Grundzüge der Scharia und ihr Gebrauch im 21. Jahrhundert


Hausarbeit, 2009

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einführung

Grundlagen des islamischen Rechts

Die großen Rechtstraditionen

Ethik und Pflichtenlehre der Scharia

Rechtsgebiete der Scharia

Die innerislamische Diskussion zur Scharia

Die islamische Reaktion

Tendenzen zur Radikalisierung

Fazit

Literaturverzeichnis

Einführung

Als im Jahre 1982 im Zuge einer Verfassungsreform die Scharia von einer zu der Quelle der ägyptischen Gesetzgebung wurde, kommentierte der damalige Präsident der Volksversammlung Sufi Abu Talib das wie folgt: „Die Anwendung der islamischen Scharia und die Unterwerfung unter ihre Rechtsprinzipien bedeutet, dass das ägyptische Volk und besser noch die gesamte arabisch-islamische Nation zu ihrer arabischen, islamischen Identität zurückgeführt wird, nach all der Entfremdung, die wir über ein Jahrhundert lang im Schatten fremder Gesetze gleich haben. Das bedeutete das Ende des Widerspruchs zwischen den moralischen Werten unseres Landes und der Mauer der Zivilisation, die unser Volk umschließt … zwischen dem, was die Menschen in Ägypten glauben und den Gesetzen, die sie regieren.“[1]

Kaum jemand hätte in diesem Zusammenhang bereits von Islamismus oder unmittelbaren Tendenzen zur Radikalisierung gesprochen. Doch zeigen die Worte Abu Talibs die vitale Rolle, die die Scharia und ihre Anwendung zur Verteidigung muslimischer Identität und zur kulturellen Selbstbestimmung spielt, und weisen im Rückblick deutliche Merkmale islamistischen Denkens auf: der unerschütterliche Glaube an die Allmacht der Scharia und ihre Fähigkeit, Probleme jeder Art, jeder Zeit und an jedem Ort zu lösen, und die Gleichsetzung von Arabertum und Islam unter Ignorierung religiöser Minderheiten. Noch in der so genannten „Sadat-Verfassung“ von 1971 wurde die Scharia verhalten als eine Quelle der Gesetzgebung erwähnt, um der wachsenden Sorge der nicht-muslimischen Minderheiten um ihren Status Rechnung zu tragen.

In der Phase der jungen arabischen Nationalstaaten hatten die ägyptischen Verfassungen von 1923 und 1930 lediglich besagt, dass der Islam Staatsreligion sei, was kaum mehr war als ein formales Zugeständnis an den Glauben der Mehrheit, de facto aber einer weitgehenden Trennung von Recht und Religion den Weg ebnete. Die tiefgreifende Erschütterung der islamischen Welt durch die Konfrontation mit dem allseits überlegenen Westen im 19. Und 20. Jahrhundert hatte zur Verunsicherung der Muslime und schließlich zu einer Neuorientierung im Verständnis von Staat und Gesellschaft sowie von Religion und Politik geführt. Nachdem 1924 durch die Abschaffung des Kalifates der politischen Einheit der Muslime auch symbolisch ein Ende bereitet wurde, war eine weitgehende Zurückdrängung der Religion ins Private die Folge. Unter dem Eindruck des Kolonialismus hatten sich Nationalstaaten mit Verfassungen nach europäischem Muster durchgesetzt, in der die Nationalität als prägendes Element die Religionszugehörigkeit ablöste, ein zutiefst unislamischer Gedanke für die Mehrheit der Muslime, deren Zugehörigkeit zum Islam wesentliches Identifikationsmoment ist.

Über Jahrzehnte überließ man so in den meisten muslimischen Kernländern den Religionsgelehrten und Scharia-Gerichten neben dem Ritus die Belange des Familien- und Personenstandsrechts, um in anderen Bereichen des Zivil- und Strafrechts sowie der Regelung öffentlicher Belange und politischer Strukturen europäischen Vorbildern nachzueifern. Der Klerus nahm diese Beschränkung seiner Einflusssphäre nicht unwidersprochen hin und konnte im Ruge der Reislamisierung der 1970er und 1980er Jahre allmählich wieder an Boden gewinnen. Unter den Eindruck islamischer Bewegungen wie der Muslimbruderschaft in Ägypten, Syrien und den Nachbarländern, der Nationalen Heilspartei (MSP) des Necmettin Erbakan in der Türkei, der Jammat-i Islami in Pakistan und vergleichbarer Gruppierungen wurden die Anleihen beim nicht-islamischen Westen mehr und mehr in Frage gestellt und die Ausrichtung politischer und öffentlicher Belange nach den eigenen religiösen Werten eingefordert. In den Folgejahren wird in zahlreichen Verfassungen muslimischer Kernländer die Rolle des Islams und der Scharia als Quelle der Gesetzgebung erheblich gestärkt.[2]

