Unternehmensverbände in den USA und Deutschland

Organisationsstrukturen und Handlungsfelder im Vergleich


Magisterarbeit, 2009

119 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorien der Verbändeforschung
2.1 Pluralismus
2.2 Neopluralismus
2.3 Pluralismuskritik
2.4 Neokorporatismus
2.5 Folgerungen

3. Historische Entwicklung der Unternehmensverbände
3.1 USA
3.2 Deutschland

4. Typologie der Unternehmensverbände
4.1 USA
4.1.1 Sektorübergreifende Dachverbände
4.1.1.1 National Federation of Independent Business
4.1.1.2 Business Roundtable
4.1.1.3 U.S. Chambers of Commerce
4.1.2 Sektorspezifische Dachverbände
4.1.2.1 National Association of Manufacturers
4.1.2.2 National Retail Federation
4.1.3 Branchenverbände & Arbeitgeberverbände
4.2 Deutschland
4.2.1 Bereich I: wirtschaftspolitisch
4.2.2 Bereich II: sozialpolitisch
4.2.3 Bereich III: Kammerwesen

5. Handlungsfelder der Unternehmensverbände
5.1 Das politische System der USA im Überblick
5.2 Das deutsche politische System im Überblick
5.3 Folgerungen

6. Besonderheiten im Lobbying
6.1 Mehrebenen-Lobbying in den USA
6.2 Primär Einebenen-Lobbying in Deutschland

7. Schlussbetrachtung

8. Literatur- & Quellenverzeichnis

Literatur

Elektronische Medien/Quellen

Quellen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

„Die moderne Gesellschaft ist eine organisierte Gesellschaft, eine Gesellschaft von Körperschaften. Der Staat als Herrschaftsordnung der modernen Gesellschaft ist dementsprechend eine komplexe Körperschaft, in der Organisationen und andere Arten kollektiver Akteure zusammenwirken“1

- Dr. Arthur Benz -

Der Politikwissenschaftler Arthur Benz definiert die moderne Gesellschaft als eine Gesellschaft, welche sich in kollektiven Akteuren organisiert und durch diese den politischen Prozess gestaltet. Nicht Individuen handeln im Staat, sondern Organisationen, denen bestimmte Funktionen zugeordnet werden. Als wichtigste kollektive Akteure nennt Benz zunächst die Staatsorgane und die Parteien. Während erstere primär politische Programme und Gesetzgebungsprozesse initiieren, diese in geltendes Recht umsetzen und jene beschlossenen Gesetze dann vollziehen, liegt die Aufgabe der Parteien in der Artikulation von „Problemen“, deren Transmission in den politischen Prozess sowie in der Kontrolle von Verfahren und Ergebnissen.2

Als dritten, wichtigen kollektiven Akteur in einer modernen Gesellschaft nennt Arthur Benz die Verbände. Auch diese artikulieren „Probleme“ und versuchen sie in den politischen Prozess einzubringen. Während sich Parteien aber - idealtypisch - an einem „Gemeinwohl“ zu orientieren haben, vertreten Verbände nur spezielle Partikularinteressen. Dabei umfassen sie den intermediären Raum zwischen der „Lebenswelt“ ihrer Mitglieder und den Institutionen des politischen Systems.3 Sie sind so verstanden ein wichtiges Partizipationsinstrument für ihre jeweilige Klientel und sorgen gleichzeitig für deren gesellschaftliche Integration. Somit tragen Verbände wesentlich zur demokratischen Legitimierung eines politischen Systems bei.

Die primäre Funktion der Verbände ist nach Benz „die Vermittlung und Durchsetzung der Interessen, die sie organisieren, gegenüber (…) den im Staat handelnden

Akteuren“.4 Damit sind jedoch nicht nur staatliche Organe und Parteien gemeint. In der Regel befinden sich Verbände auch untereinander in Widerstreit, da sie jeweils eigene Interessen verfolgen, die sich durchaus konträr gegenüberstehen können. Verbände konkurrieren dabei auch um einen größtmöglichen Einfluss auf Entscheidungen von staatlichen Organen (insbesondere im Gesetzgebungsprozess). Als bekannteste Beispiele sind hier die Gewerkschaften und die Unternehmensverbände anzusehen.

In dieser Arbeit stehen die Unternehmensverbände im Mittelpunkt der Untersuchung. Diese werden verstanden als spezielle Versionen der Interessenverbände, welche privatrechtliche Unternehmen als Mitglieder führen und im Bemühen um politische Einflussnahme deren Interessen vertreten. Durch Unternehmensverbände wird also eine Klientel vertreten, die für den Staat und dessen Bürger von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist. Dort entsteht ein Großteil der Arbeitsplätze und es wird ein bedeutender Anteil des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet. Die Unternehmensverbände repräsentieren das Herz einer jeden Volkswirtschaft. Gerade in Zeiten der Globalisierung ist es für einen Staat unumgänglich, auch die Interessen der Unternehmer bzw. der Unternehmen zu berücksichtigen. Mithin ist heute Politik zu einem großen Teil immer auch Wirtschaftspolitik.5 Unternehmensverbände sind daher ein wichtiges Instrument der Wirtschaft um ihre Interessen zu bündeln und in den politischen Prozess einfließen zu lassen. Jener politische Prozess wird allerdings ganz wesentlich durch den gegebenen Aktionsrahmen bestimmt, in welchem er stattfindet. Dieser Aktionsrahmen ergibt sich aus dem politischen System eines Staates. Da Unternehmensverbände als kollektive Akteure selbst Teil jenes politischen Systems sind, erscheint daher logisch, dass auch sie durch das politische System definiert werden

- und zwar sowohl in ihrer Organisationsstruktur als auch in ihrer Handlungsweise (Lobbying). Denn die Handlungsweise wird primär durch die Ausformung der potenziellen Handlungsfelder bestimmt, wobei sich diese Ausformung wiederum ebenfalls aus dem politischen System ergibt.

Der zentrale Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist daher der Einfluss des politischen Systems auf die Organisationsstruktur der Unternehmensverbände und auf die Handlungsfelder des verbandlichen Lobbyings. Das politische System wird hierbei

(in Anlehnung an die Definition von Nohlen/Thibaut) im Kontext der drei Dimensionen

des Politischen definiert. Demnach soll das „politische System“ einerseits verstanden werden als die sich konkret darstellende Form (polity), also die Verfassung mit ihren zentralen Prinzipien und der Organisation von politischen und administrativen Institutionen. Andererseits soll als Teil des „politischen Systems“ auch der Prozess (politics) Beachtung finden, also der Ablauf von Willensbildung bzw. Interessenvermittlung und damit zugleich die „politische Kultur“. Die Dimension des Inhalts (policy) soll hingegen in den Hintergrund treten und für die Definition des „politischen Systems“, wie es in dieser Arbeit verstanden wird, keine Rolle spielen. Eine genaue Einschränkung in diesem Bereich erscheint deswegen nicht geboten, weil sich das Handeln von Unternehmensverbänden zwar weitgehend auf das Politikfeld Wirtschaft bezieht, sich aber nicht zwangsläufig darauf begrenzen muss.

Damit der tatsächliche Einfluss des politischen Systems auf die Organisationsstruktur und Handlungsfelder deutlich wird, ist es sinnvoll, zwei Staaten mit verschiedenen politischen Systemen miteinander zu vergleichen. Daher sollen in dieser Arbeit die USA und Deutschland gegenübergestellt werden. Diese beiden Staaten bieten sich deshalb an, weil sie grundlegende Unterschiede im politischen System offenbaren - etwa die unterschiedlichen Demokratieformen „präsidentielle“ und „parlamentarische“ Demokratie oder das unterschiedliche Wahlsystem (anders als etwa Großbritannien). Diese Arbeit mit dem Thema „Unternehmensverbände in den USA und Deutschland - Organisationsstrukturen und Handlungsfelder im Vergleich“ wird also von folgender Fragestellung bestimmt:

„Wie beeinflusst das politische System die Organisationsstrukturen und

Handlungsfelder der Unternehmensverbände in den USA und Deutschland?“6

Um die Bedeutung und Funktion von Interessengruppen in einem politischen System und in einer Gesellschaft erklären und einordnen zu können, hat die politikwissenschaftliche Verbändeforschung verschiedene Theorien entwickelt. Zunächst werden in dieser Arbeit daher die wichtigsten theoretischen Grundlagen dargestellt (zweites Kapitel). Anschließend sollen die politischen Systeme der USA und Deutschland auf Basis dieser Theorien untersucht und einem Typus - so weit als möglich - zugeordnet werden. Hierdurch lassen sich bereits wichtige Erkenntnisse gewinnen und es kann für die weitere Arbeit ein Erwartungshorizont formuliert werden. Im Anschluss an den theoretischen Teil dieser Arbeit wird der Blick im dritten Kapitel auf die historische Entwicklung der Unternehmensverbände in den untersuchten Staaten gerichtet. Die Betrachtung der Entstehungsgeschichte erleichtert nicht nur das Verständnis der gegenwärtigen Situation der Unternehmensverbände, sondern hilft zudem, die Zuordnung der politischen Systeme zu einer der aus dem vorangegangen Kapitel bekannten Theorien noch einmal nachzuvollziehen. Das vierte Kapitel zentriert den Blick dann auf die Typologie der Unternehmensverbände. Zunächst wird der im Theorieteil formulierte Erwartungshorizont bezüglich der Organisationsstruktur überprüft. Anschließend werden die wichtigsten Unternehmensverbände dargestellt.

Um die potenziellen Handlungsfelder der Unternehmensverbände identifizieren zu können, werden im nun folgenden fünften Kapitel die politischen Systeme der USA und Deutschlands7 überblicksweise dargestellt. Die drei Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative werden dabei nach möglichen Einflussadressaten untersucht. Hierbei wird deutlich, wie sich die verschiedenen Bereiche in der Relevanz für Unternehmensverbände als Handlungsfeld zueinander unterscheiden. Gleichzeitig lassen sich dabei Unterschiede zwischen beiden untersuchten politischen Systemen identifizieren. Nachdem nun die Handlungsfelder betrachtet und nach Relevanz für Lobbyingaktivität bewertet wurden, soll der Blick auf die Praxis des Lobbyings selbst gerichtet werden. Denn es erscheint logisch, dass, wenn das politische System nicht nur die Organisationsstruktur der Unternehmensverbände beeinflusst sowie die potenziellen Handlungsfelder bestimmt, es auch Einfluss auf das Lobbying selbst haben wird. In diesem Kapitel werden also die verschiedenen Einflusstechniken und Lobbyingmethoden untersucht.

Abgeschlossen wird diese Arbeit mit einer Schlussbetrachtung, in der alle Ergebnisse noch einmal zusammengetragen und bewertet werden.

2. Theorien der Verbändeforschung

2.1 Pluralismus

Die theoretische Grundlage für die Legitimation von Interessenverbänden8 im politischen System bildet das Pluralismustheorem. Dieses betont die Existenz und das Wirken von Interessengruppen als ein „notwendiges Element im demokratischen Willensbildungsprozess“.9 Es wird davon ausgegangen, dass in einer staatlichen Gemeinschaft eine Vielzahl von Gruppen gleichberechtigt neben- und miteinander existieren, agieren, konkurrieren oder auch kooperieren sollen, wobei grundrechtliche Garantien die allgemein anerkannten Spielregeln definieren. Für ein pluralistisches Idealmodell ist Demokratie dergestalt zu verstehen, dass im Wettbewerb zueinander stehende Gruppen wie auf einem Marktplatz versuchen, ihre Interessen zu verwirklichen („bargaining“). Die institutionelle Ebene des Staates sowie die Regierung nehmen dabei (idealtypisch) eine neutrale Position ein.

Die Pluralismustheorie bietet nun Zweierlei: „einerseits eine deskriptive Analyse der Interessen- und Organisationsvielfalt in der politischen Willensbildung und andererseits (eine) normative Theorie, die behauptet, eine (…) Vielfalt frei organisierter Interessen sei eines der herausragenden Kennzeichen moderner Demokratie.“10 Die Pluralismustheorie ist daher als ein quasi Gegenmodell zu traditionellen monistischen Staatstheorien zu verstehen. Als ein Vorläufer der zeitgenössischen Pluralismustheorie gelten dabei die „Federalist Papers“11, welche 1787/88 im Rahmen der Debatten um die amerikanische Unionsverfassung in verschiedenen New Yorker Zeitungen erschienen waren. Die Autoren Alexander Hamilton, James Madison und John Jay beabsichtigten mit diesen 85 Artikeln dem Verfassungsentwurf des Konvents von Philadelphia von 1787 bei der Ratifikation in New York eine Mehrheit zu verschaffen. Die „Federalist Papers“ begründen die liberale Repräsentativdemokratie und sind der maßgebliche Verfassungskommentar zur amerikanischen Verfassung.

Der „Federalist No. 10“ von James Madison ist dabei eine der frühesten und wichtigsten Abhandlungen der klassischen politologischen Pluralismustheorie.12 Madison wendet sich hier gegen ein Rousseausches Demokratieverständnis, welchem die Kritiker der Verfassung nahe standen. Für Jean-Jacques Rousseau gilt die Volksversammlungsherrschaft, welche sich an Sparta und der römischen Republik orientiert, als Ideal. Da sich seine Vorstellung von Demokratie auf eine homogene politische Gruppe ausrichtet, lehnt er „Parteiungen“ oder „Teilgesellschaften“ ab: „(…) wenn Parteiungen entstehen, Teilvereinigungen auf Kosten der großen, wird der Wille jeder dieser Vereinigungen ein allgemeiner hinsichtlich seiner Glieder und ein besonderer hinsichtlich des Staates; man kann sagen, dass es nicht mehr so viele Stimmen gibt wie Menschen, sondern nur noch so viele wie Vereinigungen“.13 Ein Gemeinwille sei nur zu verwirklichen, wenn es im Staat „keine Teilgesellschaften gibt und (…) jeder Bürger nur seine eigene Stimme vertritt.“

Auch James Madison erkennt Probleme, welche sich aus Gruppenbildungen („Faktionen“) ergeben könnten. Für ihn ist eine Faktion eine Gruppe von Bürgern, „whether amounting to a majority or a minority of the whole, who are united and actuated by some common impulse of passion, or of interest, adversed to the rights of other citizens, or to the permanent and aggregate interests of the community.”14 Gruppenbildung sei ein natürlicher Prozess und in der Natur des Menschen begründet. Die Gefahr läge nun darin, dass bei einer freien Interessenvertretung eine sich möglicherweise langfristig manifestierende Mehrheit eine Minderheit dauerhaft unterdrücken könnte. Für Madison ist eine solche Mehrheitstyrannei aber nicht durch eine Homogenisierung (nach Rousseau) zu verhindern, da dies einer Abschaffung der Freiheit gleichbedeutend sei, sondern durch eine Stärkung der Pluralität der Gruppen: „take in a greater variety of parties and interests (and) you make it less probable that a majority of the whole will have a common motive to invade the rights of other citizens.”

Zudem solle durch sich gegenseitig kontrollierende Regierungsinstitutionen sowie durch großflächige politische Gemeinschaften - welche durch Repräsentation demokratisch regiert werden könnten - die Bildung unerwünschter Mehrheitsfaktionen verhindert werden. In einem größeren Gebiet mit einer naturgemäß größeren Vielfalt von Interessen würde es weniger wahrscheinlich sein, dass sich eine Mehrheit des Ganzen findet, welche die Rechte anderer Bürger verletzen könnte. Madisons Kernthese liegt nun darin, dass er einen unbedingten Zusammenhang von (sozialer) Homogenität und funktionierender Demokratie negiert.15

Obschon Madisons Ansatz immer wieder Kritik ausgesetzt wurde, ist sein Einfluss auf die Entwicklung der pluralistischen Theorie unbestritten.16 Letztlich setzte sich das liberale Modell durch und prägt bis heute die politische Wirklichkeit in den USA. Unter Einbeziehung einer langen Verfassungskontinuität ergibt sich hieraus eine historisch gewachsene Akzeptanz der Existenz von Interessengruppen und deren lobbyistischen Wirkens.

