Spiele mit der Illusion: Figurenkonstellation in Les Chaises von Eugène Ionesco


Hausarbeit, 2004

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Les Chaises - eine tragische Farce
2.1. Zeit, Ort, Handlung, Situation
2.2.Figurenkonstellation
2.3. Szenischer Raum als Interiorität der dramatis personae

3. Spiele mit der Illusion
3.1. Le dit et le non-dit - das Problem Sprache als problematisches Denken
3.2. Dramatisches Spiel und meta-dramatisches Spiel

4. Reflexionen

5. Literaturverzeichnis
5.1. Internetquellen

1. Einleitung

In dieser Arbeit wird die 1952 uraufgeführte tragische Farce Les Chaises von Eugène Ionesco hinsichtlich seines Spiels den Illusionen untersucht. Da dieser Einakter seiner kurzen Form zum Trotz eine enorme Komplexität aufweist, kann diese Analyse nicht erschöpfend sein, sondern nur exemplarisch und skizzierend.

Zunächst beginnt die Auseinandersetzung mit dem Theaterstück auf der strukturellen Ebene der Zeit, wobei allerdings die verschiedenen Mittel der Darstellung berücksichtigt werden sollen, da keine lineare chronologische Zeit im dramatischen Text auszumachen ist. Ebenso werden die Sinnbildlichkeit des Ortes, der Handlung und Situation Gegenstand des ersten Kapitels sein. Hierdurch werden immer schon vorgreifend Hinweise auf die dann folgende Analyse der Figurenkonstellation gegeben. Die Darstellung der Protagonisten beläuft sich nicht nur in einer differenzierten Betrachtung der Namen, Körper und der von ihnen verbalisierten Sprache, sondern muss darüber hinaus auch im szenischen Raum gesucht und erörtert werden, da die Zeichenhaftigkeit der Objekte und des Bühnenbilds das Selbstgefühl der Figuren widerspiegelt.

Besonderes Anliegen dieser Arbeit ist, die Sprache und den ausgefallenen Stil des szenischen Arrangements hervorzuheben, um dann noch einmal Rückschlüsse auf die Charakterisierung des Personenarsenals ziehen zu können. Die verbalen Äußerungen zeigen analog zu den Objekten die Leere des Daseins aber auch eine Kommunikationsunfähigkeit auf, da das Schweigen genauso zum Bedeutungsträger wird wie das Sprechen. Allerdings liegen, laut Ionesco, die tieferen Gründe für die problematische Kommunikation nicht nur in einer Sprachkrise, sondern ausdrücklich in einer Denkkrise.

Im Anschluss erfolgt eine Konfrontation mit dem dramatischen und meta-dramatischen Spiel. Hier soll beispielhaft geprüft werden, auf welche Weise sich Ionesco die verschiedenen Gegensätze von Begriffspaaren nutzbar macht und wozu diese in der Konsequenz führen. An dieser Stelle sollen ferner die Spiele mit dem Theater als sozialer Institution und somit auch die Spiele mit den Wahrnehmungsgewohnheiten der Zuschauer, welche Ionesco mit diesem Stück hinterfragt, aufgezeigt werden. Es bleibt sicherlich zu fragen, warum und mit welchem Erfahrungshintergrund der Dramatiker sich für die Form des Theaters entschieden hat, inwieweit mit der Tradition, also der absoluten Illusion gespielt wird und ob sich parallelen zur zeitgenössischen, epischen Literaturproduktion erkennen lassen. Dies kommt abschließend in einer kritischen Zusammenfassung der gewonnenen Einsichten aus der vorliegenden Untersuchung zur Sprache.

2. Les Chaises- eine tragische Farce

2.1. Zeit, Ort, Handlung, Situation

Im Theaterstück Les Chaises müssen die verschiedenen strukturgebenden Elemente auf sehr unterschiedlichen Ebenen untersucht werden, somit auch das Phänomen der Zeit. Gleich zu Beginn der Szene kann trotz präziser Zeitangabe ein Stillstand oder Kreiseln dieser Zeit festgestellt werden, wenn der Alte konstatiert: „Il est 6 heures de l´après-midi…il fait déjà nuit. Tu te rappelles, jadis, ce n´était pas ainsi ; il faisait encore jour à 9 heures du soir, à 10 heures, à minuit.“1

