Formen der Erinnerung und ihre Vereinbarkeit in Prousts "A la recherche du temps perdu"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Die mémoire de l’intelligence oder mémoire volontaire

Die mémoire involontaire

Der oubli als Begründung für die mémoire errante

Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Einleitung

In Prousts A la Recherche du Temps perdu findet der Erzähler die verlorene Zeit letzten Endes in der bereits praktisch zu Beginn des Romans beschriebenen unwillkürlichen Erinnerung wieder, die er beschließt, schriftlich festzuhalten und in ein Kunstwerk umzuformen, womit er zugleich der von ihm vergeudeten Zeit nachträglich doch noch Geltung verleihen kann. Die unwillkürliche ist jedoch nicht die einzige Form der Erinnerung, die in der Recherche vorkommt: Noch vor der „mémoire involontaire“ (IV, 277)[1] schildert der Erzähler eine „mémoire volontaire“ (I, 43), später dann, im Zusammenhang mit Albertine, eine weitere Erinnerungsart, die er als „mémoire errante“ (II, 230) bezeichnet. Gewöhnlich wird zur Interpretation der mémoire involontaire ─ und damit, da diese gleichsam den Grundstein des Romans bildet, der Recherche an sich ─ vor allem der letzte Band, Le temps retrouvé, herangezogen, da dieser gleich nach dem ersten entstanden ist und der Begriff der unwillkürlichen Erinnerung erst dort theoretisiert wird. So kommt etwa Warning zu der Feststellung, dass bei Prousts mémoire involontaire die „‚Macht‘ der Subjektivität“ entfällt, die Authentizität einer plötzlich auftauchenden Erinnerungssequenz also nicht angezweifelt, sondern als „Zufallsgeschenk“ interpretiert wird;[2] mit Hinsicht auf die Albertine-Bände sieht er somit einen „Grundwiderspruch, [einen] die Recherche durchziehenden epistemologischen Riß zwischen einer Poetik des Wissens und einer Inszenierung des Nichtwissens.“[3]

Ein solcher textgenetischer Ansatz zieht jedoch nicht die Tatsache in Betracht, dass dieser „Riß“ dem Leser, der die Recherche der Reihe nach durchnimmt, vor dem letzten Band zumindest nicht in aller Deutlichkeit bewusst werden kann, dass vielmehr die Theorie der mémoire involontaire nicht losgelöst vom restlichen Roman, sondern innerhalb des durch den bereits weit fortgeschrittenen Text vorgegebenen pragmatischen Systems wahrgenommen wird. Auch die Annahme, Proust habe am Ende nicht mehr die Zeit gefunden, Le temps retrouvé grundlegend zu überarbeiten, deutet letztlich darauf hin, dass dem Leser eher die Problematik der Theorie der unwillkürlichen Erinnerung als nachträglich die der Albertine-Bände auffallen kann. Wenn erstere durch Prousts Versäumnis entstanden ist, so kann sie doch ─ etwa mittels Auslegung des Begriffs der Authentizität von Erinnerungen ─ weitgehend aufgelöst werden. Dass nämlich die unwillkürliche Erinnerung, wie sie ─ zunächst bezeichnungslos ─ als Gegenstück zur mémoire volontaire in Du côté de chez Swann eingeführt wird, spätestens nach Einführung des Gedächtnisses durchaus kompatibel mit der mémoire errante erscheint, soll im Folgenden anhand einer Analyse der willkürlichen und unwillkürlichen Erinnerung sowie des oubli dargelegt werden. Allerdings kann dabei der letzte Band der Recherche nicht vollkommen unberücksichtigt bleiben. Immerhin schließt dieser nicht nur ─ wie erwartet ─ den Kreis, den der Erzähler mit der Madeleineszene zu zeichnen begonnen hat, sondern öffnet darüber hinaus noch eine weitere Textebene, nämlich die der Verschriftlichung von Erinnerungen; diese kann natürlich nur mit zeitlicher Verzögerung erfolgen.[4] Die theoretische Rechtfertigung der „Poetik der ‚mémoire involontaire’“[5] in Le temps retrouvé jedoch soll erst abschließend, unter Berücksichtigung der zuvor erlangten Ergebnisse, einbezogen werden. Auf diese Weise lässt sich zudem anhand der auffallenden Unstimmigkeiten die Entwicklung des Erzählers, der zum Autor wird, mindestens ebenso gut nachvollziehen wie mittels der Methode, die die Entstehungsgeschichte des Textes von vornherein berücksichtigt.

