet man das Problem genauer, ist auch hier festzustellen, dass eine Szenerie angenommen wird, in der Charaktere (der Hirte, der Sänger u. ä.) walten.

Die Abfolge musikalischer Ereignisse als Charaktere innerhalb (oder, was die eben angesprochene Lyrik betrifft, auch außerhalb) einer Handlung zu begreifen, ist für sich genommen zwar noch nicht besonders spektakulär, aber auch nicht selbstverständlich: vielmehr handelt es sich hier um eine sehr anthropomorphe Vorstellung, die bereits weit über eine rein positivistische Herangehensweise hinausgeht.

An dieser Stelle wird ein Einschub nötig, um einerseits den eben formulierten Verdacht zu erhärten, und andererseits von vornherein eine Verwechslung der Idee, was Musik eigentlich ihrem Wesen nach sei, und des Diskurses darüber, also des Sprechens über Musik zu vermeiden. In der Tat ist die bereits angesprochene Idee der „absoluten“ Musik, also einer „von Funktionen, Worten, Handlungen und schließlich sogar von irdisch greifbaren Gefühlen und Affekten“2 losgelöste Musik eine ideengeschichtlich noch relativ junge Geburt.

Der ä ltere Musikbegriff, gegen den sich die Idee der absoluten Musik durchsetzen mußte, war die aus der Antike stammende und bis zum 17. Jahrhundert niemals angezweifelte Vorstellung, daßMusik, wie Platon es formulierte, aus Harmonia, Rhythmos und Logos bestehe. [ … ] Musik ohne Sprache galt demnach als reduzierte, in ihrem Wesen geschm ä lerte Musik: als defizienter Modus oder bloßer Schatten dessen, was Musik eigentlich ist. [ … ] Trotz Haydn und Beethoven war noch im 19. Jahrhundert das Mißtrauen gegen absolute, von der Sprache emanzipierte Instrumentalmusik bei manchen Ä sthetikern, etwa bei Hegel [ … ] nicht geschwunden. Man beargw ö hnte die ‘ Künstlichkeit ‘ der Instrumentalmusik als Abweichung vom ‘ Natürlichen ‘ oder die ‘ Begriffslosigkeit ‘ als Abkehr von der ‘ Vernunft ‘ . Das überlieferte Vorurteil, daßsich Musik an die Wortsprache anlehnen müsse, um nicht entweder zu einem zwar angenehmen, jedoch weder das Herz rührenden noch den Verstand besch ä ftigenden Ger ä usch abzusinken oder aber zu einer undurchdringlichen Geistersprache zu werden, war tief eingewurzelt. Und sofern man die ‘ absolute ‘

Musik - das heißt eine Instrumentalmusik, die Tonmalerei verschm ä hte und auch nicht als ‘ Sprache des Herzens ‘ zu fassen war - nicht verwarf, suchte man Zuflucht bei einer Hermeneutik, die der ‘reinen, absoluten Tonkunst‘ gerade das aufnötigte, wovon sie wegstrebte: Programme und Charakteristiken.3

Man sieht also, dass die Idee, Musik als (in obigem Sinne) „absolut“ aufzufassen, nicht zu einer von Handlungen und Charakteren befreiten Musikkritik führen muss, ganz im Gegenteil. Erst mit Hanslick wurde die Idee der Musik als „reine, absolute Tonkunst “,4 in der „ein Schönes, das unabhängig und unbedürftig eines von außen her kommenden Inhalts, einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt“5 auch so formuliert.6 Doch selbst Schenker mit seiner höchst abstrahierenden Theorie der „Urlinie“ oder der geradezu als „Formalist“ verschriene Schönberg kamen nicht umhin , für Erläuterungen eines musikalischen Verlaufs Metaphern zu wählen, die stark an Narration erinnern.7 Und bis heute scheint der Zahn einer stark literarisch bestimmten Beschreibung von Musik trotz aller berechtigten Kritik einfach nicht zu ziehen: so ist für mich erstaunlich, wie nonchalant etwa Clemens Kühn mit den Begriffen Prosa und Lyrik im doch so zentralen Artikel über musikalische Form in der MGG hantiert.