Das Alter der beiden Protagonisten, le Vieux und la Vieille, ist einerseits Zeuge der vorangeschrittenen Lebenszeit, wirkt aber andererseits statisch durch die immer gleiche Wiederholung ihrer alltäglichen Versuche, sich zu zerstreuen. Ebenso wie in Samuel Becketts Fin du partie wird in Ionescos Einakter immerfort, seit 75 Jahren, ein und dieselbe Geschichte erzählt. Diese Geschichte an sich mündet nach der Produktion von zufälligen Sprechautomatismen in der Zeitlosigkeit eines Chansontitels (Paris sera toujours Paris)2 und negiert in der Konsequenz die Lebenszeit der Figuren.

Parallel schreitet die Zeit im Fortgang der Szene und vor den Augen des Zuschauers voran. Mit dem Eintreffen der Gäste und durch das massenhafte Schrillen der Türklingel steigt nicht nur die Erwartung des alten Ehepaares, sowie jene der Zuschauer, sondern auch die Spannung. Welche mit einer enormen Beschleunigung des Erzähl- bzw. Aktionstempos vorangeht. Das Hereintragen der Stühle simuliert dementsprechend einen Zeitprozess, wobei die Bewegungen der Protagonisten, je mehr Stühle den Raum füllen, analog zu den Dialogen zirkulär verlaufen.3 Doch kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die dargestellte Realzeit gerade durch die Abwesenheit der Gäste ihren Referenten verliert und somit zu einer Art Nicht-Zeit wird. Auch führt der Verlauf der Szene die beiden Protagonisten gegen Ende wieder in ihre Ausgangsposition am Fenster zurück: „Le passé avance pour nous ramener au point de départ.“4 Dies steht im Widerspruch zu Peter Szondis Theorie des modernen Dramas, in der er eine absolute Gegenwartsfolge als konstitutiven Zeitablauf fordert. Des Weiteren „muss jeder Moment der Zeit den Keim der Zukunft in sich enthalten […].“5 In Les Chaises hingegen gibt es, wie noch näher zu zeigen sein wird, aufgrund von Perspektivlosigkeit keine Zukunft, sie ist dementsprechend auch nicht mehr grundlegend für das Gelingen der Szene.

Die Bühne, als altes, abgelebtes Wohnzimmer ausgestattet und gleichfalls Marker für den

Zustand der Protagonisten, befindet sich in einem Haus umgeben vom Meer. Dies erfährt der Rezipient aber nicht als visuelles Erlebnis, sondern auditiv und implizit durch den Dialog bzw. akustisch durch das Geräusch der ankommenden Boote und jenes der klatschenden Körper auf das Wasser.6 An diesem formalen Beispiel wird einerseits deutlich, inwiefern Ionesco mit den Sinnen der Zuschauer zu spielen sucht. Ist das Wohnzimmer noch visuell auf der Bühne aufgebaut, so wird in der Folge der Hörsinn immer mehr angesprochen und im weiteren Verlauf der Szene noch intensiver gefordert. Andererseits ist ein als entlegene Insel ausgewiesener Ort Sinnbild für die Vereinsamung und Vereinzelung der Hauptfiguren, eine Thematik, welche in den anschließenden Kapiteln näher betrachtet werden soll.

Handlung und Situation überlappen sich in Ionescos Einakter, da es sich schlicht um einen ausgedehnten Moment des gelangweilten Wartens handelt. Dieser lang gestreckte Moment expliziert sich an der wiederholten Aussage des Alten, wenn es gleich zu Beginn des Stücks heißt: „Je m´ennuie beaucoup.“7 Und weiter: „Mais c´est monotone“8 Auch wenn sich das langweilige Warten in ein hektisches Erwarten verwandelt, bestätigt sich die vorausgehende Spannungslosigkeit des eigenen Daseins ebenfalls durch die Aussage der Alten, welche allerdings erst im dritten Anlauf in der Lage ist, ihren Satz zu vollenden. Hierdurch gewinnt dieser Satz jedoch an Gewicht, da er die Brüchigkeit der Personen und ihrer Gedankenwelt betont. Zudem beklagt dieser Absatz ungelebtes Leben, drückt ihre Hoffnungslosigkeit aus, und er offenbart den Wunsch nach sozialem Aufstieg innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie: „Tu es très doué. Si tu avais eu un plus d´ambition dans la vie, tu aurais pu être un Roi chef, un Journaliste chef, un Comédien chef, un Maréchal chef…Dans le trou, tout ceci hélas…dans le grand tout trou noir…Dans le trou noir, je te dis.“9