Dem „Federalist No.10“ in der Bedeutung für die Ausformung der pluralistischen Theorie gleichzusetzen ist das Werk „Über die Demokratie in Amerika“ des Franzosen Alexis de Tocqueville. Hat Madisons Schrift einen normativen Charakter, so schreibt de Tocqueville analytisch-deskriptiv und begründet damit zugleich die vergleichende politische Wissenschaft.17

Tocqueville betrachtet primär den partizipatorischen Aspekt und kommt zu dem Schluss, dass die freie Bildung und Aktivität von autonomen Vereinigungen neben weiteren Punkten (Pressefreiheit, unabhängige Gerichtsbarkeit etc.) allen Bürgern die Möglichkeit offeriere, auch abseits von Wahlen am politischen Prozess zu partizipieren und Einfluss auf selbigen auszuüben. Hiervon profitiere letztlich nicht nur das Individuum. Sondern durch eine mögliche Mehrfachmitgliedschaft in verschiedenen Gruppen, einer Konkurrenz der einzelnen Gruppen untereinander und durch einen sich ergebenen Zwang zu Kompromissen befriede und stabilisiere der Pluralismus das gesamte Gemeinwesen.18

In der Nachfolge zu Tocqueville prägte die „moderne“ (amerikanische) Pluralismustheorie besonders der Politikwissenschaftler Arthur Bentley.19 In seiner Studie „The Process of Government“ von 1908 identifiziert Bentley Politik als interessengeleitetes Handeln von Gruppen. Für ihn sind alle politischen Phänomene gleichzeitig Gruppenphänomene.

Gruppen definieren sich dabei allein durch die Interessen, welche sich in den Gruppenaktivitäten manifestieren. Diese Aktivitäten sind für Bentley alleiniger Maßstab für das Interesse einer Gruppe. Wie sich die Gruppe selbst erklärt, wie sie ihr Handeln begründet, spiele keine Rolle. Hieraus ergibt sich der Hauptkritikpunkt an Bentleys Arbeit, da so die Begriffe Gruppe, Interesse und Verhalten deckungsgleich werden. Durch diese Gleichsetzung kann eine Interpretation von Gruppenverhalten nur subjektiv erfolgen, da das Verhalten immer ambivalent ist und somit unterschiedlich - je nach Standpunkt - gedeutet werden kann.20

Bentley dehnt den Begriff „interest group“ soweit aus, dass nicht nur Verbände, sondern alle Gruppen einschließlich staatlicher Institutionen damit erfasst werden. Da sich jene staatlichen Institutionen prinzipiell wie private Gruppen verhalten würden und somit keine übergeordnete Autorität existiert, kann es ein Gemeinwohl nicht geben, weil dieses letztlich auch nur das Interesse einer bestimmten Gruppe sei, welcher es gelingt, ihrem eigenen Interesse den Anschein einer gesamtgesellschaftlichen Forderung zu verleihen. Der Entscheidungsprozess im Staat lässt sich nach Bentley folglich weniger auf die Beziehungen der einzelnen Staatsgewalten zurückführen, sondern vielmehr auf die Einwirkung der Interessengruppen.

Dass Bentley den Interessengruppen in seiner Studie ein solch großes Gewicht beimisst und gleichzeitig die Begriffe Gruppe, Interesse und Verhalten als austauschbar erfasst, ließ seiner Arbeit in den folgenden Jahrzehnten nur wenig Aufmerksamkeit zu Teil werden.21 Dennoch ist sein Einfluss auf die pluralistische Theorie unbestreitbar, da es einer seiner Schüler war, der Bentleys Arbeit aufgriff und weiterentwickelte:

David Truman differenziert in seinem Buch „The Governmental Process“ von 1951 zunächst Bentleys Gruppenbegriff. Er unterscheidet nach „kategorialen“ und „sozialen“ Gruppen sowie nach Interessengruppen. Kategoriale Gruppen sind nach Truman Zufallsgruppen ohne politischen Belang (z.B. Linkshänder). Auf der nächsten Stufe stehen die sozialen Gruppen, welche einen Personenkreis umfassen, der sich durch gleiche Merkmale auszeichnet und miteinander in Interaktion tritt - etwa Raucher, welche sich Zwecks gemeinschaftlichen Zigarrenrauchens regelmäßig treffen. Sie bilden dann eine Gruppe im klassischen Sinn. Zu einer Interessengruppe werden diese Raucher nach Truman dann, wenn sie sich etwa mit ihren eigenen Vorstellungen zu einem möglichen Rauchverbot in der Öffentlichkeit an politische Institutionen wenden. Nur diese Erscheinungsform sei bei der Betrachtung des politischen Prozesses von Relevanz.

Ähnlich wie bei Bentley sieht auch Truman die Begriffe „Interesse“ und „Gruppe“ nah beieinander. Das Interesse einer Gruppe würde sich allerdings in ihrem nicht-politischen Verhalten manifestieren (z.B. Gewinnstreben von Unternehmern). Erst wenn eine Gruppe der Auffassung sei, sie kann ihre nicht-politischen Ziele ohne Hilfe nicht verwirklichen, formuliert sie politische Ziele. Durch diese Betonung der nicht- politischen Aktivität einer Gruppe wird der „subjektive“ Interessenbegriff von Arthur Bentley zwar nicht verworfen, doch ist Truman daran gelegen, das Identifizieren eines Gruppeninteresses nicht komplett ins Belieben des Betrachters zu stellen.22

Im Gegensatz zu Bentley eruiert Truman stärker den Entstehungsprozess von Interessengruppen. Er entwickelt eine Theorie, nach der Interessengruppen immer als Reaktion auf gesellschaftliche oder wirtschaftliche Krisen entstehen. Gerade der technologische Fortschritt mit einer zunehmenden Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft befördere eine immer größere Anzahl verschiedener Gruppen: „(…) the trend toward an increasing diversity of groups (…) is a reflection of the characteristics and needs (…) of a complex society.“23 Veränderungen innerhalb der Gesellschaft stören die - theoretisch vorstellbare - Balance im Gruppengefüge. Entlang sich verschiebender Konfliktlinien (cleavages) ändern bestehende Gruppen ihre Strategie oder lösen sich auf. Mit neu entstehenden Gruppen versuche eine Gesellschaft neuartigen Bedürfnissen gerecht zu werden und das Gruppengefüge insgesamt zu stabilisieren. Damit wird die Pluralität und Diversität der vorhandenen Gruppen auch gleichzeitig zu einem Indikator für die Komplexität, Modernität und Stabilität einer Gesellschaft: „With an increase in specialization and with the continual frustration of established expectations consequent upon rapid changes in the related techniques, the proliferation of associations is inescapable. So closely do these developments follow, in fact, that the rate of association formation may serve as an index of the stability of a society, and their number may be used as an index of its complexity.”24

Als weitere wichtige Erweiterung zu Bentleys Arbeit ordnet Truman staatlichen Institutionen eine Sonderstellung zu und betrachtet sie dem Wesen nach nicht wie private Gruppen. Er erkennt ein Unterordnungsverhältnis dahin gehend, dass sich private Interessengruppen an durch staatliche Institutionen gemachte Regeln, Erwartungen sowie Praktiken halten müssen und auch auf diese angewiesen sind.25 Da Interessengruppen bestimmte Zugangspunkte (points of access) zu beachten hätten, zwingt der Staat den Gruppen allgemeine Verhaltensweisen auf. Diese divergierende Betrachtungsweise der staatlichen Institutionen ist gleichzeitig auch einer der bedeutendsten Unterschiede zwischen beiden Arbeiten. Bentleys Ansatz ist somit der klassischen Gruppentheorie zuzuordnen, wobei Trumans Arbeit demnach der Pluralismustheorie zugerechnet werden darf. Denn „anders als in der Gruppentheorie wird hier zwischen Interessenverbänden und politischen Institutionen unterschieden.“26

Insgesamt stellt Trumans Arbeit - trotz aller Kritik etwa von Elitetheoretikern - das repräsentative Werk zur pluralistischen Theorie im Amerika des 20. Jahrhunderts dar.27 Truman macht die wichtigsten Positionen jener Theorie deutlich und repräsentiert die pluralistische Grundüberzeugung, dass stets ein Interessengleichgewicht aller Gruppen erreichbar sei. Dieses werde gewährleistet durch eine anhaltende Neubildung oder Neuorientierung von Gruppen als Reaktion auf sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen und darüber hinaus befördert durch eine mögliche Mehrfachmitgliedschaft (ähnlich Tocqueville) einzelner Personen in verschiedenen Gruppen, wodurch verschiedene Interessen gegeneinander abzuwägen seien. Truman ermittelt des Weiteren auch „potenzielle“ Gruppen, welche sich real formieren würden, wenn eine soziale Gruppe sich in ihrem Interesse beeinträchtigt sehe. Jene potenziellen Gruppen - welche auch Formen von Massenprotest einschließen - sind daher von bestehenden Interessengruppen (und der Regierung) zu berücksichtigen.28

2.2 Neopluralismus

Die in Punkt 2.1 dargestellte Theorie des Pluralismus lässt sich auch als „amerikanischer“ Pluralismus bezeichnen, welcher von einem „europäischen“ Pluralismus abgegrenzt werden kann.29 Beide entstanden und entwickelten sich unter verschiedenen Bedingungen. Der amerikanische Pluralismus wurde nicht aus der Überwindungsphase einer feudalistischen oder gar autoritären Vergangenheit konzipiert, sondern primär aus einem klassischen Individualliberalismus, welcher darüber hinaus nie mit einer starken sozialistischen Arbeiterbewegung konfrontiert wurde.30 Demgegenüber entwickelte sich der europäische Pluralismus vor dem Hintergrund eines Wandels in der Staat-Gesellschaftsbeziehung. Neu entstehende Parlamente und die Erosion ständischer Strukturen forderten eine Neulegitimierung staatlicher Tätigkeit. Weiterhin prägte besonders die Erfahrung mit totalitären Systemen den europäischen Pluralismus.31

Die am umfassendsten begründete Konzeption der im Nachkriegsdeutschland entwickelten Pluralismustheorien ist die Theorie des „Neopluralismus“.32 Der Neopluralismus sieht im Gegensatz zum Pluralismus der amerikanischen Variante die Gefahr, dass es einzelnen Gruppen gelingen könnte, ihren Einfluss auf politische Institutionen auf ein solches Niveau zu erhöhen, von welchem es ihnen gelingen könnte, den staatlichen Entscheidungsprozess de facto zu diktieren. Obwohl spätere amerikanische Pluralisten wie Robert Dahl oder Earl Latham die von Bentley und Truman aufgestellte These - steter Interessenausgleich wird durch ständigen Gruppenwettbewerb erreicht - zwar dahingehend kritisierten, dass nicht alle Interessen gleichermaßen organisierbar und umsetzbar seien, halten sie die staatliche Souveränität allerdings für nicht gefährdet.33 Die Bezeichnung „Neopluralist“ trifft daher auf sie nicht zu. Als „Neopluralisten“ gelten all jene Theoretiker, welche „ihre Pluralismustheorie zur Überwindung und Verhinderung autoritärer und totalitärer Praxis als demokratische Staatstheorie konzipieren.“34 Der Terminus „Neopluralismus“ verweist folglich nicht nur auf eine wissenschaftliche Konzeption, sondern bezieht sich auch auf eine politische Grundüberzeugung. Sowohl Konzeption als auch Grundüberzeugung begreifen den Totalitarismus als diametral zum eigenen Standpunkt.

Als Begründer der Neopluralismustheorie gilt der deutsche Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel. Sein Konzept setzt sich aus mehreren, den verschiedenen Entwicklungsphasen entsprechenden Vorträgen und Abhandlungen zusammen, welche Fraenkel in dem Sammelband „Deutschland und die westlichen Demokratien“35 veröffentlichte. Die Bezeichnung „Neopluralismus“ verwendet er, um seine Theorie von dem in Deutschland in Verruf geratenen Begriff „Pluralismus“ zu lösen. Absetzen will sich Fraenkel einerseits von dem englischen Politikwissenschaftler Harold Joseph Laski, welcher in seiner Lehre von der „Pluralität der Souveränitäten und Loyalitäten“ gefolgert hatte, dass der Staat nicht nur seine Souveränität mit den Verbänden teilen müsse, sondern sich jeder einzelne Bürger im Konfliktfall auch für eine Souveränität zu entscheiden habe. In letzter Konsequenz führe dies zur Aufhebung des Staates und zum Bürgerkrieg. Laski sah die wahre pluralistische Gesellschaft damit erst in einer klassenlosen Gesellschaft verwirklicht, in welcher „der Staat“ abgeschafft sei.36

Besonders absetzen will sich Fraenkel aber von dem deutschen Theoretiker Carl Schmitt. Dieser benutzte eben jene marxistische Pluralismustheorie von Laski um zu zeigen, dass es gerade der Pluralismus sei, welcher die Einheit der Weimarer Republik gefährde und sie zum Spielball eines Kartells von Gruppen und Verbänden machen würde. Mit erstarken des Nationalsozialismus wurde der Totalitarismus dann auch als Ablehnung und Antwort auf einen vermeintlich einheitszerstörerischen Pluralismus verstanden.37 Hier setzt Fraenkel an: „Ist es angesichts der Tatsache, dass die Hinwendung zum totalen Staat aus der Negation des Pluralismus gerechtfertigt worden ist, nicht geboten, durch eine Negation der Negation zu versuchen, den Totalitarismus durch einen Neo-Pluralismus zu überwinden?“38 Fraenkel war daran gelegen, die junge, zweite deutsche Demokratie auf gefestigte theoretische Grundlagen zu stellen und ihre Funktionsfähigkeit zu verbessern.39 Sein pluralistisches Konzept wurde dabei in nicht zu unterschätzender Weise auch und besonders durch seine eigene Biographie geprägt.

Ernst Fraenkel wurde 1898 in Köln als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Nach einer freiwilligen Weltkriegsteilnahme zwischen 1916 und 1918 studierte er ab 1919 Rechtswissenschaft und Geschichte. Fraenkel promovierte 1923 mit einer Arbeit zum kollektiven Arbeitsrecht bei Hugo Sinzheimer. Politisch ebenfalls der Arbeiterschaft zuorientiert, war Fraenkel seit 1921 Mitglied der SPD. Ferner arbeitete er zunächst nebenamtlich in der Arbeiterbildung der Freien Gewerkschaften und kurz darauf als hauptamtlicher Dozent an der neu gebildeten Gewerkschaftsschule des Deutschen Metallarbeiterverbandes. Von 1926 bis 1938 war er als Rechtsanwalt am Kammergericht zu Berlin tätig. Bereits in der Phase der Präsidialregime hatte sich Fraenkel in der Endphase der Weimarer Republik in mehreren Publikationen für den Erhalt der Weimarer Verfassung eingesetzt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme konnte er durch seine freiwillige Kriegsteilnahme seine Zulassung als Anwalt zwar zunächst behalten. Am 20. September 1938 musste er allerdings aus Deutschland fliehen und immigrierte in die USA. Hier studierte er von 1939 bis 1941 amerikanisches Recht und trat 1944 als Berater in den amerikanischen Regierungsdienst ein. Nach dem Krieg kehrte er als amerikanischer Staatsbürger nach Deutschland zurück und lehrte an der Deutschen Hochschule für Politik bis zu seiner Emeritierung 1967.

Schon während der Weimarer Republik hatte Fraenkel - nach eigenem Bekenntnis - die wichtigsten Elemente seiner späteren Arbeit entwickelt. Diese verdichtete er nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1951 zu seiner Konzeption des Neopluralismus. Der Zerfall der Weimarer Republik, die Wirklichkeit des faschistischen sowie des stalinistischen Totalitarismus und gleichzeitig seine Erfahrungen mit der (gruppenpluralistisch geprägten) amerikanischen Demokratie sind dabei jene Einflüsse, welche seine demokratietheoretischen Überlegungen bestimmen. Fraenkel konstruiert seine Theorie dabei nicht visionär, sondern gibt ihr aus der analytischen Beobachtung real existierender westlicher Demokratien einen normativ-empirischen Charakter.40 Mit „westlichen“ Demokratien meint Fraenkel dabei all jene Staaten, welche sich aus einer quasi gemeinschaftlich entwickelten Ideengeschichte demokratischen Merkmalen verpflichten, wie dem Rechtsstaat oder der Gewaltenteilung. Darüber hinaus erfordere ein Bekenntnis zur „westlichen“ Demokratie in gleicher Weise „die Anerkennung der Befugnisse der Bürger, ihre Interessen frei und ungehindert vertreten zu können, wie die Anerkennung der Befugnis der Gesamtheit, den Primat des Gemeinwohls gegenüber allen Interessengruppen durchzusetzen.“41

