Die verpasste Erkenntnis


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

26 Seiten, Note: 15 Punkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Analyse der Unterrichtssequenzen

3. Fazit

1. Einleitung

Für diese Analyse von Unterricht wurden mehrere Sequenzen aus einem Unterrichtstranskript untersucht.[1] Bei der zu analysierenden Stunde handelt es sich um Deutschunterricht in einer 8. Klasse an einem Gymnasium mit dem Unterthema Fremdwörter.

Die Stunde bis zu den zu analysierenden Sequenzen im Überblick:

Der Lehrer eröffnet den Deutschunterricht mit dem Hinweis an die Klasse auf die Besonderheit dieser Stunde, die darin liegt, dass der Unterricht aufgenommen wird. Anschließend erinnert er an die anstehende Klassenarbeit und gibt Hinweise über deren Gestaltung. Diesbezüglich will der Lehrer eine bereits bearbeitete Aufgabe wiederholen, um auf die Klassenarbeit vorzubereiten. In einem Arbeitsheft musste ein Text in Sinnabschnitte gegliedert und diese mit Überschriften versehen werden. Daraufhin leitet der Lehrer mit der Frage, ob man alle Fremdwörter abschaffen soll, eine kleine Diskussion ein. Es herrschen kontroverse Meinungen zu der Frage des Lehrers. Dieser leitet die Diskussion in einen Arbeitsauftrag über, Fremdwörter aus einem Text herauszustreichen.

Da aber nicht thematisiert wird, was ein Fremdwort ist und woran man ein solches erkennt, scheint diese Aufgabenstellung nicht dazu geeignet zu sein, den Schülern eine generelle Erkenntnis über Sprache und deren Entwicklung zu ermöglichen. Ferner grenzt dieser nicht ein, welche Art von Fremdwörtern er explizit meint. Ob also jene herausgestrichen werden sollen, die

- einer Expertensprache entstammen, aber für solche keine sind (bspw. medizinische Ausdrücke) erscheinen
- aus einer anderen Kultur übernommen wurden und deshalb fremd erscheinen
- zur Angeberei dienen. Also nur deshalb verwendet werden, um die Wissenslücken des Verfassers damit zu überdecken, Wörter zu verwenden, die sich intelligent anhören
- einem Jargon angehören und somit zwar anmuten Fremdwörter zu sein, obwohl sie nur von denjenigen verwendet werden, die diesen Jargon sprechen
- oder aber ob es das Ziel des Lehrers ist, die Fremdwörter in einen normativen Kontext zu bringen und damit eine Spracherziehung stattfinden soll, die zum Ziel hat, den Schülern zu verdeutlichen, dass nur dann Fremdwörter verwendet werden sollen, wenn sie hierfür keine deutschen Synonyme zur Verfügung haben.

Weiter fragt der Lehrer Ergebnisse von Arbeitsaufträgen nicht ab und ändert die Aufgabenstellung mehrfach während der Erarbeitungsphase. Auch geht er auf Schülerantworten, die von seinem Unterrichtsziel abweichen, nicht adäquat ein.

Deshalb soll in dieser Sequenzanalyse untersucht werden, welche Möglichkeiten der Lehrer den Schülern gibt, eine Erkenntnis zu erlangen und ob sein Verhalten diese in unerreichbare Ferne rückt. Dies geschieht an Sequenzen aus dem Transkript, in denen der Lehrer Arbeitsaufträge erteilt oder Fragen an die Schüler stellt, die im direkten Zusammenhang mit der Fragestellung dieser Arbeit in Zusammenhang stehen.

2. Analyse der Unterrichtssequenzen

207 Lm: Einhunderteinundneunzig!!! (4 sec). Und jetzt streicht 208 mal alle Fremdwörter raus, was der Text, der Text dann 209 noch aussagen könnte!

Der Lehrer verweist auf einen Text aus dem Lesebuch mit dem Titel „Technofieber auf Ibiza“.

„Einhunderteinundneunzig!!!“ Ist die Wiederholung der Seitenangabe des Textes. Es herrschte ein hoher Geräuschpegel und ein Schüler erfragte die bereits vom Lehrer genannte Seitenzahl. Der Lehrer antwortet elliptisch und stark betont (!!!), es steckt darin ein Vorwurf an die Klasse, genauer zuzuhören.

„(4 sec)“ Der Lehrer macht eine Pause. Er gibt den Schülern Zeit, um ihr Buch aufzuschlagen und versucht eventuell gleichzeitig eine so genannte pädagogische Pause zu machen, damit die Schüler ruhig werden.

Durch das Wort „und“ wird entweder eine Hinzufügung zu etwas bereits Vorhandenem oder eine Fortführung markiert. Denkbar wäre ein Anschluss an die Pause in beiden aufgezeigten Funktionen/Lesarten:

1. Und jetzt, da ihr alle euer Buch auf der richtigen Seite aufgeschlagen habt, (können wir fortfahren)… (Zeit geben)
2. Und jetzt, da ihr wieder ruhig seid, (können wir fortfahren)… (päd. Pause)

In beiden Fällen handelt es sich um eine Fortführung von etwas bereits Begonnenem. Der Arbeitsauftrag wurde eingeleitet und durch die Unruhe und die Rückfrage nach der Seitenzahl unterbrochen. Nach der Pause kann der Lehrer mit seinem Programm fortfahren.