Wenn mit dem Islam gemeinhin eine Untrennbarkeit von Religion und Politik assoziert und hierzulande nicht selten problematisiert wird, so zeigt die Untersuchung der Scharia analog die islamrechtliche Regelung des Ritus auf der einen und des zivilen Lebens auf der anderen Seite, vom Beten und Fasten über das Eherecht und das Wirtschaftsrecht bis zum Strafrecht. Nach muslimischer Auffassung handelt es sich um die von Gott gesetzte Ordnung des menschlichen Lebens in all seinen Bereichen und um einen wesentlichen Bestandteil der Heilsgeschichte. Wie selbstverständlich ergibt sich hieraus die Verpflichtung des Muslims, die Scharia in ihrer Gänze als Maßstab menschlichen Handelns zu bejahen. Glaubenslehre (aqida) und Rechtslehre (Scharia) sind nach den Worten des ehemaligen Rektors der theologischen Hochschule al-Azhar in Kairo Mahmud Shaltut aufeinander bezogen und gemeinsam zu erfüllen.[3] Davon zu unterscheiden ist die Rechtswissenschaft (fiqh) als Geschichte gelebten Rechts und gelehrter Interpretation und Anwendung der Scharia, die naturgemäß auch mit menschlichen Irrtümern behaftet sein kann. In den theologischen Hochschulen der islamischen Welt bezeichnet fiqh die akademische Disziplin, in der Gelehrte die Scharia beschreiben und interpretieren. Bei aller begrifflichen Überschneidungen, die es gelegentlich gibt, bleibt als wesentlicher Unterschied, dass fiqh im Unterschied zu der von Gott kommenden Scharia der Konnotation „menschlich“ hat und aus eben diesem Grund von Reformgedanken ebenso wie von Islamisten in seiner Autorität in Frage gestellt oder gar rundweg abgelehnt wird.

Dem Wortsinn nach handelt es sich bei der Scharia um eine Quelle oder auch einen Weg, der zur Quelle führt, eine Übersetzung, die heute nur noch sehr symbolisch verstanden werden kann, insofern als nach muslimischer Auffassung natürlich die Befolgung der Scharia zur Quelle des Lebens führt oder, um es mit den Worten des zeitgenössischen syrischen Philosophen Abd al-Karim al-Yafi zu sagen: „So wie Wasser für jede lebendige Kreatur Leben bedeutet, so bedeutet die Scharia in ihrem religiösen und juristischen Sine Leben für die Gesellschaft.[4]

Grundlagen des islamischen Rechts

Die Scharia als allgemeiner ethischer und rechtlicher Rahmen und Richtschnur für die islamische Lebensweise gründet sich auf zwei materielle und zwei immaterielle Rechtsquellen.

An erster Stelle steht der Koran als das reine Wort Gottes, das dem Propheten Mohammed durch den Engel Gabriel in klarer arabischer Sprache offenbart wurde, und zwar zwischen ca. 610 und dem Tod des Propheten 632 n .Chr. Der Koran trifft in 114 Suren mit insgesamt etwa 6000 Versen Aussagen über das Wesen Gottes und sein Wirken in der Heilsgeschichte sowie Pflichten des Menschen Gott gegenüber, regelt aber auch in einer ganzen Anzahl von Versen Fragen des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere das Familien- und Erbrecht, gefolgt vom Strafrecht und Vermögensrecht. Wenngleich diese juristisch relevanten Verse kaum ein Zehntel des Gesamttextes ausmachen zeigen sie unmissverständlich, dass der Koran nicht einseitig die spirituelle Ausrichtung auf das Jenseits fördert, sondern vielmehr das menschliche Lebens als Ganzes erfassen und nach Gottes Willen regeln will. Dasselbe gilt für die Person des Propheten, der zunächst ab 610 in seiner Heimatstadt Mekka vor allem als religiöser Mahner in Erscheinung getreten war, der seine Landsleute vor dem Gericht Gottes warnte und aufrief, von der Verehrung mehrerer lokaler Gottheiten abzulassen, um sich dem Willen des einen Gottes zu unterwerfen. Als Mohammed aber 622 unter dem Druck politischer Umstände mit seinen Gefolgsleuten nach Medina ausgewandert war, fungierte er fortan als religiöser, politischer und militärischer Vorsteher des expandierenden muslimischen Gemeinwesens und traf so Vorkehrungen und Entscheidungen für die verschiedensten o.g. Lebensbereiche.[5]

