"Das Ghetto und seine Fiktionen"

Das paratextuelle Spiel zwischen dokumentarischer Authentizität und literarischer Fiktionalisierung in Feridun Zaimoglus "Kanak Sprak"


Seminararbeit, 2007

13 Seiten, Note: 1

Fabian Saner (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.1. Prolog: Feridun Zaimoglu, „Ghetto“-Zauberer der Postmoderne?
1.2 Einleitung: „Hier hat allein der Kanake das Wort“ – die Misstöne der Kanak Sprak als hybrides Sprach-Spiel mit Rezeptionserwartungen

2.1. „Man gibt eine ganz und gar private Vorstellung in Worten.“ Typographische und terminologische Untersuchungen im Gegenlicht des Authentizitätsparadigmas
2.2. Die verweigerte Ontogenese der Generation X. Zur textuellen (Nach-) Konstruktion des ‚Kanaken’
2.3. „Gelungene Literatur ist immer hybrid und rhizomatisch.“ Zum produktionsästhetischen Mischverhältnis der Autor- und Fremdstimmen in Kanak Sprak

3. Bilanz: „Dem Free-Style-Sermin im Rap verwandt“ – Kanak Sprak als performativ inszenierte orale Literatur oder real-soziale Portraitmalerei „von der Peripherie her“?

4. Bibliographie

1.1. Prolog: Feridun Zaimoglu, „Ghetto“-Zauberer der Postmoderne?

Dieses Schwindelwort von der Identität ist der Dreh- und Angelpunkt des westlichen Bewusstseins. Bullshit! Es gibt keine Identität. Wurzeln, Verortung, alles Dreck. Identitätskrise, lächerlich. Was es gibt, sind wir.[1]

Programmatische Essenzialisierungen, eine gedächtnisstromartig zerfetzte und ausgeweidete Syntax, hypertrophe sprachliche Aggressivität und Etikettierungslust, eine bewusst und sublim zwischen soziolektaler Strassen-Fäkalrhetorik und Anleihen aus dem Kanon abendländischer Philosophie-Theoreme hin und her mäandernder exzessive Dialektik: Die oben quasi als Programmwort zitierte Äusserung Zaimoglus vermittelt in ihrer sowohl materialen wie inhaltlichen Verdichtung eine Art Repräsentation jener poetologischen Strategie, die der Schriftsteller in seinem Buch Kanak Sprak[2] zu entfalten versucht – und die augrund der ihr eigenen gelingenden autosuggestiven Rhetorizität massgeblich jenen innovativen sprachlichen Alteritäts- und Differenzfaktor aufscheinen lässt, mittels dessen die im Untertitel als 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft deklarierten zuweilen als Monologe, Protokolle oder Chroniken[3] deklarierten, jeweils nur wenige Seiten umfassenden ‚Äusserungen’ zu einem literarischen Bestseller sondergleichen gerinnen konnten und Zaimoglu in den geadelten inneren Zirkel des deutschen Literaturkanons zu spülen vermochten.[4]

1.2 Einleitung: „Hier hat allein der Kanake das Wort“ – die Misstöne der Kanak Sprak als hybrides Sprach-Spiel mit Rezeptionserwartungen

Diese Sprache entscheidet über die Existenz: Man gibt eine ganz und gar private Vorstellung in Worten. (KS, S. 13; Hervorh. F.S.)

In dieser mikrodiskursanalytisch orientierten Arbeit sollen aber weniger die ausgeklügelte sprachliche Apodiktik von Zaimoglus Frühwerk und sein durch Kanak Sprak unmittelbar und durchbruchartig bewirkter schriftstellerischer Erfolg anhand einer Produktionsstrategie bewusst inszenierter, theatral zu interpretierender ‚performances’ untersucht werden,[5] die den Schriftsteller aus der Peripherie des türkischstämmigen, zum Stummsein Gezwungenen in die beachteten öffentlichkeitswirksamen Räume der arrivierten Literaten der deutschsprachigen Kultur zu katapultieren vermochten; vielmehr möchte ich den Fokus – dennoch produktionsästhetisch sensibilisiert – auf Zaimoglus vorwortartige und programmatische Vorrede (KS, S. 9-18) legen und dort insbesondere die sowohl textformal-gattungsmässig als auch inhaltlichen paratextuellen Strategien auf ihr performatives und hybrides Spiel[6] hin fokussieren, sowie auf die Frage hin, inwiefern sie das aufgeworfene Authentizitäts- und Autorschaftsproblem gleichsam bewusst-unbewusst problematisieren, um damit eingespielte Rezeptionskanäle zu verwirren. Mich interessiert in einer präzisen Lektüre, inwieweit sich in dieser ‚Vorrede’ (die ich ihres ungesichert-prekären Status’ wegen vorderhand bewusst in Anführungszeichen setze) zu den ‚Misstönen’ gleichsam nachweisen lässt, dass ihm, Zaimoglu, sein Legitimationsmodell – die insistierend als geschlossene, sichtbare, mithin ‚authentische Sprachbilder (KS, S. 18) ausgezeichneten und damit als authentisch deklarierten „Nachdichtungen“ – immer wieder unkontrollierbar unter der Hand weg bricht. D.h.: Die nicht signalisierte Paratextualität[7] soll darauf hin untersucht werden, wie sie gleichsam die ablesbare Argumentationsstrategie des Autors unterläuft.

