Was treibt Menschen in virtuelle Welten?

Eine Untersuchung über die Auswirkungen unterschiedlicher Selbstkonzepte und Bindungsfaktoren auf die Spielzeit und Suchtneigung von MMORPG-Spielern


Masterarbeit, 2009

98 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung:

1. Was ist Sucht? Abgrenzung korperlicher und psychischer Abhangigkeit 1.1 Was ist Computerspielsucht?
1.2 Erfassung von Computerspielabhangigkeit

2. Was sind MMORPGS?
2.1 Die virtuelle Gemeinschaft
2.2 Wer spielt diese Spiele:Die Grundgesamtheit

3. Drei U berlegungen zur Suchtwirkung von MMORPGs
3.1 Wie wirken Computerspiele (geistige Ebene)
3.2 Welche Bedurfnisse befriedigen MMORP Gs? (Soziale Ebene)
3.2.1 Das Bedurfnis nach Meisterschaft
3.2.2 Das Bedurfnis nach sozialer Zugehorigkeit
3.3 Konzeption von MMORP Gs als nicht monetares Glijcksspiel

4. Die Fragestellung und die Hypothesen
4.1 Exkurs: Was sind Selbstkonzepte?
4.2 Die Hypothesen

5. Die Umfrage
5.1 Methodische Uberlegungen und Probleme
5.1.1 Vorteile von Online-Befragungen
5.1.2 Probleme von Onlineumfragen
5.1.3 Uberstrapaziertes Feld
5.2 Konzeption und Aufbau des Fragebogens
5.2.1 Beschreibung des Fragebogens
5.2 Durchfibrung der Umfrage

6. Ergebnisse der Umfrage:
6.1 Die Demographie der untersuchten Gruppe und ihr Vergleich mit der Grundgesamtheit undanderen Studien
6.1.1 Die gespielten MMORP Gs
6.1.2 Geschlecht und Alter
6.1.3 Bildungsstand
6.1.4 Geschlecht und Berufsstand
6.1.5 Berufsstand/ Beschaftigungsstand
6.1.6 Gilden- oder Clanmitgliedschaft
6.1.7 Administrative Aufgaben im Spiel
6.1.8 Spielzeit und Werte auf der Computerspielabhangigkeitsskala
6.2 Vergleich verschiedener MMORP Gs hinsichtlich Spielzeit und Suchneigung
6.3 Typologisierung der Spieler
6.3.1 Die Typisierung nach Geschlecht
6.4 Die Auswirkung der Lebenssituation auf die Spielzeiten und Suchtskala
6.4.1 Die Auswirkung der Lebenssituation auf die Spielzeiten
6.4.2 Die Auswirkungen des Bildungsstands auf die Spielzeiten
6.4.3 Die Auswirkungen der Lebenssituation auf die Suchtskala
6.4.3.1 Die Auswirkung des Berufsstands auf die Suchtskala
6.4.3.2 Die Auswirkungen des Bildungsstands auf die Suchtskala
6.4.4 Die Auswirkungen negativer Lebensereignisse
6.5 Analyse der Mehrfachantworten „wieso nicht gespielt?"
6.5.1 Unterscheiden sich Spieler, die ihr Spiel unterbrechen, von anderen Spielern?
6.6 Die Auswirkungen der Selbstkonzepte und der Bindungsfaktoren
6.6.1 Methodische Voruntersuchungen
6.1.1.1 Test und Auswahl der Items
6.6.1.2 Test auf Unabhangigkeit der Selbstkonzepte und Bindungsfaktoren
6.6.2 Wie stark sind die Zusammenhange zwischen Selbstkonzepten und Bindungsfaktoren auf Suchtskala und Spielzeit? (Betrachtung der Korrelationen)
6.6.2.1 Korrelationen der Bindungsfaktoren
6.6.2.2 Korrelationen der Selbstkonzepte
6.6.2.3 Korrelationen nach Geschlecht
6.6.3 Welche Erklarungskraft haben die Faktoren?
6.6.3.1 Die Auswirkungen auf die Spielzeit
6.6.3.2 Wie stark wirken sich die jeweiligen Selbstkonzepte und Bindungsfaktoren auf die Spielzeit aus? (konkrete Auswirkungen der Faktoren auf die Spielzeit in Stunden)
6.6.4 Die Auswirkungen der Faktoren auf die Suchtskal

Fazit

Anhang

Quellen

Literaturverzeichnis

Die Items der Selbstkonzept- und Bindungsfaktorskalen

Itemsder Selbstkonzepte

Ursprunglich konzipierte Zusammensetzung der Selbstkonzeptskalen

Nach Faktoranalyse verwendete Selbstkonzeptskalen

Ursprünglich konzipierte Bindungsfaktorskalen

Nach Faktoranalyse verwendete Bindungsfaktorskalen

Histogramme Spielertypen nach Geschlecht und Berufsstand

Spielertypen: Vergleich männliche und weibliche Spieler

Spielertypen: Vergleich nach Berufsstand

DerFragebogen

Einleitung:

Diese Master-Arbeit beschäftigt sich mit dem Phänomen des exzessiven Spielens von Online Rollenspielen, auch „Massively Multiplayer Online Role Play Games“ oder kurz „MMORPGs1 “ genannt. Insbesondere seit der massenhaften Verbreitung des Spiels „World of Warcraft“ (WoW) stehen diese Computerspiele im Verdacht bei bestimmten Personen suchtauslösend zu sein, da etliche Spieler angaben, ihren Spielkonsum nicht mehr selber steuern zu können und sich selbst als süchtig bezeichneten. Die Arbeit knüpft an eine Fallstudie an, die ich Anfang des Jahres 2007 durchgeführt habe. In die-ser waren mit qualitativen Methoden 49 Bekenntnisse von Personen ausgewertet wor-den, die sich selbst als onlinerollenspielsüchtig bezeichneten. Weiterhin bezieht sich die Arbeit aber auch auf weitere Forschungen aus unterschiedlichen Fachrichtungen zum Thema MMORPG- oder Computerspielsucht. Die Fallstudie hatte ebenso wie die meisten anderen angeführten Studien den Schluss nahegelegt, dass besonders Personen, die sich im realen Leben abgelehnt oder erfolglos fühlten, gefährdet waren süchtig nach MMORPGs zu werden (vgl. Hollburg 2007). Auf Basis dieser Forschung wurden daher für diese Master-Arbeit Hypothesen gebildet um diese Annahme näher zu untersuchen. Hierbei sollte getestet werden, inwiefern unterschiedliche Selbstkonzepte, also die Be-urteilungen einer Person über sich selbst und unterschiedliche Bindungsfaktoren an das Spiel und die Mitspieler die Spielzeiten und die Suchtneigung von MMORPG-Spielern beeinflussen. Konkret war einerseits davon ausgegangen worden, dass die fünf Selbst-konzepte „Selbstkonzept der sozialen Integration“, „Selbstkonzept des eigenen Ausse-hens“ „Selbstkonzept der Begabung“ „Selbstkonzept der Handlungskontrolle“ und „Selbstakzeptanz“ negativ mit der durchschnittlichen Spielzeit und der Suchtneigung“ korreliert sind, also niedrige Werte hinsichtlich eines Selbstkonzepts mit tendenziell hö-heren Werten hinsichtlich Spielzeiten und Suchtneigung einhergehen und anderseits eine hohe soziale Bindung an das Spiel und das „Streben nach Prestige, Macht und Herrschaft“ positiv mit Spielzeiten und Suchtneigung zusammenhängen, also höhere Werte hinsichtlich dieser Faktoren auch tendenziell mit höheren Werten hinsichtlich Spielzeit und Suchtneigung einhergehen. Desweiteren wurde erwartet, dass bildungs-ferne und sozialschwache Schichten, wie bei anderen Suchterkrankungen auch, beson-ders betroffen sind (zu den konkreten Hypothesen siehe Kapitel 4). Überprüft wurden alle Annahmen auf Basis einer Online-Umfrage unter MMORPG-Spielern, in der 670

Personen befragt wurden. Die meisten Hypothesen konnten bestätigt werden. Es zeigte sich jedoch auch ein überraschender Befund: Die Auswirkungen der untersuchten Fak-toren, auf Suchtneigung und Spielzeiten fallen bei weiblichen Spielern deutlich stärker als bei männlichen Spielern aus.