Dabei muss das Begreifen musikalischer Ereignisse als Handlung(en) und Charaktere zwar nicht zu solch fantasmagorischen Auswüchsen führen, wie sie im 19. Jahrhundert zuhauf produziert wurden und wohl auch Janders bereits erwähnten Aufsatz zum später von mir selbst analysierten Andante con moto inspiriert haben.8 Doch auch wenn man, sozusagen in einem - nach größerer Objektivität strebenden - umgekehrten hermeneutischen Zirkel erst symbolische (wie die ‘Blitze‘ in Vivaldis op. 8 Nr. 2) und schließlich auch isomorphe Formen (das Horn als Jagdruf) der Darstellung als arbiträr ablehnt und auf abstraktere Sprachmittel zurückgreift, wie sie auch in der Einleitung gebraucht wurden, ist man noch lange nicht aus einer literarisierten Welt heraus, sondern hat nur die musikalischen Funktionen personifiziert: auch wenn Fis-Dur in C-Dur nicht als „Zustand höchster Entrückung“, sondern nur als Tonart mit sechs Kreuzen mehr gesehen wird, muss sie durch einen (harmonischen) „Gang“ „zum Ursprung zurückgeführt“ werden.

[...]


1 Leon PLANTINGA: Beethoven ’ s Concertos, New York u. a. 1999, S. x.

2 Carl DAHLHAUS: Die Idee der absoluten Musik, Kassel u. a. 1978, S. 38.

3 DAHLHAUS: Die Idee der absoluten Musik, S. 15. Hervorhebung nicht im Original.

4 HANSLICK, Eduard: Vom Musikalisch Sch ö nen, hg. v. Klaus MEHNER, Leipzig 1982, S. 57.

5 Ebd., S. 73.

6 Der Begriff der „absoluten Musik“ stammt ursprünglich von Wagner; er meint damit jedoch etwas völlig anderes als Hanslick, wie man sich mit ein wenig Kenntnis seiner Schriften zum Musiktheater auch denken kann. Allerdings ist es auch ein (oft kolportierter) Irrglaube anzunehmen, dass Hanslicks Begriff des „absoluten“, gleichwohl Wagner gegen ihn polemisierte, „seine metaphysische Aura gänzlich eingebüßt habe und nichts anderes ausdrücke als den Anspruch der text-, funktions- und programmlosen Musik“. (DAHLHAUS: Die Idee der absoluten Musik, S. 33; vgl. hierzu a. das gesamte Kapitel „Umwege der Begriffsgeschichte“ in Dahlhaus’ exzellenter Abhandlung).

7 Vgl. Fred E. MAUS: Music as Narrative, in: Indiana Theory Review, Ausgabe 12/1991, S. 1-34; S. 4 ff.

8 Ich verweise hier zum Beispiel auf A. B. Marx’ berühmte Deutung des ersten Satzes der Eroica, in der musikalische Themen und Motive sehr direkt mit einer vorgeblich „napoleonischen“ Programmatik verquickt werden, obwohl Beethoven die ursprüngliche „Widmung“ wieder gestrichen hatte. (Vgl. Carolyn ABBATE: Unsung voices, Princeton21991, S. 21 ff.)

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Details

Titel
Narratives im 2. Satz von Beethovens 4. Klavierkonzert op. 58 G-Dur
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
21
Katalognummer
V144078
ISBN (eBook)
9783640547722
ISBN (Buch)
9783640553099
Dateigröße
845 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Narratives, Satz, Beethovens, Klavierkonzert, G-Dur
Arbeit zitieren
B. A. Bruno Desse (Autor:in), 2009, Narratives im 2. Satz von Beethovens 4. Klavierkonzert op. 58 G-Dur , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144078

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