Als die junge muslimische Gemeinde nach dem Tod des Propheten 632 mit Situationen konfrontiert wurde, für die es im Koran keine eindeutige Vorgabe gab, wurde somit das Vorbild des Propheten als Sunna zu einer zweiten, ergiebigen Quelle der Rechtsfindung nach dem Koran. Die Sunna besteht aus einer Vielzahl von Berichten (Hadithe) darüber, was der Prophet gesagt, getan und stillschweigend geduldet haben soll. Dabei wurde die Authentizität dieser Berichte und insbesondere die Integrität ihrer Überlieferer einer strengen Prüfung unterzogen, bevor sie im 9. Jahrhundert Eingang in eine der sechs von den Sunniten als kanonisch anerkannten Sammlungen fanden und so Quelle der Rechtsfindung werden konnten.[6] Wie der Koran so liefert auch die Sunna Hinweise auf alle Lebensbereiche und erweist sich so als Spiegel des Prophetenlebens in all seinen Facetten.

Im Zentrum der innerislamischen Diskussion stand alsdann die Frage, wie viel Raum man den ra´y beimessen könne, der persönlichen Schlussfolgerung, zu der der Gelehrte durch die Benutzung seiner von Gott gegebenen Intelligenz bei der Auslegung der religiösen Quellen kommen könnte. Allgemeine Anerkennung als dritte Quelle bzw. Methode der Rechtsfindung fand in diesem Zusammenhang schließlich der Analogieschluss (qiyas), mit dessen Hilfe eine eindeutige islamrechtliche Regelung auf einen vergleichbaren Sachverhalt übertragen wurde. So kann man bspw. das koranische Alkoholverbot auf die berauschende Wirkung des Alkohols zurückführen und damit dieses Verbot per Analogieschluss auf andere berauschende Substanzen und Drogen übertragen.

An vierter Stelle, wenngleich von zentraler Bedeutung, ist schließlich der Konsens der Gelehrten (ijma) zu erwähnen nach einem Ausspruch des Propheten, dass seine Gemeinde in einem Irrtum nicht einig sein werde. Dieser Konsens wurde angenommen, wenn gegen irgendeine Praxis auch aus dem lokalen Gewohnheitsrecht der eroberten Gebiete binnen einer bestimmten Frist kein Rechtsgelehrter Einspruch erhoben hatte. Dabei galt ein einmal errungener ijma für die betreffende Rechtsangelegenheit als bindend und konnte durch keine neuerliche Interpretation (ijtihad) von Koran und Sunna relativiert werden. Diese eigene Interpretation der religiösen Quellen wurde den frühen Rechtsgelehrten, insbesondere den Gründern der Schulen noch zugestanden und dann mehr und mehr eingeschränkt bis im frühen 10. Jahrhundert das so genannte bab al-ijtihad (Tor der Rechtsfindung) nach breitem sunnitischem Konsens geschlossen wurde zugunsten des Prinzips der Nachahmung (taqlid), womit der Anschluss an eine anerkannte Lehrautorität gemeint ist. Damit war eine Neuinterpretation der Quellen und Anpassung bestehender islamrechtlicher Regelung an veränderte Sachverhalte und Lebensbedingungen de jure kaum mehr möglich, de facto hat es sie natürlich immer wieder gegeben. Im aktuellen Konflikt zwischen Islam und Moderne, Scharia und westlichem Recht spielt das Verhältnis von ijtihad und taqlid eine zentrale Rolle und ist Gegenstand zahlreicher Publikationen auf muslimischer Seite.[7]