Das Gemeinwohl einer pluralistischen Demokratie kann dabei kein Gemeinwohl a priori sein. Jenes Gemeinwohl ist vielmehr das Ergebnis konkurrierender gesellschaftlicher Gruppen und somit nur a posteriori zu finden, womit es prinzipiell anfechtbar und diskussionswürdig bleibt: „Sie (die pluralistische Demokratie) hält es weder für wünschenswert noch für möglich, dass in einem freiheitlichen Staatswesen ein einheitlicher Gemeinwille besteht, der die divergierenden Gruppenwillen restlos in sich aufsaugt.“42 Das Ergebnis des Tauziehens von divergierenden Interessen kann aber nur dann als verbindlich angesehen werden, wenn „die Auseinandersetzungen unter Einhaltung der Regeln eines fair play geführt werden und die Ergebnisse sich im Rahmen der Mindestanforderungen der sozialen Gerechtigkeit bewegen.“43 Fraenkel spricht in diesem Zusammenhang von einem notwendigen „nicht-kontroversen“ Sektor des gesellschaftlichen Lebens. Damit eine Destabilisierung des politischen Systems verhindert wird, sind Grundprinzipien von universeller Gültigkeit notwendig, welche sowohl allgemein anerkannte Werte (des menschlichen Zusammenlebens) widerspiegeln, als auch Regeln zur gesellschaftlichen Konfliktbefriedung enthalten. Der Staat muss demnach ein Rechtsstaat sein und fungiert als Schlichtungsstelle44 um das Gleichgewicht des Systems zu erhalten.45

Des Weiteren finde in einem neopluralistischen Staat eine demokratische Partizipation des Bürgers nicht nur turnusgemäß am Wahltag statt, sondern auch innerhalb der Wahlperiode durch die Mitwirkung in Interessenorganisationen (oder Parteien), welche notwendiger Weise selbst demokratisch strukturiert sein müssen. Der Pluralismus ermögliche den Bürgern „mit gutem Gewissen (…) durch die Errichtung und den Ausbau von Interessengruppen einen aktiven Anteil an der Ausgestaltung derjenigen öffentlichen Angelegenheiten zu nehmen, die sie am unmittelbarsten berühren und deshalb am intensivsten beschäftigen“.46 Gleichzeitig stifte nach Fraenkel die Gruppe eine gewisse soziale Identität und schütze vor Vereinsamung: „Durch aktive Mitarbeit

(…) soll das Gefühl der passiven Hilflosigkeit überwunden werden, das den einzelnen befallen muss, wenn er keinen Ausweg aus dem Prozess der Vermassung sieht.“47 Die Existenz von verschiedenen Parteien und Interessenorganisationen hat also eine wichtige Funktion im pluralistischen Staat, welchen Fraenkel insgesamt als „autonomheterogenen, pluralistischen Rechtsstaat“ klassifiziert und ihn als Idealtypus einer „heteronom-homogenen, totalitären Diktatur“ entgegensetzt.

Resümiert ist die vielfältige Existenz von Interessengruppen und ihr Wirken für Fraenkel also legitim. Gleichwohl sind allgemein anerkannte Spielregeln, eine Gemeinwohlbeachtung der Akteure („Gebot des Gemeinwohls“48 ) und ein demokratischer Grundkonsens unabdingbar, denn „der pluralistische Staat ist ein moralisches Experiment, das jeden Tag von neuem gewagt werden muss.“49

Fraenkel betrachtet in seiner Theorie des Neopluralismus weniger die sich ergebenden Folgen, noch gibt er Antworten auf die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass die Akteure ein Gemeinwohlgebot auch befolgen. Aber er leistet eine normative Rechtfertigung für den Pluralismus gegenüber dem Prinzip des Monismus. Insgesamt ist seine Theorie jedoch fragmentarisch geblieben - eine von ihm angekündigte, weiter umfassendere Studie, in welche Stellungnahmen und Anregungen seiner Kritiker einfließen sollten, konnte Fraenkel nicht mehr verwirklichen. Die studentischen Unruhen in den 60er Jahren - in welchen er totalitäre Tendenzen zu erkennen glaubte - ließen ihn für eine solche Arbeit keine Ruhe und Kraft mehr finden.50

2.3 Pluralismuskritik

Die Kritik an der Theorie des Pluralismus ist vielfältig und weit gefächert.51 Subsumiert bestreiten alle Kritiker das im Pluralismus enthaltene Gleichgewichtskonzept. Ein Interessengleichgewicht als Ergebnis eines Kräfteparallelogramms sei nicht (oder nur bedingt) herzustellen, da sich das Verhältnis der involvierten Kräfte zueinander eindeutig auf privilegierte Schichten verschiebe. Begründet wird diese Kritik mit der Existenz von schwer- oder nichtorganisierbaren Randgruppen sowie gewissen Allgemeininteressen, welchen nicht in gleicher Weise Berücksichtigung garantiert werden könnte.52

Eine Richtung der Kritik am amerikanischen Pluralismus ist die „Theorie der Machtelite“ nach Charles Wright Mills von 1956. Mills bestreitet, dass die pluralistische Grundvoraussetzung - gleicher Zugang für alle - im politischen System der USA verwirklicht sei. Stattdessen sei die wirtschaftliche, politische und militärische Macht nur einer kleinen Elite zugänglich, welche sich besonders durch die gleiche soziale Herkunft kennzeichne. Außerdem hätten sich etablierte Interessenverbände in einem solchen Maß etabliert, dass sich das System unzugänglich für weitere Interessen erweisen würde. Dieses sowie die erwähnte ungleiche Organisierbarkeit der Interessen führe dazu, dass nicht eine Mehrheit eine Minderheit, sondern umgekehrt eine Minderheit (die Elite) die desorganisierte Mehrheit kontrolliere. Ein wirklicher Interessenwettstreit werde somit verhindert, weshalb sich die Theorie des Pluralismus als ungeeignet zur Abbildung der amerikanischen Gesellschaft erweise.

Dem widersprechend argumentiert Robert Dahl. In seiner viel beachteten Studie „Who Governs“ (1961) über die Lokalpolitik in der Stadt New Haven folgert er aus seinen Ergebnissen, dass zwar ungleiche Voraussetzungen für die Partizipation am politischen Prozess vorhanden sind - ein Umstand, welcher ihn von klassischen Pluralisten unterscheidet. Dennoch seien diese ungleichen Voraussetzungen aber nicht aggregierbar und politische Macht somit nicht monopolisierbar. Da Robert Dahl seine Untersuchungsergebnisse allerdings ohne Abstriche von der lokalen auf die nationale Ebene übertrug, provozierte er methodologische Kritik an seiner Arbeit dahingehend, dass aus einer Machtverteilung im lokalen Bereich nicht zwangsläufig auf eine Machtverteilung auch im nationalen Bereich zu schließen sei.53

Eine weitere Strömung der Pluralismuskritik bildet die „Neomarxistische-Theorie“. Bedeutend für die USA ist dabei im Besonderen die damit assoziierte „Theorie des militärisch-industriellen Komplexes“. Die Vertreter jener Theorie erkannten Ende der 1960er Jahre ein Ungleichgewicht im System der Interessenvermittlung zu Gunsten der Unternehmer. Vor allem jene seien es, welche den Vietnam-Krieg befürworteten und ihn gegen den Willen einer überwältigenden Mehrheit der amerikanischen Gesellschaft gar weiter forcierten. Durch mehrere Fallstudien sollte eine überwältigende Dominanz von Vertretern eines militärisch-industriellen Komplexes im politischen Entscheidungssystem nachgewiesen werden. Obschon wirkliche empirische Beweise nie gefunden werden konnten, wurde eine Sonderstellung der amerikanischen Unternehmensverbände aber auch von Befürwortern der pluralistischen Theorie anerkannt. Robert Dahl und Earl Latham konstatierten etwa, dass die Vorstellung von stetigem Interessenausgleich nicht aufrechterhalten werden könne. Dennoch sei die Souveränität des Staates dadurch aber nicht bedroht.54

Die heutige amerikanische Pluralismustheorie teilt der Politikwissenschaftler William Kelso in drei Pluralismustypen auf. Nach Kelso sei zunächst der „Laisser-faire- Pluralismus“ der ursprüngliche Typ und der eigentliche Gegenstand der Pluralismuskritik. Das Ziel ist hier ein soziales Gleichgewicht als Ergebnis eines freien Spiels von sich wechselseitig kontrollierenden gesellschaftlichen Kräften.55 Der „korporative Pluralismus“ als zweiter Typ56 unterstellt, dass eine Verwirklichung dieses Ziels allerdings nicht erreicht werden kann, da ein freies Kräftespiel vielmehr zu einem Oligopol oder gar Monopol starker Gruppen führe, welche wiederum mit staatlichen Behörden enge Kooperationen eingehen. Schwache Gruppen seien demnach hochgradig benachteiligt.