Zum besseren Verständnis sind dem empirischen Teil drei Teile vorangestellt. Zuerst wird auf Sucht im Allgemeinen und Computerspielsucht im Besonderen eingegangen werden. Hieran schließt sich dann ein Kapitel an, das sich dem Wesen eines Online-Rollenspiels widmet. In diesem Kapitel wird auch auf die Bedeutung der virtuellen Ge-meinschaft eingegangen werden. Hierauf folgt ein drittes Kapitel, in dem näher analy-siert wird, wieso diese Spiele suchtauslösend wirken könnten. Hierbei wird auf das spe-zielle Spieldesign dieser Spiele, auf ihre mentale Wirkung und die in diesen Spielen be-friedigten sozialen Bedürfnisse eingegangen. Hiernach werden - ausgehend von den Er-gebnissen der Fallstudie - die Hypothesen dargelegt. Es folgt dann der er eigentliche Kern dieser Arbeit: die empirische Untersuchung. Die Arbeit schließt mit einem Fazit und einem Ausblick.

1. Was ist Sucht? Abgrenzung korperlicher und psychischer Abhangigkeit

Nach heutiger wissenschaftlicher Übereinstimmung kann eine Abhängigkeit oder Sucht2 folgendermaßen definiert werden:

„Eine Sucht ist ein zwanghafter Drang, durch bestimmte Reize oder Reaktionen Lust-gefühle oder Zustände herbeizuführen, bzw. Unlustgefühle zu vermeiden. Die Sucht stellt einen Versuch dar, Bedürfnisse unmittelbar und unter Umgehung all der Verhal-tensweisen zu befriedigen, die natürlicherweise zu ihrer Befriedigung führen. Der Zwang, unter dem der Süchtige dabei steht, ist mit einem Mangel an Selbstkontrolle gleichzusetzen. Ziel des Suchtverhaltens und Inhalt des Lustzustandes ist der Aufbau ei-ner Scheinwelt im Sinne einer Realitätsflucht“ ( Yablonsky / Heckmann 1990 S.1070).

Diese Definition schließt eine klassische stoffgebundene Abhängigkeit (z. B nach Ko-kain) ebenso ein wie Verhaltenssüchte (z. B. pathologisches Glücksspiel). Verhaltens-süchte sind Süchte nach einer bestimmten Betätigung, ohne dass dem Körper psycho-aktive Substanzen zugeführt werden. Es ist dann das exzessive Ausüben der Handlung selbst, das den angestrebten emotionalen Zustand auslöst und effektiv Gefühle im Zu-sammenhang mit Frustration, Ängsten und Unsicherheiten reguliert, bzw. verdrängt. Das exzessive Ausüben der Verhaltensweisen führt dann ebenso wie der Gebrauch psy-chotroper Substanzen dazu, dass eine aktive Auseinandersetzung des Betroffenen mit Problemen dadurch immer mehr in den Hintergrund rückt und schließlich verlernt wer-den kann. Ein solches suchtartiges Verhalten wird in diesem Fall dann im Laufe der Zeit zur einzigen noch vorhandenen Strategie sich zu belohnen um so das körpereigene psy-chophysiologische Gleichgewicht wieder herzustellen. In diesem Sinne stellt es dann eine (inadäquate) Form der Selbstmedikation dar (vgl. Grüsser/ Thalemann 2006, S.14).

Mittlerweile geht die Forschung unterschiedlicher Richtungen davon aus, dass stoffge-bundene und stoffungebundene Abhängigkeiten sehr viel ähnlicher sind als man bis vor wenigen Jahren angenommen hat. Auf der einen Seite zeigt die neuere neuropsycholo-gische Forschung, dass ein exzessives Ausüben einer Tätigkeit dauerhafte biochemische Veränderungen im menschlichen Gehirn auslöst (vgl. Grüsser 2005) und bei stoffunge-bundenen Süchten körpereigene Endorphine ausgeschüttet werden, die in ihrer bioche-mischen Struktur dem Morphium ähnlich sind (vgl. Gross 1990, S. 12). Auf der anderen Seite lässt sich ebenfalls zeigen, dass hinter praktisch jeder Sucht (ob stoffgebunden oder nicht) ein Gefühl der Hilflosigkeit steht (z.B. Einsamkeit, hohes Stresslevel, Schuldgefühle), das dann durch die entsprechende Suchthandlung (ins Kasino gehen, Alkohol trinken) vorübergehend bewältigt wird. Sobald das Gefühl der Hilflosigkeit verschwindet, da sich entweder die äußere Situation verändert (der Auslöser des Ge-fühls verschwindet,), die betroffene Person adäquate Verhaltensalternativen zur Sucht-handlung entwickelt oder sich die Sichtweise der Person auf das Problem verändert (Die Situation bleibt gleich – z. B. genauso stressig - dies wird aber nicht mehr negativ be-wertet), verschwindet auch die Sucht, oder die Heilungschancen steigen zumindest er-heblich (vgl. Dodes 2002, S.67ff.). Ein berühmtes Beispiel für die sehr hohe Bedeutung der sozialen und psychischen Komponenten einer Sucht finden sich ausgerechnet bei Heroin, der Droge, bei der in der Regel von einer besonders hohen Gefahr körperlicher Abhängigkeit ausgegangen wird. Robins, Helzer und Davis untersuchten 1975 eine Gruppe von 934 Vietnamveteranen, die durch einen positiven Drogentest aufgefallen waren. Während bei weniger als 1 % vor dem Einsatz jemals eine Heroinabhängigkeit bestanden hatte, probierten fast 50 % dieser Soldaten Heroin in Vietnam, wobei 20 % süchtig wurden. Nach Rückkehr in die USA fielen jedoch Konsum und Suchtrate unter diesen Soldaten wieder auf das Vorkriegsniveau. Gleichzeitig wiesen Personen, die zur selben Zeit in den USA heroinabhängig geworden waren, eine Rückfallquote von 80­90 % auf (vgl. Robin / Helzer / Davis 1975, S. 955-961). Der Grund hierfür ist in den unterschiedlichen sozialen Situationen der beiden Gruppen zu suchen. Während der He-roinkonsum der Soldaten ein Weg war, das durch den Krieg verursachte Gefühl der Hilflosigkeit zu bekämpfen und dieses wegfiel, sobald sie der Kriegssituation nicht län-ger ausgesetzt waren, blieb die andere Gruppe größtenteils in ihrem alten sozialen Um-feld verhaftet und die jeweiligen Gründe der Hilflosigkeit erhalten. Es lässt sich somit sagen, dass einerseits Verhaltenssüchte auch körperliche Folgen aufweisen und ander-seits auch klassische Drogenabhängigkeiten immer auch sozial bedingt sind.

Schon früh stellte sich die Frage, wie eine Sucht abzugrenzen und zu diagnostizieren ist. Hierzu wurden ausgehend vom Alkoholismus fünf Kriterien entwickelt, anhand derer Sucht operationalisiert wird. Nach und nach wurden diese Kriterien dann auf andere Abhängigkeiten, wie z.B. pathologisches Glücksspiel übertragen. Da zur Diagnose von Computerspiel- oder Internetabhängigkeit in der Regel einfach die Diagnosekriterien des pathologischen Glücksspiels übertragen wurden, ist es sinnvoll zu berücksichtigen, dass auch diese indirekt auf Alkoholismusdiagnosekriterien zurückgehen (vgl. Hahn / Jerusalem 2001, S. 2f.) Die folgenden fünf Kriterien liegen bis heute den meisten Sucht-fragebögen aller Art und anderen Sucht-Diagnoseinstrumenten explizit oder implizit zugrunde:

1) Einengung des Verhaltensraums: Über einen längeren Zeitraum wird der größte Teil des Tageszeitbudgets auf die jeweilige Tätigkeit verwendet.
2) Kontrollverlust: Die Person hat die Kontrolle über ihr Verhalten weitestgehend verloren. Entweder sind Versuche, das Nutzungsmaß zu reduzieren, gescheitert, oder gar nicht erst unternommen worden (obwohl das Bewusstsein für den Bedarf einer Verhaltensänderung gegeben ist.)
3) Toleranzentwicklung: Die „Verhaltensdosis“ muss zum Erlangen der angestrebten Emotionslage gesteigert werden.
4) Entzugserscheinungen: Beeinträchtigung der psychischen Befindlichkeit (Unruhe, Nervosität, Unzufriedenheit, Gereiztheit, Aggressivität) und psychisches Verlangen (craving) nach der jeweiligen Tätigkeit als Folge einer längeren Trennung von diesem.
5) Negative Konsequenzen: Konflikte mit Familie, Freunden oder in der Partnerschaft. Vernachlässigung von Arbeit, Schule oder Ausbildung (bei stoffgebundenen Abhängigkeiten auch körperlicher Beeinträchtigungen).

Obwohl in der Forschung die grundsätzliche Existenz von zahlreichen Verhaltensab-hängigkeiten heute in der Regel nicht bestritten wird, ist bis heute jedoch lediglich das „pathologische Glücksspiel“ offiziell anerkannt worden, was dazu führt, dass beispiels-weise entsprechende Therapien indirekt (beispielsweise mit Depression) begründet werden müssen, um von den Krankenkassen anerkannt zu werden (vgl. Mertens/ Man-gelsen / Kellermann). Die Existenz von Medienabhängigkeiten wie Internetsucht oder Computerspielabhängigkeit wird jedoch heute von einigen wenigen Experten, wie u.a. Grohol, Eichenberg und Ott, bestritten. Sie lehnen z.B. bei Internetsucht den Suchtbe-griff ab, da das Internet selbst keine Ursache der Störung sei, sondern tatsächlich ver-borgene persönliche Probleme oder Primärerkrankungen, wie Depressionen, dem Ver-halten zugrunde liegen würden (vgl. Hahn / Jerusalem 2003, S.167). Dieses Argument ist jedoch fehlschlüssig, da die fünf Suchtdiagnosekriterien generell keine ätiologischen Merkmale sind, sondern nur normativ-deskriptiv Merkmale der Phänomenologie der (Internet-) Sucht thematisieren (vgl. ebd.) und mit demselben Argument die Existenz jeder Sucht bezweifelt werden müsste. Dies wird deutlich, wenn man dasselbe Argu­ment auf andere, stoffgebundene Abhängigkeitserkrankungen überträgt. Würde eine Person die oben beschriebenen fünf Kriterien in Bezug auf Alkoholkonsum erfüllen, wäre es zunächst offen (und sogar wahrscheinlich; siehe oben), ob ihr Suchtverhalten durch tiefer liegende Probleme, z.B. sozialer Art, verursacht worden sind. Dennoch wäre es unstrittig, eine solche Person als Alkoholiker zu bezeichnen.

1.1 Was ist Computerspielsucht?

Die Computerspielsucht, die Gegenstand dieser Arbeit ist, fällt, wie bereits erwähnt, in die Klasse der Verhaltensabhängigkeiten, zu denen unter anderem auch Glücksspiel-sucht, Kaufsucht, Magersucht und Arbeitssucht fallen. Die Computerspielabhängigkeit ist aus naheliegenden Gründen eng verwandt mit der Chatsucht und der allgemeinen Internetabhängigkeit. Sie wurde bisher insbesondere auf zwei Wegen untersucht. Zum einen wurden diverse Online-Umfragen zu diesem Thema durchgeführt, die in der Re-gel in Online-Foren beworben wurden. Aufgrund der Heterogenität in der Erfassung der Abhängigkeit und durch Verzerrung durch Selbstselektion fallen die hier vorliegenden Prävalenzraten sehr unterschiedlich aus. Stichproben, die Anspruch auf Repräsentativi-tät erheben können, liegen international noch nicht vor (vgl. Baier / Rehbein 2009, S.142). Mithilfe dieser Studien konnte aber, wenn auch nicht der Umfang des Problems bestimmt, so doch der Zusammenhang mit anderen Merkmalen offenbart werden und auf Gruppen geschlossen werden, die vermutlich besonders betroffen sind. Hinsichtlich der sozialen Ebene konnte gezeigt werden, dass computerspielabhängige Personen häu-figer ein auffälliges Sozialverhalten zeigen. Besonders Kinder und Jugendliche zeigen häufiger Leistungsangst und eine geringere Bindung als andere Menschen (vgl. ebd., S.147). Betroffene Kinder und Jugendliche wählen zudem signifikant häufiger vermei-dende als problemlösende Strategien. Außerdem konnte an Studenten mit einer exzessi-ven Computernutzung gezeigt werden, dass diese sich subjektiv deutlich einsamer füh-len und signifikant geringere emotionale und soziale Kompetenten aufwiesen (vgl. Grüsser/ Thalemann 2006, S.170 u. 173). Bei Untersuchungen dieser Art bleibt jedoch grundsätzlich die Frage nach Ursache und Wirkung bestehen. Fördern Konflikte, Leis-tungsangst oder Einsamkeit die Suchtneigung? Löst Sucht und exzessives Spielen diese Probleme aus oder existiert möglicherweise ein dritter Faktor, der für beide Problemfel-der verantwortlich ist? Sozialstrukturell legen Online-Umfragen nahe, dass zurzeit in-sbesondere männliche Personen jungen und mittleren Alters betroffen sind, was sich im Großen und Ganzen mit vielen anderen Suchterkrankungen deckt. In älteren Studien, speziell zu MMORPGs, wird zudem meist davon ausgegangen, dass Mittelschichtsan-gehörige besonders betroffen sind, da in Haushalten unterer sozialer Schichten nur sel-ten Internet verfügbar ist. Auch meine Fallstudie legte diesen Schluss nahe3. Da jedoch in den letzten Jahren immer weitere Bevölkerungsschichten über einen Internetan-schluss verfügten, kann nicht sicher gesagt werden, ob dieser Befund noch zutrifft.

Der andere Zugangsweg besteht in Laborexperimenten. Hier konnte gezeigt werden, dass eine exzessive Nutzung von Computerspielen auch eine erhebliche Parallele zu stoffungebunden Abhängigkeiten aufweist, was so keine Besonderheit von Computer-spielabhängigkeit darstellt, es aber plausibler macht, sie als Sucht aufzufassen (siehe oben). Konkret lässt sich zeigen, dass intensives Computerspielen mit einer erhöhten Dopaminausschüttung und der Aktivierung unmittelbar belohnungsrelevanter Hirn-areale einhergeht (vgl. Baier / Rehbein 2009, S. 145) und dass exzessive Computer-spieler hirnphysiologisch in ähnlicher Weise auf Bilder von Computerspielen reagieren, wie Alkoholiker auf Bilder von Alkohol. (vgl. Baier/ Rehbein 2009, S. 145).

1.2 Erfassung von Computerspielabhangigkeit:

In den meisten Studien wurden zur Diagnose von Computerspielabhängigkeit die oben beschriebenen fünf Kriterien: „Einengung des Verhaltensraums“, „Kontrollverlust“, Toleranzentwicklung,“ „Entzugserscheinungen“ und „ negative Konsequenzen“ zu-grunde gelegt, die ursprünglich aus der Forschung zu pathologischem Glücksspiel oder indirekt aus der Alkoholismusforschung stammen und generell für Suchtdiagnosen aller Art verwendet werden. Hier besteht jedoch ein Problem: Im Hinblick auf Computer-spielabhängigkeit sollten meines Erachtens diese Kriterien modifiziert werden, da sonst bloße Begeisterung zu leicht als Suchtverhalten fehlgedeutet werden kann (vgl. Charl­ton / Danforth 2007). Insbesondere die Kriterien „Toleranzentwicklung“ und „Einen-gung des Verhaltensraums“ erscheinen problematisch, da sie oft auch bei einem nor-malen enthusiastischen Computer-Spielverhalten ohne Sucht zu einem gewissen Zeit-punkt auftreten. Üblicherweise weist die Motivation bei einem Computerspiel einen Kurvenverlauf auf. Die Motivation und mit ihr die Spielzeit steigt erst steil an, während der Spieler mit dem Spiel vertraut wird, allmählich die Spieltechnik immer besser be-herrscht und die Feinheiten des Spiels kennen lernt. Sie erreicht dann ein Maximum und bleibt dann eine Weile hoch, um danach wieder allmählich abzusinken, wenn das Spiel zunehmend langweilig wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Idealtypischer Verlauf der Spielmotivation in einem Computerspiel

Ein Item wie „Mein Verlangen danach, mehr Zeit mit in meinem Spiel [im Original: mehr Zeit im Internet] zu verbringen hat sich im Vergleich zu früher ständig erhöht“, wie es beispielsweise Hahn und Jerusalem in ihrer Internet-Sucht-Studie und einige an dieser Studie anknüpfende MMORPG- Studien verwendeten, würde daher zu leicht von Personen bejaht werden, die eigentlich gar kein Suchtverhalten aufweisen und sich ein-fach nur auf einem bestimmten Punkt auf der Motivationskurve befinden. Mir erschien es daher sinnvoll, mit einem Suchtfragebogen ohne diese üblichen Kategorien zu arbei-ten. Die Wahl hierzu fiel auf die Computerspielabhängigkeitsskala von Baier und Reh-bein aus ihrer Studie „Computerspielabhängigkeit im Jugendalter“. Dieser Fragebogen bot zudem den Vorteil, dass die Items, anders als in vielen Internet- oder Computer-spielsuchtstudien, hinsichtlich seiner Testgüte auch überprüft wurden (vgl. Baier / Reh-bein 2009, S. 146ff.). Die Computerspielabhängigkeitsskala setzt sich aus 11 Items der Kategorien „Kontrollverlust“, „Entzugserscheinungen“ und „negative Konsequenzen“ zusammen, die alle mit einer vierstufigen Likert-Skala versehen wurden (stimme sehr zu (4P), stimme eher zu (3P), stimme eher nicht zu (2P), stimme gar nicht zu (1P)). Die Skala erstreckt sich somit von +11 bis +44. Für die Klassifikation „nicht süchtig“, „suchtgefährdet“ und „süchtig“ werden dieselben Grenzwerte wie bei Baier und Reh-bein zugrunde gelegt. Personen, die durchschnittlich mindestens „stimme eher zu“ (3P) angekreuzt haben, werden als süchtig bezeichnet (33-44 Punkte), Personen mit Durch-schnittswerten von 2,5 Punkten bis 3 Punkten gelten als gefährdet (27,5 bzw. aufgerun-det 28 bis 32 Punkte). Immer wenn im empirischen Teil und der Ergebnisdiskussion von Sucht die Rede sein wird, ist Sucht im Sinne der oben genannten Definition, operationalisiert durch die Computerspielabhängigkeitsskala nach Beier und Rehbein, gemeint. Diese Skala wird im Folgenden auch kurz Suchtskala genannt werden. Für diese Master-Arbeit wurden die Items lediglich geringfügig sprachlich angepasst, um sich direkt auf MMORPGs und nicht auf Computerspiele allgemein zu beziehen. Da es sich um eine Skala handelt, wird Sucht nicht ausschließlich als feste Kategorie (süchtig / suchtgefährdet / nicht süchtig) verstanden, sondern es wird auch von höher oder niedriger Suchtneigung gesprochen werden. (Für die Details zu den in der Umfrage verwendeten Items siehe das Kapitel Fragebogen und den Anhang).

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Tabelle 1: Computerspielabhängigkeitsskala (ebd., S.147)

2. Was sind MMORPGS?

Unter „Massively Multiplayer Online Role-Playing Games“ (MMORPG) werden aus-schließlich über das Internet spielbare Computer-Rollenspiele verstanden. Im Unter-schied zu herkömmlichen Computerspielen spielt der Spieler hier nicht allein, oder mit einigen Freunden zusammen, sondern mit einigen tausend realen Menschen, z.T. über die ganze Welt verteilt, zusammen. Das Verhalten der Spieler bestimmt dann die Ge-schichte in der Fantasiewelt (vgl. Poitzmann, 2007, S.21).

Die Spielwelten dieser Spiele sind meist in Mittelalter- oder Fantasy-Welten angesie-delt, es gibt jedoch auch Spiele mit anderen Szenarien, beispielsweise Science-Fiction-Welten. Diese Welten sind von unterschiedlichen Völkern oder Rassen bevölkert, die jeweils unterschiedliche Stärken und Schwächen aufweisen und zum Teil mit einander verfeindet sind. Neben der Differenzierung nach Rassen stehen meist weitere Differen-zierungen. Im Spiel „World of Warcraft“ beispielsweise kann sich der Spieler zunächst zwischen der guten und der bösen Seite, der Allianz oder der Horde, entscheiden und dann weiter zwischen je fünf verschieden Völkern und zehn verschieden Klassen wäh-len. Im Verlauf des Spiels kann der Spieler sich zudem für zwei von elf Hauptberufen entscheiden. Auch wenn nicht jede Kombination möglich ist, bestehen so sehr viele Wahlmöglichkeiten. Es ist praktisch unmöglich jede Kombination zu probieren.

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Tabelle 2: Verteilung der Volker und Klassen bei World of Warcraft (jeweils mit 2 von 11 Hauptberufen kombinierbar)

Zu Beginn des Spiels entscheidet sich der Spieler jeweils für ein Wesen, das seinen Vorlieben entspricht und erstellt ein virtuelles Alter-Ego, einen sogenannten Avatar, mit dem er die Welt betritt. Im Spiel geschieht nun alles in Echtzeit. Der Spieler trifft auf zahlreiche andere Avatare, die von anderen Spielern gespielt werden, und unzählige vom Computer gesteuerte Kreaturen, sogenannte NPCs (non-player characters). Diese sind dem Spieler in der Regel entweder feindlich gesonnen und müssen bekämpft wer-den oder können, wie z.B. Hasen, gejagt werden. Im Spiel gilt es nun, den eigenen Avatar ständig zu verbessern. Hierzu sind NPC zu töten, Aufgaben zu lösen und Gegner zu besiegen. Da die Aufgaben in der Regel alleine nicht bewältigt werden können und die eigene Kampfkraft besonders durch eine intelligente Kooperation von Spielern un-terschiedlicher Klassen erheblich gesteigert werden kann, schließen sich die Spieler in Gruppen zusammen, entweder in losen spontanen Gruppen oder meist jedoch langfristig organisiert in sogenannten Gilden oder Clans4. In diesen sozialen Zusammenschlüssen bildet sich oft ein komplexes soziales Leben aus. Für Gerit Götzenbrucker erklärt sich die Motivation der Spieler vor allem aus eben diesen sozialen Netzwerken. Im Aushan-deln der sozialen Regelwerke und dem Ausdifferenzieren der eigenen „Charaktere“ aufgrund der real-time-Spielerinteraktionen sieht er die Hauptanreize dieser Spiele (vgl. Götzenbrucker 2001, S.12). Verglichen mit klassischen Computerspielen sind diese Neuerungen revolutionär. Früher herrschte lediglich formale Interaktivität. Menschen drückten Knöpfe und es bewegte sich etwas auf dem Bildschirm, oder es gab lediglich eine verbale Kommunikation in Chaträumen. Heute lassen sich nun soziale Handlungen durch Stellvertreter ausführen.

Neben dem sozialen Aspekt unterschieden sich MMORPGs zudem durch ihre persis-tente Spielwelt von herkömmlichen Computerspielen. Dies bedeutet, dass das Spiel unabhängig vom Spieler selbst fort existiert. Während sich ein Spieler ausloggt, z.B. um zu schlafen, betreten andere Spieler gerade dieselbe Welt. Doch auch selbst wenn alle Spieler gemeinsam das Spiel verlassen würden, würde sich die Spielwelt weiterentwi-ckeln. Die Bewegungen der NPCs, ihre Interaktionen untereinander oder auch der Wechsel von Tag zu Nacht, all dies führt das Programm völlig autonom aus.

2.1 Die virtuelle Gemeinschaft

Noch 2004 schrieb Jürgen Fritz „Multiplayer-Spiele gestatten lediglich kurzzeitige Spielerkontakte und sind nicht auf konstante virtuelle Spielergemeinschaften ausgelegt“ (Fritz 2004). Diese Aussage mag noch beispielsweise auf Ego-Shooter zutreffen, für die Charakterisierung eines MMORPGs, in dem die Spielerkontakte langfristig angelegt sind und sich schnell ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt, ist sie jedoch unpassend. Die Interaktion der Spieler wird durch zwei Aspekte maßgeblich bestimmt, personale At-traktion und soziale Attraktion (vgl. Poitzmann 2007, S.97). Die personale Attraktion besteht in direkten Bindungsgefühlen zwischen einzelnen Personen, beispielsweise den freundschaftlichen Gefühlen zweier Spieler füreinander. Die soziale Attraktion hinge-gen besteht in der Bindung an eine soziale Gruppe (vgl. Utz 2002, S.160). Eine soziale Gruppe lässt sich wie folgt definieren:

Eine soziale Gruppe umfasst eine angebbare Zahl von Gruppenmitgliedern, die zur Er-langung eines Gruppenziels über längere Zeit in einem kontinuierlichen Interaktions-prozess stehen. Bei dieser engen sozialen Wechselwirkung entsteht eine gruppenspezifi-sche Kohäsion, ein Wir-Gefühl, in dem die Gruppenidentität zum Ausdruck kommt. Um das Gruppenziel zu erreichen, bildet sich innerhalb der Gruppe eine eigene Norm-struktur sowie eine charakteristische Aufgaben- und Rollenverteilung (Thiedecke 2003, 37).