Die mémoire de l’intelligence oder mémoire volontaire

Zu Beginn der Recherche wähnt sich der Erzähler, der langsam erwacht und nicht sicher ist, in welchem Bett er sich befindet, in verschiedenen Räumen, die ihm im Verlauf seines Lebens als Schlafzimmer dienten. Als er sich schließlich seines tatsächlichen Aufenthaltsortes bewusst wird, nimmt er die Sinnestäuschung zum Anlass, sich die Orte, an denen zu verweilen er kurz zuvor nicht ausschließen konnte, in Erinnerung zu rufen:

« Mais j’avais beau savoir que je n’étais pas dans les demeures dont l’ignorance du réveil m’avait en un instant sinon présenté l’image distincte, du moins fait croire la présence possible, le branle était donné à ma mémoire ; généralement je ne cherchais pas à me rendormir tout de suite ; je passais la plus grande partie de la nuit à me rappeler notre vie d’autrefois, à Combray chez ma grande-tante, à Balbec, à Paris, à Doncières, à Venise, ailleurs encore, à me rappeler les lieux, les personnes que j’y avais connu, ce que j’avais vu d’elles, ce qu’on m’en avait raconté. » (I, 8-9)

Was folgt, ist eine Schilderung von Combray, in der zwar unter anderen Swann, Françoise, die Eltern des Erzählers, seine Großmutter und weitere Verwandte eingeführt werden; im Grunde läuft jedoch alles auf eine Schilderung des abendlichen Zubettgehens hinaus. Marcel[6] beginnt die Erzählung mit den Worten „À Combray, tous les jours dès la fin de l’après-midi“ (I, 9), beschreibt dann allerdings ein singuläres Ereignis, nämlich den Abend, der damit anfängt, dass er aufgrund eines Besuchs von Swann zunächst ohne den ansonsten üblichen Gutenachtkuss seiner Mutter auf sein Zimmer gehen muss, diese aber letztlich die ganze Nacht an seinem Bett verbringt. Der erste Satz der Episode, der vorerst nichts weiter als eine nicht allzu ungewöhnliche Einleitung darzustellen scheint, erhält spätestens dann eine besondere Relevanz, als der Erzähler nach Abschluss der Schilderung erklärt, wann immer er an Combray denke, fiele ihm dieselbe Situation ein: Es sei, „comme si Combray n’avait consisté qu’en deux étages reliés par un mince escalier, et comme s’il n’y avait jamais été que sept heures du soir“ (I, 43). Er wisse zwar, dass Combray durchaus auch zu anderen Zeitpunkten existiert habe und wäre überdies in der Lage, sich weitere Begebenheiten in Erinnerung zu rufen, doch würde er dazu niemals Lust haben, da die Auskünfte, die durch eine bewusste Erinnerung eingeholt würden, ohnehin nichts mit der eigentlichen Vergangenheit gemein hätten:

« À vrai dire, j’aurais pu répondre à qui m’eût interrogé que Combray comprenait encore autre chose et existait à d’autres heures. Mais comme ce que je m’en serais rappelé m’eût fourni seulement par la mémoire volontaire, la mémoire de l’intelligence, et comme les renseignements qu’elle donne sur le passé ne conservent rien de lui, je n’aurais jamais eu envie de songer à ce reste de Combray. Tout cela était en réalité mort pour moi. » (I, 43)

Der Erzähler möchte demnach die Vergangenheit gewissermaßen auferstehen lassen, und dies ist mittels einer mémoire de l’intelligence offenbar nicht möglich:

« Il en est ainsi de notre passé. C’est peine perdue que nous cherchions à l’évoquer, tous les efforts de notre intelligence sont inutiles. » (I, 44)

Was genau er unter einer Auferweckung der Vergangenheit versteht, welche durch eine bewusste Erinnerung nicht erfüllbaren Anforderungen den Erzähler vorerst davon abhalten, dem „drame de mon déshabillage“ (I, 43) weitere Darstellungen von Combray anzuschließen, bleibt jedoch zunächst ungewiss, zumal er dieses Drama selbst, seine erste und bisher einzige Schilderung von Combray, nicht explizit als mémoire volontaire charakterisiert. Die nicht erfolgende bewusste Erinnerung an weitere Begebenheiten in Combray wird vielmehr der Beschreibung des Zubettgehens gegenübergestellt.

Allerdings wirkt „ce que je m’en serais rappelé“ wie eine Einschränkung, die darauf hindeuten könnte, dass der Makel der intellektuellen Erinnerung, den der Erzähler als „les renseignements qu’elle donne sur le passé ne conservent rien de lui“ (I, 43) bezeichnet, zumindest teilweise, wahrscheinlich aber sogar ausschließlich darin besteht, dass sie immer nur zusammenhanglose Episoden, nicht aber die Vergangenheit in ihrer Totalität, wie sie den Erzähler geprägt hat, rekonstruieren kann. Darin aber gleicht sie der zu Beginn von Du côté de chez Swann wiedergegebenen Erinnerung an Combray, die Marcel als eine Art „pan lumineux, découpé au milieu d’indistinctes ténèbres“ (I, 43) beschreibt. Auch die Erinnerung an das Zubettgehen ist demnach eine mémoire volontaire, sie unterscheidet sich letztlich wohl nur dem Rang nach von den Erinnerungen, die der Erzähler ablehnt hervorzurufen. Sie ist die erste, am leichtesten zugängliche Erinnerung an Combray, höchstwahrscheinlich weil sie geradezu traumatisch besetzt ist, da Marcel schon seit dem geschilderten Abend überzeugt ist „que cette soirée commençait une ère, resterait comme une triste date“ (I, 38).

[...]


[1] Angaben in Klammern ([Band], [Seite]) beziehen sich auf: Jean-Yves Tadié (Hg.), Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, Paris 1987-1989 (4 Bde.).

[2] Rainer Warning, „Verdrängen, Vergessen und Erinnern in Prousts A la recherche du temps perdu “ in Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hgg.), Memoria: Vergessen und Erinnern, München 1993;
S. 164.

[3] Ibid., S. 193.

[4] Das schon von Laurence Sterne erkannte und in Tristram Shandy dokumentierte Problem der ewig fortschreitenden Gegenwart akzeptiert und überwindet Proust, indem er am Ende zwar eingesteht, dass die erste, durch die Madeleine hervorgerufene unwillkürliche Erinnerung ein längst vergangenes Ereignis darstellt, zugleich aber durch die Aussicht auf Umformung der mémoire involontaire in ein Kunstwerk dem Roman eine zyklische Form verleiht.

[5] Warning, S. 162.

[6] Es handelt sich hierbei um den Erzähler. Sollte eine Unterscheidung zwischen erinnertem und erinnerndem Erzähler notwendig erscheinen, so wird dies ausdrücklich erwähnt.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Formen der Erinnerung und ihre Vereinbarkeit in Prousts "A la recherche du temps perdu"
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Fachbereich 3 -- Literatur- und Sprachwissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
27
Katalognummer
V14398
ISBN (eBook)
9783638198134
ISBN (Buch)
9783638691376
Dateigröße
577 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Formen, Erinnerung, Vereinbarkeit, Prousts
Arbeit zitieren
Thomas Bednarz (Autor:in), 2002, Formen der Erinnerung und ihre Vereinbarkeit in Prousts "A la recherche du temps perdu", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14398

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