Um diese Untersuchung in einem gesicherten Kontext durchführen zu können, bedarf es methodologischer und theoretischer Wegsicherungen: Zaimoglus Einleitung Kanak Sprak (KS, S. 9-18) kann aufgrund ihrer deutlich wahrnehmbaren – wenn auch nicht unbedingt eindeutig ausgewiesenen – paratextuellen Signale nicht in einem Atemzug mit dem Konglomerat der übrigen 23 „Misstöne“ analysiert werden, sondern fordert eine besondere und deshalb gesonderte Aufmerksamkeit.[8] Weil diese ‚Vorrede’, die nicht als solche deklariert wird, ein, wie zu zeigen sein wird, äusserst normatives Wahrnehmungsnetz konstituiert, unter dessen Axiomen und Postulaten der ganze Text gelesen wird bzw. explizit (durch den Autor so statuiert) gelesen werden soll, entscheidet sich auch in der Betrachtung dieser ersten Passage – wenn es sich denn entscheiden lässt – das Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität, von dokumentarischer Authentizität und literarisierter (Nach-)Dichtung. Es ist der Anspruch dieser Arbeit, hier zumindest Grundlagen für eine Lichtung bereitzustellen.

2.1. „Man gibt eine ganz und gar private Vorstellung in Worten.“ Typographische und terminologische Untersuchungen im Gegenlicht des Authentizitätsparadigmas

Im Folgenden will ich anhand typographischer und terminologischer Untersuchungen nachzuvollziehen versuchen, inwiefern sich das produktionsästhetische Mischverhältnis aus programmatisch statuierter Authentizität und konzessierter Nachdichtung quantifizieren lässt. Die Ausgangshypothese lautet, dass gerade der geschickte Ausweichprozess, wodurch Zaimoglu definitive literarische oder dokumentarische Zuschreibungen und Kategorisierungen dieser „Protokolle“ (KS, S. 15; daselbst in Anführungszeichen gesetzt) oder „Chroniken“[9] ins Leere laufen lässt, mit dem Gestus des kulturellen Hybrids kombiniert und fusioniert werden soll, als den der ‚Kanake’,[10] der keine kulturelle Verankerung sucht, aber doch klare Vorstellungen von Selbstbestimmung hat (KS, S. 12), charakterisiert und vorgestellt wird. Dass Zaimoglus Kanak Sprak sensibler Aufmerksamkeit hinsichtlich der paratextuellen Signale bedarf, wird bereits in der Absenz, bzw. der polyvalenten Zuschreibungen einer Gattungsbezeichnung, die von aussen an das Buch herangetragen werden, ersichtlich. Der verlegerische Klappentext oszilliert unentschieden zwischen „authentischen Bekenntnissen junger Männer“, die Zaimoglu als Übersetzer in „lesbares, nahezu hörbares Deutsch“ überträgt, und charakterisiert die „Protokolle“ gleichzeitig als „veritables und kräftiges Stück Literatur.“ (KS, unnummeriert [S. 2], Hervorh. F.S.) Nimmt man Zaimoglus einleitende Bemerkungen und Erläuterungen, die der Terminologie von Gérard Genette als auktoriales Originalvorwort[11] zu charakterisieren wären, selbst unter die Lupe, sticht in einer genaueren typographischen Betrachtung ins Auge, dass sie sich visuell (vorerst) nicht von den 23 anderen „Misstönen“ abheben: Im Inhaltsverzeichnis (KS, S. 5) lautet die Bezeichnung bloss „Kanak Sprak“, die Überschrift auf S. 9 ist eine identische Wiederholung von Titel und Untertitel des ganzen Buches.[12] Danach beginnt ein Ich-Erzähler, dessen genaue Situierung und Identifizierung ohne Kontext-Wissen vorerst unklar bleiben muss, zu sprechen und stellt sich die Frage: „Wie lebt es sich als Kanake in Deutschland“ (KS, S. 9, Hervorh. im Text). Die einleitenden Bemerkungen schliessen mit einer typographischen hervorstechenden Besonderheit, die nun wiederum auf den Vorwort-Charakter dieser auktorialen Schriftsteller-Rede schliessen lassen: Orts- und Zeitangabe und das Signum des Autors (KS, S. 18).

[...]


[1] Feridun Zaimoglu, in: Die ZEIT, Nr. 47, 1997, S. 4, zit. in: Kati Röttger: „Kanake sein oder Kanake sagen? Die Entscheidungs-Gewalt von Sprache in der Inszenierung des Anderen und des Selbst“, in: Christopher Balme/Erika Fischer-Lichte/ Stephan Grätzel (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen/Basel 2003 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 28), S. 289-299, hier S. 291.

[2] Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak. 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft, 72007 [1995]. Im Folgenden unter der Sigle KS mit der jeweiligen Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen.