Verantwortlich für die Bindung an eine Gruppe ist aus sozialpsychologischer Sicht das Phänomen der „sozialen Identifikation“. Nach Sonja Utz, die sich in ihren Analysen auf die „Theorie der sozialen Identität“ von Henri Tajfel und die „Selbstkategorisierungs-theorie“ von John Turner beruft, basiert die soziale Identifikation mit einer Gruppe in der Wahrnehmung der jeweiligen Gruppe als bedeutsam für die eigene Person. Eine hohe soziale Identifikation resultiert u.a. in der Orientierung an den Gruppennormen (vgl. Utz 2002, S.160f und Poitzman 2007, S.98.). In MMORPGs bieten Gilden oder Clans eine normative Ausrichtung. Viele Gilden haben einen formalen Codex, oder eine Art Vertrag, dem sich der Spieler unterwerfen muss, um von der Gruppe aufgenommen und akzeptiert zu werden. Will ein Spieler Mitglied werden, muss er zumindest bei hochstufigen Gilden i.d.R. einen regelrechten Bewerbungsprozess durchlaufen oder per-sönliche Beziehungen zu einem idealerweise hochrangigen Gruppenmitglied aufweisen (vgl. Poitzmann 2007, S.107ff).In vielen Gilden kommt ein recht konservatives Welt-bild zum Tragen. Es gibt einen Anführer, strikte Regeln, Loyalitäten und Hierarchie-ebenen. Diese festen Strukturen geben aber auch Halt und stärken, zusammen mit den gemeinsam gemeisterten Aufgaben, das Wir-Gefühl (vgl. ebd., S.111). Neben der Be-friedigung des Strebens nach Zugehörigkeit sind diese virtuellen Gemeinschaften aber auch in weiter Hinsicht für die Spielmotivation wichtig. Sie dämpfen Niederlagen und Beeinträchtigungen im Spielprozess und verstärken durch Lob und Anerkennung Spie-lerfolg und konstantes Spielverhalten. Sie sind so in der Lage, die Frust-Spirale abzu-schwächen und die Flow5 -Spirale zu stärken (vgl. Fritz 2008, S.137).

2.2 Wer spielt diese Spiele: Die Grun dgesamtheit:

Die der Arbeit zugrunde liegende Grundgesamtheit sind alle deutschsprachigen Perso-nen, die zurzeit aktiv ein MMORPG spielen. Doch wie sieht diese aus? Schon Cypra stand 2005 vor dem Problem in seiner MMORPG-Studie, die Grundgesamtheit nicht zu kennen (vgl. Cypra 2005 S. 61f). Hieran hat sich bis heute leider nichts geändert. So-wohl Größe als auch soziodemographische Zusammensetzung können nur geschätzt werden. Verkaufszahlen sagen wenig über die aktiven Spieler aus und Abonnentenzah-len werden von vielen Herstellern nicht veröffentlicht, da sie insbesondere bei weniger erfolgreichen Titeln einen Imageverlust bedeuten würden (vgl. ebd.). Es gibt jedoch ei-nige Daten, die zumindest eine grobe Einschätzung ermöglichen. Der amerikanische MMORPG- Analyst James Woodcock betreibt eine Internetseite mit dem Namen „ MMORPG.chart.com “, auf der er versucht einen MMORPG-Spiele-Chart zu berech-nen. Diese Seite, die zuletzt im April 2008 aktualisiert wurde, weist weltweit 18 Mio. Spieler aus, wobei die unzähligen kleineren kostenlosen MMORPGs nicht berücksich-tigt werden. Von diesen 18 Mio. Spielern entfallen allein 11,5 Mio. Spieler auf WoW. Für Deutschland liegen leider keine genauen Zahlen vor. Anfang 2007 gab die Frank- furter Allgemeine Sonntagszeitung die Zahl der WoW Spieler mit knapp 700.000 an (vgl. Schmidt 2007). Aktuelle Zahlen liegen lediglich als grobe Schätzung von Seiten der Werbeindustrie vor, die die Zahl der WoW-Spieler mit 1,8 Mio. angibt (vgl. Pres-semitteilung „eGame Advertising 2009).

Auch zur soziodemographischen Zusammensetzung sind bisher nur Schätzungen mög-lich. Zwar wurden bereits einige MMORPG-Studien durchgeffihrt, aber es ist bis heute der Forschung nicht zufriedenstellen gelungen, zu klären, wie sich die Grundgesamtheit zusammensetzt, da in den relevanten Studien die Daten fiber verschiedene Wege ge-wonnen wurden, was zu jeweils anderen Befunden ffihrte. Hier sind insbesondere zwei Arten von Studien zu nennen. Auf der einen Seite stehen allgemeine Studien zur Me-diennutzung, z.B. die ACTA-Studie des Allensbachsnstituts von 2006, in der auch nach Online-Spielen gefragt wurde. Da diese Studien auf klassischen kontrollierten Bevölke-rungsumfragen beruhen, können sie ein hohes Maß an Repräsentativität beanspruchen. Leider beziehen sie sich jedoch nicht direkt auf MMORPGs, sondern nur auf Online-Spiele allgemein. Zwar ist jedes MMORPG auch ein Online-Spiel, aber eben nicht jedes Online-Spiel ist auch ein MMROPG. Die große Mehrzahl aller neuen Computerspiele verffigt heute fiber einen Multiplayer-Modus, der fast immer auch Internetspiele ein-schließt. Es wäre somit verfehlt, einfach davon auszugehen, dass sich die Grundgesam-theit der MMORPG-Spieler genauso zusammensetzt wie die Grundgesamtheit der On­line-Spieler. Hier zur Orientierung dennoch die Sozialstruktur der Online-Spieler gemäß des der ACTA-Studie:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3: Demographie der Onlinespieler 2006 (N = 1993) aus: ATAC Studie 2006 des Allensbach Instituts (zitiert nach Quand und Wimmer 2008, S. 175)

Auf der einen Seite stehen Studien, die sich direkt mit MMORPGs beschäftigen. In die-sen Studien wurde mit selbstselektiven Stichproben in Online-Foren, zum Teil auch ge- paart mit Schneeballstichproben, gearbeitet. Daher ist hier die Repräsentativität nicht ausreichend gegeben. Diese Studien kommen zu unterschiedlichen Zusammensetzun-gen, wobei davon ausgegangen werden kann, dass diese Abweichungen durch Selbst-selektion verbunden mit einer unterschiedlichen Nutzungsintensität von Online-Foren durch unterschiedliche Spielergruppen verursacht wird. So wird z. B davon ausgegan-gen, das z.B. Frauen diese Foren tendenziell seltener nutzen. Obwohl sich diese Stu-dien deutlich von einander unterscheiden, lässt sich aus ihnen dennoch zumindest ein genereller Trend herauskristallisieren. In allen Umfragen waren männliche Spieler mit relativ hoher Bildung im Alter von etwa 15-30 Jahren deutlich überrepräsentiert. Ältere Spieler hingegen und Frauen waren selten. Der Frauenanteil schwankte zwischen nahe Null und etwa 20 % (z.B. 19 % Anteil weiblicher Spieler bei Poitzmann, 16 % Anteil weiblicher Spieler bei Yee, 7,1 % bei Cypra, 4 % bei Schob). Durchgehend ist das durchschnittliche Alter bei Frauen etwas höher (Alter bei Cypra [diverse MMORPGs]: m= 22,5 Jahre, w= 25,6 Jahre; Yee [Everquest] m= 25,2 Jahre w= 29,0 Jahre). Der Bil-dungsstand liegt deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt (z. B. 43,8 % Personen mit Abitur und 15,7 % Personen mit Hochschulstudium bei Cypra und 46,7 % Abitur und 29,16 % Hochschulabsolventen bei Poitzmann).6

Untersucht man die bisherigen Studien nach auffälligen Gruppen hinsichtlich ihrer Spielzeit, so fällt auf, dass sozialschwache Gruppen und insbesondere Arbeitslose sehr viel länger spielen. Außerdem zeigte sich in einigen Studien, dass der Anteil weiblicher Spieler mit zunehmender Spieldauer relativ deutlich ansteigt. So betrug beispielsweise der Frauenanteil in Cypras Studie in der Gruppe der Normalspieler 6,2% in der Gruppe der Vielspieler 8,2% und in der Gruppe der Hardcore-Spieler 11,2% (vgl. Cypra 2005 S.70)7. Weibliche Spieler bleiben so zwar in allen Gruppen deutlich in der Minderheit, aber ihr Anteil steigt mit zunehmender Spieldauer erheblich.

Die Unterschiede zwischen der ATAC Studie und den beschriebenen Onlineumfragen beruht m.E. auf zwei Faktoren, über deren jeweiligen Einfluss sich jedoch leider bis jetzt nur spekulieren lässt. Auf der einen Seite lassen sich die erheblichen Unterschiede zwischen den Daten der ATAC Studie und diversen Online-MMORPG-Studien dadurch erklären, dass weibliche und ältere Spieler seltener über Foren kommunizieren und da-her schlechter erreicht werden. Zweitens untersucht die ATAC-Studie aber eben auch eine weiter gefasste Gruppe von Online-Spielern. Leider lässt sich somit nur sagen, dass in den bisherigen Onlinestudien junge gebildete Männer vermutlich überrepräsentiert waren, aber nicht wie die tatsächliche Verteilung aussahen. Einfach die Quoten der ATAC Studie als Grundgesamtheit der MMORPG-Spieler anzusehen, erscheint mir falsch. Daher wurde auch in dieser Master-Arbeit auf eine Gewichtung der Daten ver-zichtet.

3. Drei Uberlegungen zur Suchtwirkung von MMORPGs

3.1 Wie wirken Computerspiele (geistige Ebene)

Computerspiele bieten generelle ein hohes Eskapismuspotenzial, das m.E. deutlich hö-her liegt als das anderer Medienprodukte, was u.a. daran liegt, dass sich ein „Flow-Zu-stand“ bei Computerspielen besonders leicht erreichen lässt. Flow bezeichnet das völ-lige Aufgehen einer Person in einer Tätigkeit. Flow-Erlebnisse sind emotionale Zu-stände, in denen Handlung und Bewusstsein verschmelzen. Bei Computerspielen bildet sich Flow aus zwei Teil-Funktionskreisen, durch die Frustrationsspirale und die Flow-Spirale. Bei einer Frustrations-Spirale führen negativ-emotionale Spielfolgen dazu, dass die (nicht erlangten) Spielreize immer begehrlicher werden und der Spieler so „ge-zwungen“ wird immer mehr Zeit und Konzentrationskraft in ein Spiel zu investieren, etwa wenn ein Spieler ständig am selben Endgegner scheitert. Die Flow-Spirale hinge-gen schöpft sich aus den positiv-emotionalen Spielfolgen und der damit verbundenen unterbewussten Erwartung, dass sich diese Lust immer wieder herstellen lässt. Deshalb bleibt der Spieler in der für ihn befriedigenden Spielaktivität. Er steigert die Intensität der sekundären Spielhandlungen durch noch größere Konzentration, um auch schwieri-gere Levels des Spiels in den Griff zu kriegen und im Flow zu bleiben (vgl. Fritz 2005). So, wie ein Künstler beim Malen eines Bildes ab einem gewissen Punkt nicht mehr über das Bild oder irgendetwas anderes nachdeckt, sondern nur noch malt und in seiner Tä-tigkeit völlig aufgeht, finden auch beim Spielen eines Computerspiels ablenkende Ge-danken nicht mehr statt. Geht ein Computerspieler in diesem Gefühl auf, versinkt er gänzlich in sein Spiel und möchte sich nicht mehr daraus entfernen. In einem solchen Zustand werden selbst Hunger oder Müdigkeit stark gedämpft. Treten sie dennoch auf, werden sie als Störung des gewünschten Gefühls empfunden. Ganz verschmolzen mit seiner Tätigkeit achtet ein Spieler so nicht mehr auf die Zeit, auf Verpflichtungen in der realen Welt oder auf die Folgen lang andauernden Spielens (vgl. Fritz 2005).

Bergmann und Hüther beschreiben dies Erlebnis folgendermaßen:

„Das Körperempfinden bleibt jetzt weitestgehend zurück. Nur die Fingerspitzen auf der Tastatur verbinden ... [den Spieler] mit den Kontakten und Szenarien im Netz. Hier domi-niert der Gesichtssinn, die Augen, das Sehen, das bei längerem Spielen am Monitor immer fixierter wird. ... Der Spieler erlebt eine enorme Fokussierung seines Gesichtssinns bei gleichzeitigem Zurückbleiben des „restlichen“ Körpers und Körpergefühls – genau dies ist ein wesentlicher Teil der Faszination, die das Spielen am Computer ausmacht.“ (Bergmann / Hüther 2006, S. 50)

Jeder, der einmal eine ganze Nacht durchgespielt hat, dürfte ein solches oder ähnliches Gefühl kennen. Geschieht ein Versinken in einer virtuellen Welt nur gelegentlich und bestehen auch andere positive Erfahrungen außerhalb des Computerspielens, so stellt dies kein Problem dar. Es ist ein angenehmes Erlebnis, das sich auch in anderen Berei-chen findet. Ein Versinken in einer fiktiven Welt, unter Ausblendung weiter Sinnesein-drücke und der Umgebung, findet sich z.B. auch beim Lesen eines spannenden Buches. Ein Heraustreten aus dem alltäglichen Körpergefühl lässt sich auch, und noch intensi-ver, bei Meditation, Sex oder Sport erleben. Alle diese Tätigkeiten gelten als gesund für Körper und Geist. Problematisch wird ein Versinken in einer virtuellen Welt jedoch, wenn es der einzige bestimmende Lebensinhalt wird. Fehlen dem Spieler positive Er-lebnisse von Relevanz in der realen Welt, bieten sich Computerspiele regelrecht zur Realitätsflucht an, denn solange der Spieler spielt, kann er die Probleme seines Lebens nicht wahrnehmen. Grundsätzlich bieten fast alle Computerspiele und auch einige an-dere Tätigkeiten die Möglichkeit zu diesem Eskapismus. Bei MMORPGs ist diese Ge-fahr m.E. jedoch tendenziell höher einzuschätzen, da hier eine ohnehin aus dem Spiel-prinzip resultierende sehr lange Spielzeit hinzutritt. Außerdem besitzen diese Spiele kein natürliches Ende, an dem das Spiel durchgespielt ist. Hierbei tritt der sogenannte Zeigarninck- Effekt auf. Menschen neigen im Allgemeinen dazu, sich mit nicht been-deten Aufgaben auseinanderzusetzten und deshalb, sowohl praktisch als auch gedank-lich, immer wieder zu ihren Aufgaben zurückzukehren, bis sie vollständig gemeistert sind (vgl. Wlachojiannis 2008 S.22). Auf diese Weise kann sich dauerhafter Eskapis-mus relativ leicht aus dem Spielprinzip an sich ergeben, ohne dass es dem Spieler zu-nächst bewusst wäre.

Abgesehen vom beschrieben Eskapismus-Phänomen ist diese mentale Wirkung auch noch in einer weiteren Hinsicht für die Arbeit wichtig. Es ist sehr naheliegend, dass in-nerhalb eines Flow-Zustandes auch das Zeitempfinden verändert ist, und Spieler ihre Spielzeit unterschätzen. Den Antworten auf eine einfachen Zeitabfrage der Art „Wie lange Spielen Sie pro Tag?“, wie sie in den meisten MMORPG-Studien gestellt wurde, ist daher mit Misstrauen zu begegnen, möglicherweise sind diese Daten nach unten ver-zerrt. Auch ein in der Fallstudie untersuchte Spieler beschreibt dieses Problem:

“Die Spielzeit, die man angibt bei Umfragen, ist viel zu gering, aufgrund, dass man selbst das Zeitgefühl verliert. Ich selbst hätte früher steif und fest behauptet, dass ich nicht mehr als 6 Stunden am Tag spiele, als ich dann drauf geachtet habe, waren es mehr als 9 Stunden pro Tag.“ (Forum Onlinesuchte.de: Bekenntnis Nr. 137)

3.2 Welhe Be diirfnisse befrie digen MMORPGs? (Soziale Ebene)

Ausgehend von der Überlegung, dass hinter jeder Sucht eine Sehnsucht bzw. ein Gefühl der Hilflosigkeit steht, erscheint es sinnvoll zunächst zu analysieren, welche Bedürf-nisse MMORPGs befriedigen. Tatsächlich befriedigen MMORPGs eine Vielzahl von Bedürfnissen. An vorderster Stelle steht bei den meisten Spielern sicher das Bedürfnis nach Unterhaltung. Da dieses Bedürfnis für die Fragestellung dieser Arbeit aber höch-stens in dem Sinne relevant ist, als Personen, denen MMORPGs keinen Spaß machen, auch nicht nach ihnen süchtig werden, wird auf dieses Bedürfnis nicht weiter eingegan-gen werden. Relevant für die Fragestellung dieser Arbeit sind hingegen insbesondere das „Bedürfnis nach Meisterschaft“ und das „Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit“.

