Lernschwierigkeiten in der Schule - Dyskalkulie - zur theoretischen Klärung


Seminararbeit, 2008

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriff und Definition der Dyskalkulie
Begriff der Dyskalkulie
Die Definition von Rechenschwäche
Die Diagnose einer Rechenschwäche
Kritik an der Definition

3. Symptomatik und Ursachen von Rechenschwächen
Symptomatik
Epidemiologie
Ursachen von Rechenschwächen
Selbstkonzept und Angstauslöser Rechenschwäche

4. Rechenschwäche - ein Kompetenzmodell
Zum Kompetenzbegiff
Wann beginnt das Rechnenlernen?
Ein fünfstufiges Entwicklungsmodell
Besondere Hürden für Kinder mit Rechenproblemen

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der Lehr- und Lernstörung der Dyskalkulie auseinander- diese wird u. a. auch als Rechenschwäche bzw. Rechenstörung bezeichnet.

Der Fachterminus ‘Rechenschwäche’ bezeichnet nicht - wie vermutbar - einen kognitiven Defekt, der auf Seiten der Betroffenen allein für deren Probleme beim Rechnenlernen verant- wortlich wäre. Schüler mit einer Rechenstörung weisen weder eine verminderte Intelligenz auf noch liegt eine körperliche oder psychische Krankheit bzw. Behinderung zugrunde, wel- che die verminderte mathematische Leistungsfähigkeit erklären könnte. Somit stellt der Be- griff der Rechenschwäche vielmehr eine Sammelbezeichnung für sehr unterschiedliche Pro- bleme beim Erwerb von Rechenfertigkeiten und konkreter Kompetenzen im Unterrichtsfach Mathematik dar.

Das es sich bei dieser speziellen Form der „Lernbehinderung“ ebenso um eine Lehr- wie auch um eine Lernstörung handelt, ist eine Sichtweise, die erst seit Kurzem in der Forschung aufge- kommen ist (Opitz 2007). Als Forschungsgegenstand ist die Dyskalkulie einer größeren Fluk- tuation ihrer Theorie ausgesetzt als die „große Schwester“, die Legasthenie. Dies ist auf den kürzeren Forschungszeitraum und die fehlende Forschungsintensität zurückzuführen. Trotz der nun drei Jahrzehnte umfassenden Erforschung der Rechenschwäche und der großen An- zahl an vorliegenden Studien, wird auch noch in den neusten Veröffentlichungen betont, dass zum Gesamtkomplex ‘Dyskalkulie’ wenig gesicherte Erkenntnisse vorliegen (vgl. Opitz 2007, S. 12; Fritz/ Ricken 2008, S. 9; Jacobs/ Petermann 2007, S. 3).

Innerhalb dieser Arbeit wird es zu einer theoretischen Klärung des Phänomens Rechenschwä- che kommen. Es folgt zunächst die Auseinandersetzung mit dem begrifflich-definitorischen Aspekt. Im Anschluss wird die Symptomatik der Rechenschwäche beleuchtet, gefolgt von ei- ner Ursachenforschung. In einem dritten Abschnitt - der den Kern dieser Arbeit ausmacht - kommt es zur Darstellung eines Kompetenzstufenmodells, das dem entwicklungspsychologi- schen Ansatz folgt, und das es ermöglicht, Rechenschwächen als unterschiedlich stark ausge- prägte Entwicklungsrückstände verstehbar zu machen. Der Vorteil - und darum wurde zu- gunsten diesen Modells entschieden - liegt weiterhin darin, dass hierdurch die „Nadelöhre“ und „Meilensteine“ in der Entwicklung mathematischer Fähigkeiten rechenschwacher Kinder ausgemacht und gezielt in „Angriff“ genommen werden können. Da diese Arbeit jedoch nur der theoretischen Klärung der Rechenschwäche dient und nicht unterrichtspraktisch ausgelegt ist, wird der Aspekt der Förderung bzw. Therapie, der überwiegend aus unterrichsbezogenen Verfahren und Übungen besteht, unterschlagen.

2. Begriff und Definition der Dyskalkulie

Begriff der Dyskalkulie

Vorab muss auf den synonymen Gebrauch verschiedener Begriffe im Zusammenhang mit der Dyskalkulie hingewiesen werden. Je nach Quelle und Verständnis ist von mathematischer Lernstörung, Rechenstörung, mathematischer Lernschwäche, mathematischer Schulleistungsschwäche, Rechenschwäche usw. die Rede. Zur Vereinfachung kommt im Folgenden der Begriff der Rechenschwäche zum Einsatz.

Trotz der vorliegenden Uneinheitlichkeit des Forschungsstandes können begriffliche Gemeinsamkeiten ausgemacht werden. Somit bedeutet die Rechenschwäche nicht, dass ein einseitiger eindeutig bestimmbarer „Defekt“ des Kindes vorliegt. Das die Betroffenen beim Rechnenlernen scheitern, kann die verschiedensten Ursachen haben - sie haben keine Schwäche an sich, sondern sie sind aus unterschiedlichen Gründen schwach im Rechnen. Auch wenn die unzähligen Erscheinungsformen der Rechenschwäche ähnliche Grundmuster aufweisen, ist es verfehlt von der einen Rechenschwäche, im Sinne eines gleichen „Krankheitsbildes“ der Betroffenen auszugehen (vgl. Gaidoschik 2003, S. 9).

Somit ist verständlich, dass eindeutige Definitionen in der Fachliteratur vermieden werden.

Die Definition von Rechenschwäche

Einen wichtigen Dreh- und Angelpunkt gibt es dennoch. Eben so oft zitiert wie auch kritisiert wird die Definition der Weltgesundheitsorganisation (ICD 10, Kapitel F81.2). Dort wird die Rechenschwäche wie folgt festgehalten:

„Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.“ (WHO 2005, S. 277).

In den diagnostischen Richtlinien der WHO wird zudem festgehalten, dass die Rechenleistung des Kindes eindeutig unterhalb des Niveaus liegen muss, welches aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der jeweiligen Schulstufe zu erwarten wäre. Auch die Lese- und Rechtschreibfähigkeit muss innerhalb des Normalbereichs liegen.

Die begriffliche Determination der Rechenschwäche durch die WHO hat demzufolge den Charakter einer Diskrepanzdefinition - die Rechenschwäche wird als eine Teilleistungsstörung bei durchschnittlicher Intelligenz beschrieben.

Zum besseren Verständnis werden in diesem Zusammenhang zwei Begriffe näher erläutert: erstens, der der Teilleistungsstörung und zweitens der der Diskrepanzdefinition.

1. Wenn im Zusammenhang mit der Rechenschwäche von einer Teilleistungsstörung die Rede ist, dann muss bedacht werden, dass dieser Begriff an dieser Stelle eine „unscharfe“ Verwen- dung findet. Die Teilleistungsstörung - meist auch als Teilleistungsschwäche bezeichnet - ist ein Fachausdruck der Neuropsychologie. Hiermit wird eine „Leistungsminderung“ in einem klar abgegrenzten Bereich der Wahrnehmung und der Bewegungssteuerung bezeichnet. Es handelt sich um basale Fähigkeiten, durch die sich ein Kind in seiner Umwelt gut oder weni- ger gut bewähren kann. Solche Fähigkeiten sind bspw. das Erfassen eines Gegenstandes im Raum, das Wiedererkennen gleicher Formen und Größen oder die Abstimmung der eigenen Bewegungen zu dem, was man sieht. Eine - in der Forschung bereits weit zurückreichende und bis heute nicht unumstrittene - Erklärung, die für die Leistungsminderung einer oder mehrerer dieser Fähigkeiten, ist die minimale cerebrale Dysfunktion (MCD), die von einer funktionellen Störung des Gehirns ausgeht (siehe hierzu: Lorenz 1990, S. 75-95).

Das Rechnen selbst aber ist - ebenso wie das Lesen und Schreiben - keine basale Teilleistung, sondern eine Kulturtechnik an der die erwähnten Teilleistungen beteiligt sind. Somit ist die WHO-Definition so zu verstehen, dass nicht die Rechenschwäche selbst eine Teilleistungsstörung ist. Vielmehr beruht die mathematische Schwäche auf der Störung einer oder mehrerer dieser basalen Teilleistungen (vgl. Gaidoschik 2003, S. 9f.).

2. Mit der WHO-Definition liegt eine Diskrepanzdefinition vor. Dies bedeutet, dass bei einem Kind genau dann eine Rechenschwäche diagnostiziert wird, wenn bei diesem eine Diskrepanz zwischen der Rechenleistung einerseits und der Intelligenz und den übrigen schulischen Leis- tungen andererseits nachgewiesen werden kann. Schüler1 mit einem solchen Leistungsprofil werden als Kinder mit mathematischen Lernstörungen angesehen (vgl. Opitz 2007, S. 17).

Die Diagnose einer Rechenschwäche

Die Diagnose einer Rechenschwäche erfolgt durch die Feststellung einer festgelegten Abwei- chung zwischen IQ und Mathematikleistung in einem standardisierten und normierten Re- chentest. Über die Höhe des anzulegenden Wertes der Abweichung gehen die Ansichten aus- einander. Jacobs und Petermann (2005, S. 72) schlagen einen einen cut-off-Wert von 1,5 Standardabweichungen zwischen dem IQ und der mathematischen Leistung vor. Erst vor Kur- zem zogen dieselben Autoren Bilanz und stellten einen erheblichen Unterschied zwischen den Forschungs- und den Diagnosekriterien fest (Jacobs/ Petermann 2007, S. 5). Die von der Forschung präferierte Standardabweichung von zwei Punkten entspricht nicht der der klinischen Praxis. Diese arbeitet nach wie vor mit einer Diskrepanz zwischen Rechenleistung und Intelligenz von eineinhalb Standardabweichungen.

Kritik an der Definition

Trotz der häufigen Verwendung der WHO-Definition in Diagnostik und Forschung wird diese von vielen Seiten her und bezüglich mehrerer Aspekte in Frage gestellt. An dieser Stelle sollen die Hauptkritikpunkte zusammengetragen werden, da sie gut veranschaulichen können, warum nach wie vor in der Dyskalkulieforschung erhöhter Nachholbedarf besteht. Vorab sei erwähnt - die WHO selbst räumt ein, dass Rechenstörungen noch wenig untersucht sind und dass es deshalb schwierig ist, Aussagen über Vorläufer, Verlauf und Prognose einer solchen zu machen (Opitz 2007, S. 16f.).

1. Auf Grund des Intelligenzkriteriums der Diskrepanzdefinition kann es dazu kommen, dass Schüler mit einem IQ im unteren Normalbereich Gefahr laufen, nicht als rechenschwach aner- kannt zu werden, da die erforderliche Standardabweichung von mindestens eineinhalb Punk- ten nicht „zu Stande kommt“. Somit würden diese Schüler auch keine gesonderte Förderung bzw. Therapie erhalten, obwohl sie de Facto rechenschwach sind. Erschwerend - und mit ei- nem Hang zur Selbstbezüglichkeit - kommt hinzu, dass die Überwiegende Anzahl an Tests zur Ermittlung des IQ-Wertes mathematisches Wissen und mathematische Denkweisen vor- aussetzen. Somit schneiden die betroffenen Schüler im IQ-Test schlechter ab und es besteht wiederum die Situation, dass der geforderte Diskrepanzwert nicht erreicht wird.

2. Die WHO Kriterien sehen eine durchschnittliche Lese- und Rechtschreibleistung als Diagnosekriterium vor. Doch liegen Rechenstörungen nicht immer isoliert vor, sondern können bspw. in Kombination mit einer Lese-Rechtschreibschwäche auftreten. Auch hier kann die Definition nicht greifen und förderbedürftige Schüler können übersehen werden.

3. Aus pädagogischer Sicht ist anzumerken, dass der Diskrepanzdefinition ein entwicklungs- orientierter Aspekt fehlt, welcher Hinweise auf Weiterentwicklung und Förderung des Betrof- fenen gibt. Jedoch ist ein solcher Punkt für den pädagogischen Alltag unabdingbar (vgl. Opitz 2007, S. 18-28).

3. Symptomatik und Ursachen von Rechenschwächen

Symptomatik

Das Vorhandensein einer Rechenschwäche wird in der Regel erst in der Grundschule erkannt. Kinder mit Rechenschwächen treten gehäuft in der dritten und vierten Grundschulklasse sowie in der sechsten Klasse der weiterführenden Schulen auf (Jacobs/ Petermann 2007, S.1).

Rechenstörungen werden oft zu spät erkannt. Dies hängt mit mehreren Faktoren zusammen. Zum Beispiel lösen sich die Kinder erst am Ende der zweiten Klasse von konkreten Hilfestel- lungen und Zählstrategien (etwa mit den Fingern). Dadurch fallen die Schüler mit einer Re- chenschwäche, die weiterhin an diesen Zählstrategien festhalten, erst jetzt auf. Auch die Er- schließung des Zahlenraumes über 100 hinaus, der für rechenschwache Schüler eine große Hürde darstellt, erfolgt erst nach Abschluss der zweiten Klasse. Ein weiterer Grund der das Erkennen einer Rechenschwäche erschwert ist, dass Kinder mit guten kognitiven Ressourcen (z.B. ein gutes Arbeitsgedächtnis, gute Aufmerksamkeitsleistung, usw.) die für sie zu hohen Anforderungen, die das Fach Mathematik an sie stellt, durch Auswendiglernen kompensieren (vgl. Jacobs/ Petermann 2007, S. 1).

Welche Merkmale können auf eine Rechenschwäche hinweisen?

Bereits im Kindergarten entwickeln sich wichtige kognitive Basisfertigkeiten des mathemati- schen Lernens - z.B. visuell-räumliche- oder gedächtnisbezogene Verarbeitungsprozesse. Die- se müssen jedoch als Vorläuferfertigkeiten angesehen werden. Bei einigen Kindern ist zu be- obachten, dass sie bestimmte Spiele wie Memory, Puzzeln oder das Spielen mit Legobaustei- nen vermeiden, da es ihnen nicht so gut wie ihren Alterskameraden gelingt. In der Schule - wie bereits erwähnt - fallen rechenschwache Kinder durch das Festhalten an bestimmten Zählstrategien auf. Der Umgang mit der Zehnerüberschreitung wird kaum beherrscht. Gerade berechnete, ähnliche Aufgabenstellungen werden nicht erkannt und jede Aufgabe wieder neu bearbeitet. Auch beim Kopfrechnen kommt es häufig zu erneuten Anlaufversuchen, da die Zwischenergebnisse oder die Aufgabenstellungen selbst vergessen werden. Erstaunlich ist, dass sich rechenschwache Schüler nicht über spezifische Rechenfehler identifizieren lassen. Es ist die Häufigkeit, die Vielfalt und die Persistenz der Rechenfehler, die Indizien über eine vorliegende Rechenschwäche liefern. (vgl. Jacobs/ Petermann 2007, S.2-5).

Epidemiologie

Die internationalen Prävalenzangaben zur Dyskalkulie weisen eine große Schwankungsbreite auf: 3,6 % bis 10,9 %. Im deutschsprachigen Raum schwanken die Angaben zwischen 4,4 % und 6,6 % (Jacobs/ Petermann 2007, S. 6f.). Die bestehenden Schwankungen können zu einem großen Teil darauf zurückgeführt werden, dass kaum aktuell normierte, standardisierte Rechentests zur Verfügung stehen oder sehr unterschiedliche Verfahren angewendet werden, was zu einer unterschiedlichen Diagnosestellung führt.

[...]


1 Aus Gründen der Einfachheit wird darauf verzichtet eine geschlechterberücksichtigende Schreibweise durchzuführen. Die Wörter ‘Schüler’ bzw. ‘Lehrer’ implizieren das weibliche Geschlecht.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Lernschwierigkeiten in der Schule - Dyskalkulie - zur theoretischen Klärung
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Institut für Bildungswissenschaften)
Veranstaltung
Schulalltag in der Moderne
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
21
Katalognummer
V142207
ISBN (eBook)
9783640537952
ISBN (Buch)
9783640537730
Dateigröße
553 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rechenschwäche
Arbeit zitieren
Hermann Sievers (Autor:in), 2008, Lernschwierigkeiten in der Schule - Dyskalkulie - zur theoretischen Klärung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/142207

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