Beide Pluralismustypen lehnt Kelso ab. Wenn das freie Kräftespiel von Typ 1 also versage und die Folge von Typ 2 eine Gefährdung grundlegender Prämissen des Pluralismus (Chancengleichheit etc.) sei, so verlange es nach einem weiteren Typus. Kelso versucht daher beide Typen durch sein Konzept des „öffentlichen Pluralismus“ zu überwinden. Kern seines Modells ist ein staatlich reguliertes Verbands- und Wettbewerbssystem.57 Die Regierung solle dabei als ein quasi Verteidiger bzw. Organisator von nur schlecht organisierbaren Interessen fungieren, sie solle dafür Sorge tragen, dass die Konkurrenzfähigkeit aller Interessengruppen untereinander gewährleistet bleibe und letztlich bei Interessenkonflikten auch selbst Stellung beziehen. Der „öffentliche Pluralismus“ ist daher in gewisser Weise das amerikanische Pendant zum deutschen Neopluralismus.58

Jener Neopluralismus, mit seiner großen Bedeutung für die pluralistische Theorie im Nachkriegsdeutschland, hatte es nicht leicht theoretische und praktische Anerkennung zu finden.59 Die bundesdeutsche politische Kultur war in der Anfangszeit weitgehend antipluralistisch eingestellt, wie Ernst Fraenkel nicht nur selbst feststellt, sondern mit seiner Begriffsfindung „Neo“-Pluralismus auch Rechnung trägt. Zunächst war es in den 1950er und 1960er Jahren besonders die „rechte“ Pluralismuskritik, welche durchaus als „Hauptadressat“ von Fraenkels Arbeiten bezeichnet werden kann. Diese forderte einen starken Staat und stand noch in der Tradition von Carl Schmitt. Moderne neokonservative Kritiker hingegen erkennen den Pluralismus als Strukturprinzip westlicher Industriegesellschaften zwar an, sehen aber die Gefahr einer Handlungsunfähigkeit des Staates gegenüber einem „ungezügelten“ Gruppenpluralismus.60 Bekannte Schlagworte wie „Herrschaft der Verbände“ entstammen dieser Denkrichtung.

Nachdem sich der Pluralismus gegen Ende der 60er Jahre aber als geeignete Theorie in Deutschland durchzusetzen begann, sah er sich bald einer „linken“ Kritik ausgesetzt.61 Diese sah (in unterschiedlicher Deutlichkeit) im Pluralismus nichts weniger, als den Versuch der herrschenden Klasse ihre Herrschaft zu konsolidieren und einen realen Klassenwiderspruch in der spätkapitalistischen Gesellschaft zu verschleiern. Die Kritik reicht dabei von Zweifeln an der analytischen Leistungsfähigkeit der pluralistischen Theorie, über die Aufdeckung von Missverhältnissen zwischen Theorie und politisch- sozialer Wirklichkeit, bis hin zu weiterführenden Konzepten, welche sich an Harold Laski orientieren.62

Zusammenfassend urteilt der deutsche Politikwissenschaftler (und ehemalige Assistent Ernst Fraenkels) Winfried Steffani über die Pluralismuskritik, dass diese zwar sehr wohl ernst zu nehmen sei. Allerdings müsse eine angemessene Auseinandersetzung mit der Pluralismuskritik „stets von der Frage nach deren jeweiliger Triftigkeit ausgehen. Oft genug erweist sich auch Pluralismuskritik als Kritik an einem selbst fabrizierten Konzept: Man entwirft eine Fehlinterpretation, nennt sie Pluralismustheorie, ordnet ihr möglicherweise einen Autorennamen zu und entlarvt die so konstruierte Fehlinterpretation anschließend als Fehlinterpretation.“63 Und der Berliner Politikwissenschaftler Peter Massing stellt fest: „Bei aller Kritik und bei durchaus vorhandenen Defiziten der Theorie, eine überzeugende Alternative zur pluralistischen Demokratie ist bis heute nicht entwickelt worden. Seit Beginn der 90er Jahre erlebt die Pluralismustheorie Fraenkels eine Renaissance ganz in dem Sinne, dass die pluralistische Demokratie in Theorie und Praxis vor allem Arbeitsprogramm ist und bleibt.“64

2.4 Neokorporatismus

Die bisher vorgestellten Konzepte des Pluralismus und des Neopluralismus sind überwiegend einflusstheoretische Modelle, welche im Kern die Beeinflussung des Staates durch die Verbände thematisieren. Doch in der Realität sind statt einer Vielzahl individueller Einflussbeziehungen vermehrt dauerhafte, organisierte Kontakte zwischen Verbänden und staatlichen Akteuren zu beobachten. Als „dritte Welle“ der Verbändeforschung sowie als ein Produkt verschiedener Pluralismuskritiken hat sich daher seit den 1970er Jahren das „Neokorporatismustheorem“ etabliert.65

Beschränkte sich dieses Konzept zunächst nur auf die „tripartistische“ Kooperation von Staat, Unternehmensverbänden und Gewerkschaften, so werden heute als neokorporatistisch im Allgemeinen all jene Verhandlungssysteme beschrieben, in welchen Interessengruppen an der Formulierung und Umsetzung von politischen Programmen beteiligt werden, „und zwar auf der Basis von Interorganisationsnetzwerken zwischen Regierung und politischer Verwaltung einerseits und starken zentralisierten gesellschaftlichen Verbänden andererseits.“.66 Korporatistische Verhandlungssysteme sind dabei horizontal nach Politikfeldern zu differenzieren. Diese wiederum lassen sich vertikal den Begriffen Makro-, Meso- oder Mikrokorporatismus zuordnen. Jene Dreiteilung ist einerseits zu beziehen auf das administrative System eines Landes, wobei dann unterschieden wird zwischen nationalen (Makro), regionalen (Meso) oder kommunalen (Mikro) korporatistischen Arrangements. Geläufiger ist eine solche Unterteilung allerdings im Bezug auf das ökonomische System. Die Makroebene meint dort konzertierte Maßnahmen zur Lösung von nationalen, meist volkswirtschaftlichen Problemen wie Inflation und Arbeitslosigkeit. Als herausragende Beispiele aus Deutschland seien hier die „Konzertierte Aktion“ (1967-1977) und das „Bündnis für Arbeit“ (1998-2002) genannt. Unter Meso- oder auch sektoralem Korporatismus versteht man hingegen korporatistische Arrangements in einzelnen Politikbereichen, etwa der Gesundheitspolitik oder der Rentenpolitik. Der Mikrokorporatismus als „niedrigste“

korporatistische Zusammenarbeit bezeichnet dagegen entsprechende Lösungen auf der Kammer- und Unternehmensebene (z.B. betriebliche Mitbestimmung).

Entscheidend geprägt wurde das neokorporatistische Konzept besonders durch den amerikanischen Politikwissenschaftler Philippe C. Schmitter.67 In seinem Aufsatz „Still the Century of Corporatism“ (1974) unterscheidet Schmitter einerseits zwischen einem „state corporatism“, welcher die häufig in faschistischen Regimen erzwungene und gesteuerte Kooperation von Unternehmern und Gewerkschaften bezeichnet, und einem „societal corporatism“ andererseits. Dieser gesellschaftliche („societal“) Korporatismus68 habe sich ohne Zwang entwickelt und sei eine neue soziopolitische Entwicklungsstufe in liberal-demokratischen Industriestaaten Westeuropas. Hier bilden singuläre Zweckverbände - welche funktional voneinander getrennt, hierarchisch strukturiert und staatlich anerkannt sind sowie nicht miteinander konkurrieren - den Kern im System der Interessenvermittlung. Mit weiteren Arbeiten von Schmitter und Gerhard Lehmbruch zum Thema, entbrannte daran anschließend eine internationale Diskussion über einen „neuen“ Korporatismus, welche zu einer Neuorientierung der (europäischen) politikwissenschaftlichen Verbändeforschung führen sollte: politische Verbändebeteiligung assoziierte man nicht mehr als illegitim, sondern als erwünschte Option sozialer und politischer Steuerung.69

Im Unterschied zum Pluralismus sind die beteiligten Verbände in korporatistischen Verhandlungssystemen aus Sicht des Neokorporatismus keine Repräsentanten von vorab eindeutig definierten Interessen. Vielmehr werden sie als Agenturen der Interessenvermittlung verstanden, denen eine intermediäre Funktion zugeschrieben wird. Die Verbände interagieren dabei zwischen zwei „Umwelten“, welche jeweils einer eigenen „Logik“ (nach Wolfgang Streeck) unterliegen: einerseits der „Lebenswelt“ ihrer Mitglieder (logic of membership) und andererseits den „institutionellen Bedingungen“