3.2.1 Das Bedürfnis nach Meisterschaft:

Die Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung sind in unsere Gesellschaft ungleich ver-teilt. Diese Ungleichheit beruht zum Teil auf der biologischen Grundausstattung, die jeder Mensch zufällig erhält (das Schicksal der Gene), zu einem Großteil aber auf sozial direkt und indirekt hergestellter Ungleichheit, durch eine ungleiche Verteilung von Res-sourcen, die soziale Integration oder Exklusion verschiedener Gruppen und diverse ge-sellschaftliche Zuschreibung- und Bewertungsprozesse. Aus individueller Perspektive beobachten daher Personen, dass einigen Menschen Status, Geld, Schönheit, Freund-schaften, Erfolg beim anderen Geschlecht, schulischer und beruflicher Erfolg ohne be-sondere Leistung zuzufallen scheint, während andere diese nur durch Anstrengung er-reichen können und eine dritte Gruppe auch trotz Anstrengung ihre Wünsche nicht in befriedigendem Maße erreichen kann. Bei vielen Menschen entsteht so - besonders, aber nicht nur in der Adoleszenz - das Bedürfnis, sich in eine „Mikrowelt“ zurückzu-ziehen, in der die eigene Meisterschaft außer Frage steht (vgl. Turkle 1984, S. 207ff.). Solche Mikrowelten können in den unterschiedlichsten Bereichen liegen. Bei dominan-ten Jugendlichen können sie beispielsweise in einer Clique bestehen, in der die eigene Führerschaft weitgehend anerkannt wird. Viele Mikrowelten bilden sich auch um ein-zelne Hobby-Bereiche, wie z.B. die Autoszene, Szenen diverser Sportarten oder eben Communities zu bestimmten Spielen.

Eng verbunden mit dem Bedürfnis nach Meisterschaft ist das Bedürfnis nach „Macht, Herrschaft und Kontrolle.“ Dieses Bedürfnis tritt bei allen wettbewerbsorientierten Spielen auf, nicht nur bei Computerspielen. Es findet sich bei Gesellschaftsspielen (Habe ich die Macht, meine Mitspieler an der Schlossallee „auszunehmen“?), ebenso wie im Sport (Muss ich ohnmächtig zusehen, wie der Ball in meinem Tor landet?). Die eigenen Fähigkeiten werden dann bedeutsam in Bezug auf Macht: Reichen meine Fä-higkeiten aus, das Spiel zu bestimmen, oder sind sie denen des Gegners unterlegen? Dominiere ich ihn, oder stehe ich ihm ohnmächtig gegenüber (vgl. Fritz 1997, S. 183)?

Computerspiele sind aus zwei Gründen für viele Menschen besonders gut geeignet, das Bedürfnis nach Meisterschaft auszuleben. Zum einen sind fast alle Computerspiele dar-auf ausgelegt, dem Spieler ein Gefühl von Macht und Kontrolle zu vermitteln und Raum für Allmachtsphantasien zu lassen (vgl. ebd., S.183ff. und vgl. Oerter 1997, S.61f.). In fast jedem Computerspiel kann der Spieler in die Rolle einer Figur mit sehr großen Fähigkeiten und sehr hoher Machtfülle schlüpfen und eine Rolle ausfüllen, die ihm im wahren Leben entweder unmöglich oder realistischer Weise nicht erreichbar ist (Zauberer, Feldherr, Elitesoldat, Bürgermeister, Diktator, Kampfpilot, Vampir). Eine Steigerung dieses Machterlebnisses kann im Multiplayermodus erreicht werden. Hier trifft die übernatürlich mächtige Spielfigur auf einen „echten Gegner“ mit ebenso über-natürlichen Fähigkeiten, an dem sie sich messen kann. Da von den meisten Spielern das Machtgefühl, etwa beim Sieg gegenüber einem Gegner, besonders intensiv erlebt wird, wenn hinter diesem eine reale Person steht, und nicht einfach vom Computer generierte Gegner, ist im Allgemeinen das Machterlebnis im Multiplayermodus größer.

MMORPGs verbinden das Streben nach Macht, Herrschaft und Kontrolle mit den spezi-fischen sozialen Elementen einer virtuellen Gemeinschaft bzw. der Gilde oder dem Clan (siehe auch Kapitel Virtuelle Gemeinschaft). Sie eignen sich insbesondere aus zwei Gründen dafür, das Bedürfnis nach Meisterschaft auszuleben. Zum einen ist Erfolg sehr leicht erreichbar. Beginnt ein Spieler ein MMORPG zu spielen, entwickelt er am An-fang zunächst einige neue Kompetenzen, die er benötigt, um das Spiel zu meistern. Spätestens nach ein paar Monaten aber ist eine wirkliche Weiterentwicklung des Spie­lers nicht mehr möglich, „Verbesserungen“ schlagen sich jetzt nur noch in „Zahlen“, „Spielleveln“ und „Stärken“ etc. nieder. Diese „Verbesserungen“ beruhen jedoch nicht auf einer verbesserten Spielkompetenz, sondern fast ausschließlich auf investierter Zeit (vgl. Poitzmann 2007, S.133). In einem MMORPG gibt es keinen besten Spieler, so wie es etwa einen besten Fußballer in einer Mannschaft gibt oder dies in einigen ande-ren Computerspielen der Fall ist. Während etwa bei Ego-Shootern durchaus nicht jeder Spieler in der Lage ist, online ganz oben mitzuspielen, da etwa das nötige Reaktions-vermögen fehlt, ist zum Aufstieg innerhalb eines MMORPGs in aller erster Line Zeit nötig. Während seines allmählichen Aufstiegs erhält der Spieler hierbei zunächst sehr schnelle Erfolgserlebnisse. Da die benötigten Punktzahlen um einen Rang innerhalb des Spieles aufzusteigen erst sehr niedrig sind und dann immer höher werden können am Anfang auch sehr schnell Erfolge gefeiert werden. Später vollzieht sich dieser Aufstieg dann immer langsamer. So kann beispielsweise in World of Warcraft der Aufstieg von Level 59 auf Level 60 durchaus genau so viel Zeit benötigen wie alle Levelaufstiege von Stufe 1 bis Stufe 40 zusammen (vgl. Spieleratgeber NRW: World of Warcraft - the Burning Crusade). Doch auch in höheren Spielklassen wird fast jede Handlung mit Punkten belohnt. Der weitere Aufstieg läuft nun zwar langsamer, aber im Grunde stei-gen Stärke und Prestige eines Avatars mit jedem weiteren Tag. Der Spieler wird immer mächtiger, auch im Vergleich zu anderen. Dieses hier beschriebene „Streben nach Meisterschaft“, gepaart mit dem Streben nach „Macht Herrschaft und Kontrolle“ wird im empirischen Teil zur Kategorie „Streben nach Prestige, Macht und Herrschaft“ zu-sammengefasst und operationalisiert werden (siehe Kapitel 4).

3.2.2 Das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit:

Das zweite Bedürfnis, das MMORPGs befriedigen, ist das nach sozialer Zugehörigkeit. Innerhalb der Spiele entwickeln sich soziale Beziehungen und regelrechte Online-Freundschaften. Diese Onlinekontakte können mitunter einem Freundschaftsnetzwerk in der realen Welt sehr nahe kommen. Es wird Zuneigung geäußert, wenn ein befreun-deter Avatar getroffen wird, es wird freundschaftlich kommuniziert, es werden gemein-sam Aufgaben bewältigt, es wird erwartet, sich auf einander verlassen zu können, was z.B. heißt, dass Verabredungen eingehalten werden. Es kommt durchaus vor, dass sich Personen ineinander verlieben, ohne sich im realen Leben getroffen zu haben. Es gibt z.T. sexuelle Aktivitäten innerhalb des Spiels und sogar virtuelle Ehen werden in den Spielen geschlossen8. In den Selbstzeugnissen der dieser Studie vorausgehenden Fallstudie fanden sich zahlreiche Spieler, die berichteten, dass sie sich von ihren Mits-pielern besser verstanden fühlten, als von Menschen in der realen Welt. Diesem hier be-schrieben sozialen Mechanismus entsprechen die sozialen Bindungsfaktoren des empi-rischen Teils (siehe Kapitel 4). Zur Verdeutlichung dieses Aspektes möchte ich hier das Bekenntnis einer ehemals WoW- abhängigen Jugendlichen anführen:

„Ich war Teil einer Community. Ich hatte Freunde... Im Spiel zwar, aber ich kannte sie besser als jeder andere und sie kannten mich [...] Jede freie Minute verbrachte ich ab jetzt auf dem Sessel in meinem Wohnzimmer... Warum? Ganz einfach. Im Internet da war ich wer... in dem Spiel, da gab es gewisse Stufen, die man erreichen konnte. Je höher die Stufe, je höher das Ansehen. Innerhalb von 8 Monaten hatte ich die höchste Stufe erreicht. In jedem Chan [Chat-Kanal] wurde ich mit Freude begrüßt. Ich wurde geachtet, ich wurde gemocht, ich wurde respektiert. Genau das was ich immer wollte: beliebt sein... Es war wie auf einem mordsmäßigen Trip. Im Real [richtigen Leben] haben mich meistens alle gehänselt, ich war ein NIEMAND. Aber im Spiel war ich JEMAND“ (Berufsschülerin, 17 Jahre, Forum Onlinesucht.de , Bekenntnis Nr. 131).

Gerade für unsichere Menschen besteht in MMORPGs die besonders attraktive Mög-lichkeit diese zwei Bedürfnisse „Streben nach Meisterschaft“ und „soziale Zugehörig-keit“ in einem geschützten Raum ausleben zu können. Ohne sein vertrautes Zuhause verlassen zu müssen, wird der Spieler immer mächtiger, erlebt Abenteuer, dringt in im-mer neue, immer bessere Teile der Spielwelt vor und lernt andere Menschen kennen. Der (Spiel-) Erfolg, und nur dieser (!), ist für jedermann sichtbar. Jeder Spieler kann selbst entscheiden, was er von seiner realen Person preisgibt. Alle Zumutungen der realen Welt bleiben in der realen Welt. Durch die Anonymität des Netzes bleibt dem Spieler jede Kritik an seiner Person außerhalb des Spiels erspart.

3.3 Konzeption von MMORPGs a ls nicht monet a res Gliicksspiel

Das Spielprinzip eines MMORPGs weist eine strukturelle Ähnlichkeit zu klassischem Glücksspiel auf. Hinter fast jeder Aufgabe, die ein Spieler in diesen Spielen bewältigt, steht die Jagd nach virtuellem Gold und begehrten virtuellen Ausrüstungsgegenständen, die beispielsweise beim Töten eines NPCs als Belohnung wirken. Diese Belohnungen erhält der Spieler jedoch nicht nach jedem Sieg, sondern je nach Ausrüstungsgegens-tand und bewältigter Aufgabe nach einem Quotenmodell. Wirklich wertvolle Items werden dabei nur mit minimaler Wahrscheinlichkeit „ausgespielt“. So wie bei einem Spielautomaten die Wahrscheinlichkeit für den Jackpot sehr gering ist, aber trotzdem der große Gewinn gleichermaßen bei jedem Spiel winkt, gilt analog dasselbe für MMORPGs. Dies führt für Außenstehende zu kaum nachvollziehbaren Verhaltenswei-sen, wie dem sogenannten „farmen“. Stundenlang werden immer wieder dieselben Monster getötet, nur um einen bestimmten Ausrüstungsgegenstand zu gelangen, der mit nur minimaler Wahrscheinlichkeit generiert wird (vgl. Griffiths 2008).

4. Die Fragestellung und die Hypothesen

Ausgehend von den eben dargelegten Überlegungen und den Ergebnissen der Fallstudie aus dem Frühjahr 2007 lassen sich nun konkrete Annahmen über die Suchtwirkung von MMORPG-Spielen und besonders gefährdete Personengruppen formulieren:

I) Wenn eine Person in der realen Welt unzufrieden ist, da sie beispielsweise in einem Konflikt mit anderen Menschen steht oder keinen Erfolg erlangen kann, bieten ihr MMORPGs in zweifacher Hinsicht einen Ausweg. Erstens bieten die Spiele die Mög-lichkeit, diese Bedürfnisse in der virtuellen Welt befriedigen zu können. Hierbei besteht die insbesondere für verunsicherte Menschen attraktive Möglichkeit Erfolgserlebnisse und soziale Anerkennung im geschützten Raum zu suchen, ohne den Schutzraum seines Zuhauses verlassen zu müssen. Da im Spiel nur das Spiel zählt und nicht zu erkennen ist, welche reale Person sich hinter welchem Avatar verbirgt, entfallen zudem tatsächli-che oder vermeintliche Schranken zur Anerkennung, denen sich die Spieler im realen Leben ausgesetzt sehen, wie beispielsweise schulischer oder beruflicher Erfolg, Schön-heit oder Statussymbole. Zweitens besteht hier, wie bei anderen Spielen auch, die Mög-lichkeit zum Eskapismus. Während eines Computerspiels ist es wegen des Flows in der Regel nicht möglich, gleichzeitig an etwas anderes außerhalb des Spiels zu denken. Probleme außerhalb des Spiels können so sehr leicht vorübergehend ausgeblendet wer-den. Hierbei gilt: je belastender das eigene Leben erlebt wird, desto größer ist das Be-dürfnis nach Eskapismus. Problematisch bei MMORPGs ist dabei, dass sich dauerhafter Eskapismus leicht durch die aus dem Spielprinzip resultierenden ohnehin sehr langen Spielzeiten schleichend von allein entwickeln kann.

[...]


1 Fur MMORP Gs werden auch die Begriffe MMROPG (Massively Multiplayer Role-Playing Online Game), MMOG (Massively Multiplayer Online Game), MMO (Massiveley Multiplayer Online) und MMO (Massively Multiplayer Online Game) verwendet.

2 In der Literatur ist umstritten inwiefern der Terminus Sucht verwendet werden sollte. Insbesondere in vielen psychologischen Publikationen wird der Begriff „Sucht" bzw. „Addiction" nicht mehr benutzt und durch „Abhängigkeitsyndrom" fi r stoffgebundene Si chte und „ Impulskontrollstörung" oder „Zwangsstörung" ersetzt. Da der Begriff „Sucht" jedoch sowohl allgemein als auch offiziell gebraucht wird (z.B. „Suchthilfe") und auch in der Wissenschaft bei vielen nicht psychologischen Autoren Verwendung findet, wird im Folgenden einfach von Sucht gesprochen werden. In dieser Arbeit werden Sucht und Abhängigkeit als synonyme Begriffe verwendet werden. Zudem wird mittlerweile auch innerhalb der Psychologie diskutiert den Suchtbegriff wieder zu verwenden (vgl. O'Brien 2006).

3 Viele in der Fallstudie untersuchte Bekenntnisse stammen aus den Jahren 2003-2005.

4 Je nach Spiel hat sich für diese Zusammenschlüsse entweder der Begriff Clan oder Gilde eingebürgert. Die Begriffe meinen dasselbe.

5 Der Aspekt des Flows wird in Kapitel 3.1 näher erläutert werden.

6 Andere gesichtete Studien sind aufgrund eines anderen zugrundeliegenden Bildungssystems nicht in ausreichendem Mahe mit Deutschland vergleichbar.

7 Cypra verwendete in seiner Studie eine andere Typisierung mit nur drei Stufen, die nicht der später in dieser Master-Arbeit verwendeten vierstufigen Typisierung entspricht.

8 Nach einer Studie von Nick Yee sind 10% aller männlichen Spieler und 33% aller weiblichen Spieler mindestens einmal im Spiel verheiratet gewesen. Die Mehrzahl der Spieler findet ein solches Verhalten jedoch albern (vgl. Yee, 2003 An Ethnography of MMORPG Weddings)

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Was treibt Menschen in virtuelle Welten?
Untertitel
Eine Untersuchung über die Auswirkungen unterschiedlicher Selbstkonzepte und Bindungsfaktoren auf die Spielzeit und Suchtneigung von MMORPG-Spielern
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
98
Katalognummer
V141889
ISBN (eBook)
9783640515486
ISBN (Buch)
9783640515233
Dateigröße
1888 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Menschen, Welten, Eine, Untersuchung, Auswirkungen, Selbstkonzepte, Bindungsfaktoren, Spielzeit, Suchtneigung, MMORPG-Spielern
Arbeit zitieren
Cordt Hollburg (Autor:in), 2009, Was treibt Menschen in virtuelle Welten?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141889

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