[3] Zaimoglu selbst nennt sie Protokolle (KS, S. 15), die das Resultat seien von Tonbandaufnahmen oder Notizen. Zuweilen habe er das Gesagte auch geprägt, wenn sich eine Niederschrift situationsbedingt verbot (ebd.). Die Bänder mit den Aufnahmen seien später im Beisein der Interviewten gelöscht worden. (KS, S. 18). Zum Komplex der Authentizität, vgl. Kapitel xxx. Manuela Günter spricht in ihrem Aufsatz ebenfalls von Protokollen als förmlich berichtenden Niederschriften (Manuela Günter: „’Wir sind bastarde, freund…’. Feridun Zaimoglus Kanak Sprak und die performative Struktur von Identität“, in: Sprache und Literatur 83, 1999, S. 15-28, hier S. 17.) Volker C. Dörr nennt sie „Chroniken“ (Volker C. Dörr: „‚N gefälliger Kanksta.’ Feridun Zaimoglus ‚Liebesmale, scharlachrot’ – Migrantenliteratur im ‚transkulturellen’ Kontext?“, in: Zeitschrift für Germanistik 15, 2005, S. 610-628, hier S. 612.)

[4] Vgl. Tom Cheesman: „Akcam – Zaimoglu – ‚Kanak Attak’: Turkish Lives and letters in German”, in: German Life and letters 55, 2002, S. 180-195, hier S. 181. “His first book, Kanak Sprak […], was an unespected success: it turned out to be timed perfectly to meet a demand among intellectuals for evidence of innovative, creative contributions to German culture from the ‘margins’ and especially from migrants.”

[5] Diese Untersuchungen sind zum Teil bereits geleistet: Vgl. Leslie A. Adelson: The turkish turn in contemporary german literature. Toward a new critical grammar of migration, New York/Houndmills 2005, bes. S. 95-104; auf die ambivalenten Inszenierungs- und Spektakel-Erwartungen, die ein postmodern konfigurierter Kunst- und Literaturbetrieb fordern, referieren auch Cheesman, Kanak Attak, und Ders.: „Talking ‚Kanak’: Zaimoglu contra Leitkultur“, in: New German Critique 91, 2004, S. 82-99 (In diesem Beitrag arbeitet Cheesman u.a. eine denkwürdige Fernsehdebatte auf, in der Zaimoglu, der Schriftsteller Wolf Biermann und die Politikerin Heide Simonis ein Streitgespräch führen.).

[6] Ich orientiere mich an den Begriffsbestmmungen im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart 32004, S. 516-518 (Performativität) und S. 269f. (Hybridität). Die beigezogenen Aufsätze von Manuela Günter, Volker C. Dörrr und Kati Röttger versuchen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, die performative Dimension von Identität, wie sie Judith Butler in ihrer auf John Austins Sprechakttheorie basierenden sprachpolitischen Untersuchung „Hass spricht“ (urspr. New York 1997) nachgewiesen hat, in den Monologen der ‚Kanaken’ Feridun Zaimoglus auszuloten.

[7] Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main/New York 1989.

[8] Dies hat Volker C. Dörr in seiner allerdings eher en passant gemachten Bemerkung festgestellt, wenn er Zaimoglus ‚Vorrede’ als „programmatische[n] Vorbemerkungen“ bezeichnet; Dörr, Kanaksta, S. 612.

[9] So Röttgers Bezeichnung; Röttger, Kanake sein, S. 289.

[10] Ich werde den Begriff des ‚Kanaken’ in dieser Arbeit konsequent in einfachen Anführungszeichen anführen.

[11] Genette, Paratexte, S. 191.

[12] Zaimoglus Erläuterungen wären unter dieser Optik als Titelkommentar zu lesen, der Dechiffrieriungshilfen bietet, um die Anspielungen und Rätsel der Überschrift „Kanak Sprak“ zu kontextualisieren; Genette, Paratexte, S. 207. Mit ebenso stichhaltigen Argumenten könnte „Kanak Sprak“ als erster der „24 Misstöne“ aber auch als Vorwort mit Manifest-Charakter gelesen werden, oder, drittens, als autoritativ-hermeneutischer Vereinheitlichungsversuch, die refraktären Misstöne der ‚Kanakstas’ in einen über-individuellen Sinnhorizont einzuspannen; Genette, Paratexte, S. 221 und S. 196.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
"Das Ghetto und seine Fiktionen"
Untertitel
Das paratextuelle Spiel zwischen dokumentarischer Authentizität und literarischer Fiktionalisierung in Feridun Zaimoglus "Kanak Sprak"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Proseminar "Gastarbeiterliteratur? Migrantenliteratur? Interkulturelle Literatur?“
Note
1
Autor
Jahr
2007
Seiten
13
Katalognummer
V143707
ISBN (eBook)
9783640516384
ISBN (Buch)
9783640516582
Dateigröße
494 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ghetto, Fiktionen, Spiel, Authentizität, Fiktionalisierung, Feridun, Zaimoglus, Kanak, Sprak
Arbeit zitieren
Fabian Saner (Autor:in), 2007, "Das Ghetto und seine Fiktionen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143707

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