Die großen Rechtstraditionen

Mit dem Versuch der Auslegung der Quellen und Kanonisierung von Rechtshandbüchern entstanden verschiedene Rechtstraditionen, von denen bis heute innerhalb des sunnitischen Islams vier große Schulen überlebten. Abu Hanifa (st. 767) gründete im Irak die erste noch bestehende Rechtsschule (madhhad), die dem menschlichen Verstand und Urteilsvermögen großes Vertrauen schenkte: persönliche Meinung (ra´y), Analogieschluss (qiyas) und das „Gutdünken“ (istihsan) als Hilfsprinzip der Rechtsfindung spielen bei den Hanafiten eine wesentliche Rolle. Dem gegenüber betonte Malik ibn Anas (st. 795) das Gewohnheitsrecht von Medina, das in weiten Teilen durch den Konsens der Gelehrten (ijma) gerechtfertigt wurde und so Aufnahme in das islamischen Rechtsdenken, insbesondere der Malikiten fand. Hanafiten und Malikiten zeigten sich im Rahmen der islamischen Expansion vergleichsweise flexibel in der Akzeptanz lokalen Gewohnheitsrechts, das sie in den eroberten Gebieten vorfanden, solange es sich nicht im offenen Widerspruch zu Koran und Sunna befand. Die Hanafiten dominieren heute in der Türkei, in Ägypten, Syrien und dem Irak, die Malikiten in Nordafrika.

As-Safi´i (st. 820) schließlich gilt als eigentlicher Begründer der Rechtswissenschaft und vollendetet das System der vier Wurzeln der Jurisprudenz (usul al-fiqh). Der Begründer der Schafiiten schränkte den Gebrauch rationaler Methoden, insbesondere den der persönlichen Meinung des Gelehrten (ra´y) stark ein und forderte die strikte Orientierung an den vier Quellen der Rechtsfindung. Dabei betonte er die Bedeutung der prophetischen Sunna und beschränkte die Rolles des Analogieschlusses gegenüber Malik. Die Schafiiten spielen in verschiedenen arabischen Ländern eine Minderheitenrolle und konnten sich am Horn von Afrika sowie in Südostasien durchsetzen.

Die Hanbaliten schließlich gehen zurück auf den seinerzeit sehr angesehenen Gelehrten Ahmad ibn Hanbal (st. 855), der gleichwohl keine große Anhängerschaft finden konnte. Die kleinste der sunnitischen Rechtsschulen zeichnet sich durch eine besonders strenge und wortgetreue Auslegung der religiösen Quellen und weitgehende Zurückdrängung menschlicher Interpretation aus. Selbst die Anwendung des Analogieschlusses (qiyas) wird von den Hanbaliten weitgehend ausgeschlossen, da dieser ein zu hohes Maß an menschlicher Einflussnahme und Willkür in sich berge. Die Hanbaliya ist heute die zahlenmäßig kleinste Rechtsschule; sie dominiert in Saudi-Arabien und prägt unter anderem das Denken der Wahhabiya, einer Reformbewegung aus dem 18. Jahrhundert, die den Islam von historischem Ballast im Sinne uniislamischer Neuerungen (bid´a) befreien und zu einer reinen Urform zurückführen wollte.[8]

[...]


[1] vgl. Botiveau, Bernard: Loi islamique et droit dans les sociétés arabes. Mutations des systémes juridiques du Moyen-Orient. Paris 1993. S. 284 f

[2] vgl. hierzu auch: Die Stellung des Islams und des islamischen Rechts in ausgewählten Staaten. S. 213-555 in: Der Islam in der Gegenwart. Hrsg. Von Werner Ende und Udo Steinbach. 4. Auflage. München 1996.

[3] vgl. hierzu Nagel, Tilman: Das islamische Recht. Eine Einführung. Dransfeld 2001. S. 5

[4] vgl. Botiveau S. 58

[5] vgl. hierzu: Forward, Martin: Mohammed – der Prophet des Islam. Sein Leben und seine Wirkung. Freiburg (Herder) 1998.

[6] Das schiitische Gegenstück bilden die sogenannten vier Grundlagenwerke (al. usul al-arba´a) aus dem 10. Und 11. Jahrhundert.

[7] vgl. z.B. Shams ad-Din, Mohammed Mahdi: Al-ijtihad wa´t-taqlid fi´l-fiqh al-islami. Beirut 1999. oder Islamic Law and Ijtihad. The American Journal of Islamic Social Sciences. Vol. 14/3. Washington, Kuala Lumpur 1997.

[8] In der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts entstand noch die Schule der Zahiriten, die ausschließlich den Wortsinn der Quellen gelten lassen wollte und so nicht lebensfähig war. In den Texten moderner Islamisten kann man aber gelegentlich auf diesen Begriff stoßen.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Grundzüge der Scharia und ihr Gebrauch im 21. Jahrhundert
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
25
Katalognummer
V143947
ISBN (eBook)
9783640532889
ISBN (Buch)
9783640532544
Dateigröße
485 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grundzüge, Scharia, Gebrauch, Jahrhundert
Arbeit zitieren
ShahMaDo JenLa (Autor:in), 2009, Grundzüge der Scharia und ihr Gebrauch im 21. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143947

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