(logic of influence).70 Verbände müssen also nicht nur die Interessen ihrer Mitglieder an die Gesellschaft vermitteln, sondern die Mitglieder auch über das realistisch Machbare aufklären sowie getroffene Entscheidungen vertreten und durchsetzen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Mitgliedschaftslogik und Einflusslogik ermöglicht dabei wechselseitige Austauschprozesse und jene Interessenvermittlung, welche über eine Interessenrepräsentation nach pluralistischem Verständnis hinaus reicht.71

Die inkorporierten (Dach-)Verbände, welche ein Repräsentationsmonopol besitzen, können die Interessen ihres jeweiligen Bereiches praktisch „regieren“ und nehmen somit die Form von „privaten Interessenregierungen“ an, welche mit Duldung und Unterstützung des Staates etabliert werden.72 Daher ist anstatt des pluralistischen Ideals einer innerverbandlichen Demokratie - um eine Verfälschung der Mitgliederinteressen durch Verbandsfunktionäre zu verhindern - eine klare Hierarchie unabdingbar.73 Die „privaten Interessenregierungen“ sind als die jeweilige Spitze einer mehrstufigen Pyramide zu verstehen. In dieser Pyramide bilden homogene, von ihrem jeweiligen Partikularinteresse klar definierte Organisationen den Unterbau. Den nächsten Baustein bilden darauf aufbauend umfassende Organisationen höherer Ordnung und so weiter. Betrachtet man dabei die Zusammensetzung der Gremien und Ausschüsse der jeweils höheren Ordnung, so ist eine ansteigende Heterogenität der Mitglieder festzustellen. Organisationen auf höheren Ebenen sind damit weniger als Interessenverband im engeren Sinne, sondern zunehmend als Repräsentationsorgane zu verstehen, in welchen unterschiedliche Interessen abgeglichen und in einen Konsens überführt werden sollen.74

Damit bietet der Neokorporatismus dem Staat eine steuerungspolitische Alternative zu direkter staatlicher Intervention. Der Staat instrumentalisiert quasi die Verbände und nutzt ihr Organisationspotenzial. Heterogene oder gar widersprüchliche Interessen der Verbandsmitglieder werden aggregiert und für den Staat überschaubar. Gleichzeitig erwächst den „inkorporierten“ Verbänden eine Verpflichtung gegenüber dem getroffenen Konsens und dessen Implementierung, womit die anschließende Durchsetzung der Vereinbarungen also nicht nur auf Seiten des Staates liegt. Etwaige rechtliche Grenzen bei der Implementierung von regulativer Politik können so (zumindest partiell) überwunden werden.75 Die Verbände selbst erhalten im Gegenzug einen privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungen. Mögliche Verbote als Steuerungsinstrument des Staates können so leichter von den Verbänden (auch durch Selbstregulierung) verhindert werden. Die inkorporierten Verbände werden Teil von zahlreichen öffentlichen Bereichen - etwa in der Wirtschafts- und Einkommenspolitik, in der Berufsbildung sowie in der Gesundheits-, Sozial- oder Umweltschutzpolitik - und bekommen öffentliche Aufgaben übertragen, wobei die Partikularinteressen der Verbände „mittels eigens dafür geschaffener Institutionen dem Allgemeininteresse untergeordnet werden.“76

Die Beteiligung von Verbänden an korporatistischen Austauschbeziehungen ist prinzipiell immer freiwillig, beruht jedoch primär auf einer materiellen Legitimation. Korporatistische Austauschbeziehungen erfahren nur dann eine längerfristige Stabilität, wenn die Ergebnisse alle Verhandlungspartner zufrieden stellen. Wird keine Einigung erreicht, steht allen Beteiligten eine Exit-Option zur Verfügung. Scheitert ein korporatistisches Arrangement, finden zur Problemlösung wieder mehrheitsdemokratische Verfahren Anwendung. Damit stehen korporatistische Beziehungen folglich immer auch im Schatten der Hierarchie, welcher disziplinierend auf die beteiligten Akteure wirken kann.

Gleichzeitig kann damit auch ein dem Neokorporatismus inhärentes demokratietheoretisches Problem relativiert werden. In neokorporatistischen Austauschbeziehungen werden bindende Entscheidungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik produziert, wodurch diese Arrangements de facto als gesetzgebende Instanzen beschrieben werden können, welche neben der verfassungsmäßigen, parlamentarischen Legislative (also auch den Parteien) etabliert wurden und deren demokratische Steuerung und Kontrolle schwierig ist.77 Doch obwohl der Staat somit Kompetenzen abgibt, bzw. mit den inkorporierten Verbänden teilt, bedeutet dies eben nicht zwingend ein demokratietheoretisches Problem. Vielmehr nutzt der Staat ein (historisches) Strategierepertoire,78 welches sich durch Verhandlungen definiert - und aus dem er seinen Vorteil zu ziehen sucht: „Sofern sich alle Interessengruppen auf das gemeinsame Unterfangen einer Suche nach einer problemgerechten und gemeinwohlorientierten Lösung einlassen und auf eine kompetitive Orientierung verzichten, lassen sich in konsensualen Strukturen wohlfahrtsoptimale Ergebnisse sogar eher realisieren als in majoritären Entscheidungsstrukturen, die ja Entscheidungen auf Kosten der jeweiligen Minderheit zulassen würden.“79

Da korporatistischen Austauschbeziehungen (anders als im Pluralismus) ein vorher definiertes Ziel zu Grunde liegt, fällt bei daran mangelnder Orientierungsbereitschaft sowie unzureichender Konsensfähigkeit der Akteure die Entscheidung zurück auf die staatlichen Institutionen - die freiwillige Selbstbeschränkung des Staates steht somit unter Vorbehalt.80 Solange die Ergebnisse von korporatistischen Arrangements also in überprüfbare Positivsummenspiele überführt werden können81, läuft die demokratietheoretische Kritik gegenüber dem Neokorporatismus folglich ins Leere.82 Heute werden neokorporatistische Austauschsysteme nicht mehr als Alternative, sondern als Ergänzung zu parlamentarisch-parteienstaatlichen Systemen verstanden.83

Insgesamt geht der heutige politikwissenschaftliche Konsens dahin, dass der Neokorporatismus den Pluralismus nicht als nächste Stufe abgelöst hat, sondern dieser vielmehr als ein „sektoral spezialisiertes Subsystem zu verstehen ist, das vor allem in konfliktträchtigen Politikfeldern (Arbeitsbeziehungen etc.) zur einvernehmlichen Problembewältigung geschaffen wird. (…) In der Realität lassen sich in vielen Systemen beide Ordnungsmodelle beobachten.“84

[...]


1 Zitiert aus: Benz, Arthur: Der moderne Staat - Grundlagen der politologischen Analyse, München 2001, S.155.

2 Ebd., S.156.

3 Schmid, Josef: Verbände - Interessenvermittlung und Interessenorganisation, Lehr- und Arbeitsbuch, München 1998, S.16.

4 Zitiert aus: ebd., S.163.

5 Mayer, Klaus / Naji, Natalie: Die Lobbyaktivitäten der deutschen Wirtschaft, in: Recht und Politik - Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik, 36 (1), Berlin 2000, S.41.

6 Einfluss des pol. Systems auf die Handlungsfelder zu verstehen im Sinne von: wo ergeben sich Handlungsfelder und wie relevant sind diese.

7 In Bezug auf Deutschland wird die EU-Ebene außen vor belassen, da sich diese Untersuchung auf die nationale Ebene beschränkt. EU-Lobbying findet nach eigenen Gesetzmäßigkeiten statt und bedarf weiterer, eigenständiger Untersuchungen, die den Rahmen einer solchen Arbeit allerdings sprengen würden.

8 In dieser Arbeit sollen die Begriffe „Verband“, „Interessenverband“ und „Interessenorganisation“ synonym verwendet werden. Mit diesen Begriffen sind auch immer Unternehmensverbände gemeint, aber nicht exklusiv. Soll explizit nur von Unternehmensverbänden gesprochen werden, wird dieser Terminus verwandt.

9 Zitiert aus: Schmid, S.33.

10 Zitiert aus: Alemann, Ulrich von: Organisierte Interessen in der Bundesrepublik, Opladen 1987, S.38.

11 Massing, Peter/Breit, Gotthard (Hrsg.): Demokratie-Theorien - Von der Antike bis zur Gegenwart, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, 2. Aufl., Bonn 2003, S.147.

12 Steffani, Winfried: Pluralistische Demokratie - Studien zur Theorie und Praxis, Opladen 1980, Seite

13 Zitiert aus: Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockhard, Bibliograph. erg. Ausg. 2003, Stuttgart 2006, S.31.