Unmittelbar an das „und jetzt“ schließt sich die Passage „…streicht mal alle Fremdwörter raus,…“ an. Die beiden Vorschläge der Ausformulierung des elliptischen „und jetzt“ lassen sich problemlos in den Satz einfügen. Es folgt nun der Arbeitsauftrag: es sollen alle Fremdwörter rausgestrichen werden. Der Lehrer bezieht sich auf den Text im Lesebuch und will, dass die Schüler alle Fremdwörter aus dem Text raus streichen. Was kann das bedeuten? Wann streicht man etwas raus? Zunächst würde man diesen Ausdruck im Alltag benutzen, wenn man versehentlich etwas zu viel geschrieben, vermerkt, usw. hätte. Das „Zuviel“ wird dann raus gestrichen, es gehört (doch) nicht dazu. Das Wort „doch“ verweist hier auf zwei unterschiedliche Situationen:

1. doch nicht dazu: man hat sich geirrt, etwas wurde irrtümlicherweise zu etwas zugeordnet, zu dem es doch nicht gehört. Eine Kontrolle (erneutes Lesen) behebt den Fehler durch raus streichen.
2. nicht dazu: es wird direkt auf eine Zugehörigkeit, beziehungsweise genauer eine Nichtzugehörigkeit untersucht und diese als solche kenntlich gemacht, eben durch raus streichen.

Die beiden Fälle unterscheiden sich dadurch, dass im ersten Fall eine Kontrolle stattfindet. Es geht um eine Fehlerbehebung. Im zweiten Fall geht es um eine erste Untersuchung und Kategorisierung. Dennoch geht es in beiden Fällen um die Kenntlichmachung einer Nichtzugehörigkeit zu etwas. Es gibt ein Kriterium, nach dem man bestimmte Dinge raus streichen „darf“/muss.

Ein Beispiel für den ersten Fall wäre eine Einkaufsliste, auf der man Butter notiert, vor dem Einkaufen im Kühlschrank aber doch noch ein volles Päckchen Butter gesehen hat und daraufhin die Butter aus dem Einkaufszettel wieder raus streicht. Die Butter wurde also irrtümlicherweise der Menge der zu besorgenden Dinge zugeordnet und durch eine Kontrolle als dieser doch nicht zugehörig erkannt.

Ein Beispiel für den zweiten Fall wäre eine Aufgabe aus dem Schulbuch, es gibt eine Menge von Wörtern verschiedener Wortarten und man soll alle Adjektive raus streichen.

Wichtig ist, dass das Kriterium eindeutig und so der „Raus-Streicher“ in der Lage ist, auf Basis des Kriteriums zu handeln. Hierbei kann zwischen der Fokussierung auf das Auszusortierende und der Fokussierung auf das Nicht-Auszusortierende unterschieden werden.

Im konkreten Fall geht es um die Raus-Streichung aller Fremdwörter (aus einem bestimmten Text). Das Kriterium ist hier also: Fremdwort, ja oder nein. Es wird sich an dem Raus-zu-streichenden orientiert, also auf das Auszusortierende fokussiert. Es gibt eine Vielzahl an Wörtern und nur eine bestimmte Gruppe, die Fremdwörter, soll jetzt raus gestrichen werden.

Es gilt nun zu fragen, ob das Kriterium eindeutig ist. Kann man Fremdwörter direkt als solche erkennen und folglich raus streichen? Dazu muss man zunächst in Erfahrung bringen, was ein Fremdwort ist. Dazu Wikipedia:

Fremdwörter sind Wörter, die aus anderen Sprachen übernommen wurden. Hinsichtlich Lautstand, Betonung, Flexion, Wortbildung oder Schreibung der Zielsprache ist das Fremdwort (noch) unangepasst und wird daher oft als „fremd“ empfunden. Dies steht im Gegensatz zu der Charakteristik eines integrierteren Lehnworts, besonders wenn ein gebräuchliches Synonym in der Zielsprache fehlt. Beim Fremdwort sind sich Muttersprachler des anderssprachigen Ursprungs meist bewusst.