Synchron zu den wiederkehrenden Dialogen, die sich durch wenige aber signifikante Variationen auszeichnen, wird das Warten und die Monotonie des Lebens mit Hilfe der immer gleichen Bewegungsabläufe fortgeschrieben, welche im scheinbar endlosen Hereintragen der Stühle besteht.

Um ihrem Leben eine hoffnungsvolle Wendung, einen Lebenssinn zu geben, hat das Paar Gäste geladen, denen der Greis seine Botschaft verkünden will, welche darin besteht, der Menschheit ‚Alles’ zu erklären.10 Dies wird im Fortgang des Stückes durch zahlreiche

Elemente ironisiert, woran die Anmaßung und Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens, „Une seule vérité pour tous“11, offensichtlich wird.

Das Unterfangen wird auf folgende Art und Weise der Lächerlichkeit preisgegeben: Da der Alte nicht nur die Potentiale seines Lebens verpasst hat, sondern zudem sich selbst auch noch als schlechten Sprecher bezeichnet, hat er einen professionellen Redner beauftragt, in seinem Namen die Botschaft bekannt zu geben. Dieser Berufsredner erweist sich allerdings, nach dem die Erwartungen aller Beteiligten bis ins Extreme gesteigert worden sind, sowie dieses Warten und Erwarten die Szene markiert und trägt, als taubstumm. Ebenso wie die Komik durch das Nichterscheinen der Gäste noch einmal mehr ausgebaut wird, stehen die unbesetzten leeren Stühle sowie die Sprachlosigkeit der Figuren für den Inhalt der Botschaft und somit auch für die Leere ihres Lebens. Seine Absicht, die Menschheit und dadurch sich selbst zu retten, ist zum Scheitern verurteilt, da ‚Alles’ zu nichts wird, denn wie soll der Alte die Menschheit retten, wenn er sich selbst nicht zu retten vermag?

Insgesamt kann konstatiert werden, dass der Aufzug, trotz aller eingeschriebener Komplexität und Vieldeutigkeit, von Beginn auf dieses Ende zugeschnitten ist und in Analogie zu dem Ende der beiden Hauptfiguren steht, welches durch ihren kollektiven Selbstmord gestaltet ist. Paul Vernois formuliert diese perspektivlose Situation der beiden Protagonisten mit treffenden Worten folgendermaßen: „Tout la vie de l´homme, ses efforts, ses insuccès, ses rêves, ses cauchemars s´inscrivent dans cette tentative d´échapper à sa condition et dans son retour à la réalité, aggravé souvent par une hantise de l´enfoncement, de la disparition pas le bas.“12

Aufgrund dessen kann das nun zu erläuternde theatralische Dasein der beiden Alten als innerer Sterbeprozess und einzige Wahrheit interpretiert werden, welcher durch den Sprung aus dem Fenster für die Zuschauer konkret und fassbar gemacht wird.

2. 2. Figurenkonstellation

Wie schon der Untertitel andeutet, stehen die Hauptfiguren dieses Werkes in der Tradition der Farce. Dort treten sie paarweise auf, entstammen der kleinbürgerlichen Alltagswelt und zeichnen sich durch eine undifferenzierte Psychologie aus. Da sie nichts Spezielles oder Individuelles haben, sind sie zu typenhaften Charakteren verdichtet, was durch ihre universale und allgemeingehaltene Benennung Le Vieux und La Vieille bestätigt wird.13 Ebenso wie die Namen sind auch die inszenierten Körper immer auf das Motiv der Identität bezogen.14 Während die Frau rein äußerlich mit einer schlechten, alten Kleidung ausgestattet ist, zeigt ihr Körper ausdrücklich den Verfall (der Identität) auf: „Docteur, Docteur, j´ai des nausées, j´ai des bouffées, j´ai mal au coeur, j´ai des douleurs, je ne sens plus mes pieds, j´ai froid aux yeux, j´ai froid aux doigts, je souffre du foie, docteur, docteur!...“15

Des Weiteren interessieren sich die Figuren nicht für andere Menschen und auch nicht für einander, es sei denn, es handelt sich um die Bestätigung des eigenen Seins, welches ja ständig bedroht, da in Frage steht. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Greisin in der folgenden Aufforderung: „Vas-y alors, racontes ton histoire…Elle est aussi la mienne […].“16 Parallel offenbart sich dasselbe Verhalten bei ihm in seiner vergeblichen Sinnsuche und fehlenden Anerkennung, die er mit Hilfe der Botschaft erlangen möchte. Für beide Figuren gilt, dass sie der Last des Alters, der Zeit und der eigenen Unbedeutsamkeit entkommen möchten. Hierbei dient die Botschaft als Zeichen ihres Überlebens.17

Ferner handelt es sich in Les Chaises nicht nur um Figuren, die sich ihres Selbst weder sicher noch bewusst sind, sondern zudem auch mehrere Rollen spielen. Auf diese Weise erteilt Ionesco der von Aristoteles vorgeschlagenen und von der Klassik zur Norm erhobenen unit é du caract è re eine Absage. Dies wird am folgenden Monolog explizit: „Je ne suis pas moimême. Je suis un autre.- je suis l´un dans l´autre.“18

Die verdoppelte Persönlichkeit des Figurenarsenals wird bereits durch die Berufsbezeichnung des Alten angedeutet, denn er ist ein vermeintlicher Concierge, vermeintlich, da es in der Umgebung ihres einsamen Wohnzimmers nur das Meer gibt, dementsprechend es keine Mietwohnungen zu warten gibt. Auf diese Weise wird er auch noch um diesen kleinen Rest Identität gebracht. Sein übliches Ausharren in einer fiktiven Rolle wird durch sein infantiles Spiel demaskiert. Diese absurd und komisch wirkenden Ausführungen eines alten Mannes, der nach seiner Mutter verlangt und ihren Tod beklagt, enthüllt ein zweites Gesicht. Genauso verliert auch die Alte für einen kurzen Moment die Fassung, was sich allerdings nicht wie bei

[...]


1 Ionesco, Eugène: Th éâ tre 1. Paris 1954, S. 128.

2 Vgl.: http://lyricsplayground.com/alpha/songs/p/parisseratoujoursparis.shtml. Zugriff: 8.12.09.

3 Vgl.: Vernois, Paul: La dynamique th éâ trale d ´ Eug è ne Ionesco. Paris 1972, S. 90.

4 Ionesco, Marie France & Vernois, Paul: Ionesco. Situation et perspectives. Colloques de Cerisy. Paris 1980, S. 197.

5 Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a.M. 1963, S. 17.

6 Vgl.: Ionesco: Th éâ tre 1, S. 136 & 172.

7 Ebd, S.128.

8 Ebd, S. 129.

9 Ebd, S. 130.

10 Vgl.: Ebd, S. 132.

11 Ebd, S. 160.

12 Vernois: La dynamique th éâ trale d ´ Eug è ne Ionesco, S. 58.

13 Vgl.: Drechsler, Ute: Die „ absurde Farce “ bei Beckett, Pinter und Ionesco. Vor - und Überleben einer Gattung. Tübingen 1988, S. 30.

14 Vgl.: Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas 1. Von der Antike bis zur deutschen Klassik. Tübingen 1990, S. 8.

15 Ionesco: Th éâ tre I, S. 145.

16 Ebd, S. 129.

17 Vgl.: Vernois: La dynamique th éâ trale d ´ Eug è ne Ionesco, S. 59.

18 Ionesco: Th éâ tre I, S. 159.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Spiele mit der Illusion: Figurenkonstellation in Les Chaises von Eugène Ionesco
Hochschule
Technische Universität Berlin  (Institut für Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Der moderne Einakter
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
20
Katalognummer
V142400
ISBN (eBook)
9783640523047
ISBN (Buch)
9783640522309
Dateigröße
448 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Die Stühle, Neues Theater, Einakter, Farce, Ionesco
Arbeit zitieren
M.A. Hoelenn Maoût (Autor:in), 2004, Spiele mit der Illusion: Figurenkonstellation in Les Chaises von Eugène Ionesco, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/142400

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