14 Zitiert aus: The Library of Congress: The Federal Papers, http://thomas.loc.gov/home/histdox/ fed_10.html. (10.05.2009).

15 Massing, Peter/Breit, Gotthard (Hrsg.), S.144.

16 Fifka, Matthias S.: Unternehmensverbände in den USA - Interessenvermittlung im pluralistischen System, Heidelberg 2005, S.32.

17 Massing, Peter/Breit, Gotthard (Hrsg.), S.153.

18 Steffani, Winfried, S.18.

19 Ebd., S.19.

20 Hartmann, Jürgen: Verbände in der westlichen Industriegesellschaft - ein international vergleichendes Handbuch, Frankfurt 1985, S.21.

21 Fifka, S.37.

22 Hartmann, S.23.

23 Zitiert aus: Truman, David Bicknell: The Governmental Process - Political Interest and Public Opinion, 2. ed., New York 1971, S.52.

24 Zitiert aus: ebd., S.57.

25 Fifka, S.39.

26 Zitiert aus: Lösche, Peter: Verbände und Lobbyismus in Deutschland, Stuttgart 2007, S.104.

27 Fifka, S.40.

28 Truman, S.506.

29 Steffani, S.17.

30 Schmid, S.76.

31 In Bezug auf „europäische“ pluralistische Theorien soll der Blick primär auf jene gerichtet werden, welche für die Bundesrepublik bedeutend sind. Daher werden in dieser Arbeit pluralistische Theorien aus dem europäischen Ausland oder aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus ob der geringen Bedeutung für den Gesamtzusammenhang - soweit als möglich - vernachlässigt.

32 Steffani, S.37.

33 Fifka, S.42.

34 Zitiert aus: Steffani, S.38.

35 In mehreren Auflagen ab 1964.

36 Ebd., S.34.

37 Ebd., S.36.

38 Zitiert aus: ebd., S.37.

39 Massing/Breit (Hrsg.), S.218.

40 Ebd., S.218.

41 Zitiert aus: Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien, 6. Aufl., Stuttgart 1974, S.40.

42 Zitiert aus: ebd., S.200.

43 Zitiert aus: ebd., S.46.

44 Dass der Staat die (unrealistische) Rolle eines in jedem Falle NEUTRALEN Schiedsrichters einnehmen würde, ist aus diesem Punkt allerdings - wie von Pluralismuskritikern auch Fraenkel oftmals unterstellt - nicht abzulesen. Vgl.: Steffani, S.48 u. Schütt-Wetschky, S.110.

45 Gabriel, Oscar W./Holtmann, Everhard: Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, 3., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, München 2005, S.658.

46 Zitiert aus: Fraenkel (1974), S.200.

47 Zitiert aus: Fraenkel, Ernst: Reformismus und Pluralismus - Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Autobiographie, zsgest. u. hrsg. von Falk Esche und Frank Grube, Hamburg 1973, S.402.

48 Zitiert aus: Fraenkel (1974), S.44.

49 Zitiert aus: ebd., S.46.

50 Steffani, S.46.

51 Eine Gesamtübersicht über alle Aspekte der Pluralismuskritik ist im Rahmen dieser Arbeit naturgemäß nicht zu leisten. Dennoch sollen die wichtigsten Strömungen der Kritik überblicksweise dargestellt werden.

52 Steffani, S.25.

53 Fifka, S.41.

54 Ebd., S.42.

55 Schmid, S.79.

56 Der „korporative Pluralismus“ wird am deutlichsten von den Pluralismuskritikern Theodore J. Lowi und Grant McConnell beschrieben. In ihren empirischen Untersuchungen kommen sie zu dem Ergebnis, dass amerikanische Staatsbehörden mit bestimmten Interessengruppen auf eine solche Weise kooperieren, durch welche geschlossene Entscheidungszentren entstünden, die vom offenen Konkurrenzsystem de facto losgelöst seien (Vgl. Stefani, S.27-28).

57 Schmid, S.79.

58 Dazu übereinstimmend: Schmid, S.79 und Steffani, S.32.

59 Massing/Breit (Hrsg.), S.221.

60 Schmid, S.84.

61 Massing/Breit (Hrsg.), S.221.

62 Etwa Reiner Eisfeld 1972 in seiner Arbeit „Pluralismus zwischen Liberalismus und Sozialismus“ (Vgl. Steffani, S.59-61).

63 Zitiert aus: Steffani, S.61.

64 Zitiert aus: Massing/Breit (Hrsg.), S.222.

65 Lösche, S.107.

66 Zitiert aus: Czada, Roland: Konkordanz, Korporatismus und Politikverflechtung - Dimensionen der Verhandlungsdemokratie, in: Holtmann, Everhard / Voelzkow, Helmut (Hrsg.): Zwischen Wettberwerbs und Verhandlungsdemokratie - Analysen zum Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl., Wiesbaden 2000, S.28.

67 Alemann, Ulrich von / Heinze, Rolf G.: Kooperativer Staat und Korporatismus - Dimensionen der Neo-Korporatismusdiskussion, in: Alemann, Ulrich von (Hrsg.): Neokorporatismus, Frankfurt/New York 1981, S.51.

68 In der amerikanischen Literatur werden häufig auch die Begriffe „pluralistic corporatism“ oder „corporate pluralism“ verwendet. Die primär in Europa verwendete Bezeichnung „Neokorporatismus“ unterstreicht durch den Baustein „Neo-“ die Distanz zu korporativen Systemen totalitärer Prägung.

69 Czada, Roland: Konjunkturen des Korporatismus - Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels in der Verbändeforschung, in: Streeck, Wolfgang (Hrsg.): Staat und Verbände, PVS Sonderheft 25, Opladen 1994, S. 38.

70 Streeck, Wolfgang: Staat und Verbände - Neue Fragen. Neue Antworten?, in: Streeck, Wolfgang (Hrsg.): Staat und Verbände, PVS Sonderheft 25, Opladen 1994, S.14.

71 Voelzkow, Helmut: Korporatismus in Deutschland - Chancen, Risiken und Perspektiven, in: Holtmann, Everhard / Voelzkow, Helmut (Hrsg.): Zwischen Wettbewerbs- und Verhandlungsdemokratie - Analysen zum Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl., Wiesbaden 2000, S.190.

72 Streeck, Wolfgang / Schmitter, Phillippe C.: Gemeinschaft, Markt und Staat - und die Verbände? Der mögliche Beitrag von Interessenregierungen zur sozialen Ordnung, in: Marin, Bernd (Hrsg.): Journal für Sozialforschung, 25.Jhg., Nr. 2, Wien 1985, S.144.

73 Mayntz, Renate (Hrsg.): Verbände zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl, Gütersloh 1992, S.12.

74 Voelzkow, S.191.

75 Ebd., S.193.

76 Zitiert aus: Streeck / Schmitter, S.144.

77 Voelzkow, S.194.

78 Vgl.: Lehmbruch, Gerhard: Die korporative Verhandlungsdemokratie in Westmitteleuropa, in: Schweizerische Zeitschrift für Politische Wissenschaft 2 (4) , St. Gallen 1996.

79 Zitiert aus: Voelzkow, S.197.

80 Ebd., S.199.

81 Nach Roland Czada und Manfred G. Schmidt sind nachgewiesenermaßen Wohlfahrtszugewinne durch jene Verhandlungssysteme erzielt worden. Vgl.: Sebaldt / Straßner (Hrsg.): Klassiker der Verbändeforschung, Wiesbaden 2006, S.297.

82 Dass Pluralismusansätze Demokratieformen reinster Prägung sind, Korporatismustheorien hingegen demokratietheoretisch bedenklich seien, erscheint ohnehin revisionsbedürftig. Vgl.: Czada (1994), S.49- 52.

83 Schmid, S.38.

84 Zitiert aus: Sebaldt / Straßner, S.298.

Ende der Leseprobe aus 119 Seiten

Details

Titel
Unternehmensverbände in den USA und Deutschland
Untertitel
Organisationsstrukturen und Handlungsfelder im Vergleich
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
119
Katalognummer
V141958
ISBN (eBook)
9783640515554
ISBN (Buch)
9783640515790
Dateigröße
1348 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
politisches System, Verbände, Pluralismus, Korporatismus, USA, Deutschland, Lobbying, Unternehmensverbände
Arbeit zitieren
Thorsten Graue (Autor:in), 2009, Unternehmensverbände in den USA und Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141958

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