Die Quantitative Linguistik modelliert den Prozess der Übernahme von Fremd- und Lehnwörtern mit Hilfe des Sprachwandelgesetzes. Es zeigt sich immer wieder, dass Entlehnungsprozesse gesetzmäßig ablaufen. Dasselbe gilt für das Fremdwortspektrum, das eine Übersicht gibt, aus welchen Sprachen wie viele Wörter übernommen wurden.“[2]

Der erste Satz klingt viel versprechend und verspricht Eindeutigkeit im Blick auf den gegebenen Arbeitsauftrag, es gilt also lediglich nach Wörtern zu suchen, die aus anderen Sprachen übernommen wurden, das scheint zunächst eine lösbare Aufgabe zu sein. Doch spätestens der Satz „Beim Fremdwort sind sich Muttersprachler des anderssprachigen Ursprungs meist bewusst.“, lässt die erhoffte Eindeutigkeit und Klarheit jäh den Bach hinunter laufen. Auch der zweite Satz wirkt mit der „Empfindung der Fremdheit“ eher ernüchternd und antizipiert bereits ein stark subjektives Ergebnis bei einer Aufgabe wie der vom Lehrer gestellten. Von einem klaren Kriterium kann keine Rede sein. Dazu muss jedes Wort auf seine Herkunft untersucht und gleichsam die gesamte Geschichte unserer Sprachentwicklung nachvollzogen werden. Woher stammt unser Wortschatz? Gibt es überhaupt „eigene Wörter“ als Gegenteil der Fremdwörter? Ist Sprache überhaupt so statisch und klar kategorisierbar?

Schauen wir uns zunächst einmal den Text genauer an:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bereits die Überschrift birgt Probleme. Man wird die Wörter Techno und Fan vermutlich bei einem ersten Blick als Wörter, die aus einer anderen Sprache übernommen wurden, und somit als Fremdwörter identifizieren und raus streichen. Und tatsächlich legitimiert ein Blick in den Duden, „das Fremdwörterbuch“, die Identifikation von Techno und Fan als Fremdwörter und gibt sogar ihre Herkunft als „<gr.-engl->“ und „<engl.-amerik.>“ preis. Das Verb „fiebern“ wird man zunächst nicht als fremd „empfinden“ und auch die Suche im Fremdwörterbuch bleibt erfolglos. Dennoch gibt es einige Probleme mit diesem Wort. Schauen wir im Duden, „die deutsche Rechtschreibung“, nach dem zugehörigen Substantiv „Fieber“, so finden wir dort den Zusatz „<lat.>“. Es handelt sich also ebenfalls um ein Fremdwort, sofern wir die Definition „Fremdwörter sind Wörter, die aus anderen Sprachen übernommen wurden“ gelten lassen wollen, denn „lat.“ bedeutet, dass das Wort „Fieber“ aus dem Lateinischen stammt. Es handelt sich um eine Krankheitsbezeichnung, die sich aus der Gelehrtensprache der Ärzte, dem Latein, im Laufe der Zeit in die deutsche Sprache „eingenistet“ hat und nun von uns nicht mehr als fremd „empfunden“ wird. Das Verb fiebern entstand in der Umgangssprache in Anlehnung an die mit dem Wort Fieber bezeichnete Krankheit, genauer geht es um die Symptome, den erhitzten Körper. So kann man einem Ereignis entgegenfiebern und meint damit, dass man es „heiß ersehnt“, die Anspielung auf die erhöhte Temperatur in beiden Fällen ist ihr verbindendes Element. Ähnliches ist gemeint, wenn man in einem Wettkampf mit seinem Favoriten „mitfiebert“. Das Verb stammt also aus seinem Substantiv „Fieber“, welches aus dem Lateinischen stammt - müssen wir „fiebern“ also raus streichen?

Das ist nach wie vor abhängig von der Definition eines Fremdwortes. Der Lehrer hat, zumindest in dieser Stunde eine solche bisher nicht gegeben. Lediglich in der zuvor besprochenen Aufgabe wurde das Wort Analphabetismus als Fremdwort bezeichnet. Nach welcher Strategie können die Schüler die nun zu bewältigende Aufgabe bearbeiten?

Wie können sich die Schüler ein Kriterium für die gegebene Aufgabe „basteln“?

1. Jeder streicht alle Wörter raus, die ihm fremd erscheinen respektive als nicht deutsch vorkommen (subjektives Kriterium)
2. Jeder benutzt ein Fremdwörterbuch und schlägt alle Wörter des Textes nach und streicht diejenigen raus, die im Fremdwörterbuch stehen (objektives? Kriterium)

[...]


[1] Disser, Jana: Unterrichtstranskript einer Deutschstunde an einem Gymnasium (8. Klasse, A-Kurs). Stundenthema: "Fremdwörter". PDF-Dokument (1 Datei), 39 Seiten, 2006, URL: http://archiv.apaek.uni-frankfurt.de/324.

[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Fremdwort, Abrufdatum: 17.07.2009

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Die verpasste Erkenntnis
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
15 Punkte
Autor
Jahr
2009
Seiten
26
Katalognummer
V143450
ISBN (eBook)
9783640543861
ISBN (Buch)
9783640544363
Dateigröße
498 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erkenntnis, Bildungschancen, Fremdwörter, Transkriptanalyse, Deutschunterricht, Lehrerverhalten, objektive Hermeneutik, Didaktik, Transkript, Bildung, Erziehungswissenschaften, Erziehung, Sprache, Kompetenz des Lehrers
Arbeit zitieren
Sarah McCarty (Autor:in), 2009, Die verpasste Erkenntnis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143450

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die verpasste Erkenntnis



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden