Jürgen Habermas, Charles Taylor und die deutsche Zuwanderungspolitik


Hausarbeit, 2003

40 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalts- und Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Charles Taylor: Politik der Anerkennung
2.1 Inhaltliche Zusammenfassung und Voraussetzungen
2.2 Der Zusammenhang von Anerkennung und Identität
2.3 Politik des Universalismus und Politik der Differenz
2.3.1 Menschenbild
2.3.2 Ziele
2.3.3 Die Politik der allgemeinen Menschenwürde
2.3.4 Modelle liberaler Gesellschaften
2.4 Gleichwertigkeit von Kulturen

3 Habermas` Kritik an Charles Taylor Politik der Anerkennung in dem Kommentar „Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat
3.1 Der überflüssige Liberalismus
3.2 Anerkennungskämpfe: Phänomene und Analyseebenen
3.2.1 Feminismus
3.2.2 Kulturelle und ethnische Minderheiten
3.2.3 Nationalistische Bewegungen von nationalen Minderheiten
3.2.4 Eurozentrismus
3.2.5 Level of Analysis
3.3 Die Neutralität des Rechtsstaats
3.3.1 Die Bedeutung der Sozialstruktur
3.3.2 Die Problematik nationaler Selbstbestimmung
3.3.3 Möglichkeiten friedlicher Koexistenz
3.4 Koexistenz vs. Artenschutz von Kulturen
3.5 Grenzen der liberalen Toleranz
3.5.1 Die zwei Ebenen der Integration
3.5.2 Zusammenhang zwischen den Integrationsebenen und politischer Kultur

4 Die Immigrationspolitik der BRD
4.1 Die Entwicklung der Einwanderung in die BRD seit 1945
4.1.1 Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten sowie der SBZ
4.1.2 “Gastarbeiter“
4.1.3 Zuzug von Familienangehörigen ausländischer Arbeitnehmer und steigende Asylbewerberzahlen
4.1.4 Aussiedler
4.2 Der Umgang der BRD mit Immigranten und Asylsuchenden
4.3 Zugangsbedingungen
4.3.1 Assimilation
4.3.2 Anrecht auf Migration
4.4 Der Asylkompromiss von 1993
4.5 Fazit

5 Schluss

6 Anhang

7 Literaturverzeichnis

8 Quellenverzeichnis

Tabelle 1: Anzahl ausländischer Bürger im Bundesgebiet seit 1960

1 Einleitung

Begriffe aus dem Bereich des Multikulturalismus sind heute alltäglich: Ob es um Gastronomie geht, um Musik, Kunst oder um das Bildungswesen – „multikulturelle Gesellschaft“ ist Bestandteil des aktiven Wortschatzes geworden. Was steckt aber hinter diesem Begriff?

Eine Antwort darauf versucht nicht nur die politische Theorie zu finden, auch Philosophie, Soziologie, Kommunikationswissenschaften, Kulturwissenschaften und viele andere Fachbereiche beschäftigen sich mit der Analyse des MultikulturalismuS. Im Gebiet der Politologie ist Charles Taylor einer der etabliertesten und aktivsten Autoren. Sein Vorgehen und seine Lösungsvorschläge sind sowohl philosophisch fundiert als auch umfassend anwendbar, d.h. nicht nur für einen speziellen Problembereich geschaffen. Sein ausführliches Essay „Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung“[1] stellt einen wertvollen Beitrag zur Debatte über den Umgang mit nationalen Minderheiten, Migration und Diskriminierung dar. Der in der deutschen Ausgabe veröffentlichte Kommentar von Jürgen Habermas mit der Überschrift „Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat“ bietet außer einer ausführlichen Analyse und Kritik der Taylorschen Positionen auch interessante Ansätze zur politisch-philosophischen Betrachtung der Situation in Deutschland.

Zu Beginn dieser Arbeit möchte ich daher Taylors Politik der Anerkennung in ihren Grundzügen beschreiben, mit einem Schwerpunkt auf den zwei unterschiedlichen Möglichkeiten, die er in einem liberalen Staat für den Umgang mit Minderheiten sieht. Davon ausgehend möchte ich Habermas` Analyse und Kritik dieses Konzepts erläutern, um dann seine Beschreibung von Anerkennungskämpfen und seine Lösungsvorschläge aufzugreifen. Der vierte Teil enthält eine kurze Betrachtung der Immigrationspolitik in der Bundesrepublik, in der ich überprüfe, inwieweit die Prämissen Habermas` zum Umgang mit Forderungen nach Anerkennung umgesetzt werden. Als letztes folgen schließlich eine Zusammenfassung meiner Erkenntnisse und ein Ausblick auf die mögliche Fortsetzung der Multikulturalismus-Debatte.

2 Charles Taylor: Politik der Anerkennung

2.1 Inhaltliche Zusammenfassung und Voraussetzungen

Von grundlegender Bedeutung für seine Theorie ist Taylors soziale Konzeption des Menschen, wie er sie auch in anderen Schriften vertreten hat[2]: Der Mensch ist nur als gesellschaftliches Wesen denkbar, erst die Gemeinschaft mit anderen macht ihn zum Menschen. Mit dieser Auffassung stellt er sich klar gegen die klassische liberale Auffassung, die vom Menschen als autonomem Individuum ausgeht.

2.2 Der Zusammenhang von Anerkennung und Identität

Zu Beginn seiner Überlegungen stellt Taylor die These auf, „unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt, so dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ihm ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt“ (Taylor, 1996: S. 13/14). Des Weiteren definiert er das Verlangen nach Anerkennung als ein menschliches Grundbedürfnis. Um das moderne Interesse an Anerkennung und Identität zu erklären, beschreibt er zunächst die historisch-philosophische Entwicklung heute selbstverständlicher Begriffe wie Identität und Authentizität ein. Für entscheidend hält er dabei der Übergang von der Ehre zur Würde und die seit Ende des 18. Jahrhunderts entstandene Auffassung einer individualisierten Identität.

Den Begriff der Ehre definiert Taylor in Anlehnung an Montesquieu: „Ehre beruht auf Bevorzugung und Besserstellen“ (ebd. S. 15). Ehre ist also mit dem gesellschaftlichen Aufstieg innerhalb der engen vorgegebenen Hierarchien verknüpft. Den modernen Begriff der Würde sieht Taylor als Gegensatz dazu: Würde wird in einem „universalistischen und egalitären“ (ebd. S. 16) Sinne gebraucht und ist wesentlicher Bestandteil der demokratischen Kultur.

Für diese Auffassung einer individuellen Identität verwendet Taylor den Begriff „Authentizität“, der sich aus dem Moralitätsempfinden des 18. Jahrhunderts entwickelte und Teil der Subjektivierung der neuzeitlichen Kultur ist. Die entscheidende Formulierung für diese Entwicklung findet Taylor bei Herder: „Jeder Mensch hat ein eigenes Maß“ (ebd. S. 19). Die Idee der Authentizität führte im Rahmen der Entstehung demokratischer Gesellschaften zu einem größeren Selbstbewusstsein im wörtlichen Sinne, das letztlich auch die gesellschaftlichen Rollenmuster in Frage stellte.

Im Zusammenhang mit der Authentizität betont Taylor den „dialogischen Charakter menschlicher Existenz“ (ebd. S. 21). Als zentral für diesen Dialog hält er Sprachen im weitesten Sinne, die man sich aneignen müsse. Erst durch ihren Gebrauch könne man in Interaktion mit der Umwelt treten. Die Ausführung dieses Arguments führt Taylor zu der Frage, was Identität sei: Er definiert sie als „Rahmen, in dem unsere Vorlieben, Wünsche, Meinungen und Strebungen einen Sinn bekommen“ (ebd. S. 23). Identität muss zwangsläufig dialogisch sein; wie Kommunikation kann Identität nicht für sich entstehen und fortbestehen. Das Problem der Anerkennung gewinnt im Rahmen dieser Erkenntnisse an weiterer Bedeutung: Anerkennung ist durch die Individualisierung der Identität wesentlich weniger selbstverständlich geworden, da die festen sozialen Kategorien, die früher allgemeine Anerkennung garantierten, durch Austausch und Dialog ersetzt wurden. Neu daran ist laut Taylor, dass das „Streben nach Anerkennung scheitern“ (ebd. S. 24) kann.

2.3 Politik des Universalismus und Politik der Differenz

Aus den oben in beschriebenen Entwicklungen leitet Taylor zwei politische Möglichkeiten des Umgangs mit Anerkennung ab; er nennt sie Politik des Universalismus und Politik der Differenz. Beide beruhen auf der Idee der Gleichachtung und weisen daher diverse Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auf. Betrachtet man allerdings die unterschiedliche Definition des Begriffs „Gleichrangigkeit“, kann man die Politik der Differenz durchaus als eine logische Weiterentwicklung der Politik des Universalismus bezeichnen.

2.3.1 Menschenbild

Unterschiedlich sind auch die Grundideen über den Wert des Menschen, die den beiden Politiken zugrunde liegen: Während die Politik des Universalismus in der Tradition Kants von dem Begriff der menschlichen Würde im Sinne eines allgemeinen menschlichen Potentials zum vernünftigen Handeln ausgeht, ist die Politik der Differenz der Ansicht, das Achtung gebietende am Menschen sei sein Potential, “eine eigene individuelle oder auch kulturelle Identität hervorzubringen und zu definieren“ (ebd. S. 32). Zwei unterschiedliche Forderungen können aus diesen Grundsätzen abgeleitet werden: Erstens die Forderung nach gleicher Achtung für alle und zweitens die nach gleich viel Respekt für verschiedene Kulturen ohne die Möglichkeit einer Wertung. Hier sieht man den gravierenden Unterschied zwischen den beiden Politiken, der sich ja auch schon im Namen entdecken lässt: Gemeinsamkeiten vS. Unterschiede. Im weiteren Verlauf werden wir diesen Unterschied noch deutlicher herausarbeiten.

2.3.2 Ziele

Beide Politiken zielen auf eine Gesellschaft gleichberechtigter Bürger. Während allerdings die Politik des Universalismus diejenigen Eigenschaften zur Grundlage ihrer Überlegungen macht, die allen Menschen gemeinsam sind oder allen Menschen gleichermaßen zustehen, geht die Politik der Differenz davon aus, dass Anerkennung erst durch Anerkennung der Unterschiede zwischen den Menschen erlangt werden kann. „Wir können das, was universell vorhanden ist –jeder Mensch hat eine Identität- nur anerkennen, indem wir auch das, was jedem Einzelnen eigentümlich ist, anerkennen. Die aufs Allgemeine gerichtete Forderung wird zur Triebkraft der Anerkennung des Besonderen.“ (ebd. S. 29).

Die Politik des Universalismus setzt sich für differenzblinde Formen der aktiven Nicht-Diskriminierung ein; ihr Ziel ist „die Angleichung und der Ausgleich von Rechten und Ansprüchen“ (ebd. S. 27). Im Gegensatz dazu nimmt die Politik der Differenz häufig eine Neudefinition des Begriffs Nicht-Diskriminierung vor und fordert ausgehend davon, „die Unterschiede zur Grundlage einer differenzierenden Praktik [zu] machen“ (ebd. S. 30).

Die Konfliktlinie zwischen den beiden Politiken verläuft entlang des Umgangs mit Diskriminierung: die aktive Nicht-Diskriminierung der universalistischen Politik muss sich den Vorwurf gefallen lasse, „sie negiere die Identität, indem sie den Menschen eine homogene, ihnen nicht gemäße Form aufzwinge“ (ebd. S. 34), die Politik der Differenz dagegen muss sich gegen den Vorwurf der Diskriminierung verteidigen.

2.3.3 Die Politik der allgemeinen Menschenwürde

Um näher auf die Problematik dieser beiden Konzepte einzugehen, umreißt Taylor kurz den Zusammenhang zwischen der Abhängigkeit von anderen und einem hierarchischen System, wie ihn auch Rousseau herstellt. Dazu erläutert er Rousseaus Grundgedanken, dass Abhängigkeit nicht nur politischer, finanzieller usw. Natur sein kann, sondern auch aus dem „Bedürfnis nach der wohlwollenden Meinung anderer“ (ebd. S. 36) entstehen kann. Dies ist allerdings nur möglich, solange es ein System der Bevorzugung gibt. Daraus folgt nun die paradoxe Situation, dass „die Einzelnen über ungleich viel Macht [verfügen], aber alle […] gleichermaßen voneinander abhängig“ (ebd. S. 36) sind. Die Lösung hierfür findet Taylor in Rousseaus Vorstellungen einer idealen Republik: Gleichheit, Gegenseitigkeit und Einmütigkeit im Wollen führen zu einer Gleichheit in der gegenseitigen Wertschätzung, die ihrerseits die Einmütigkeit im Wollen bedingt. Die Hauptproblematik der Rousseauschen Politik der allgemeinen Menschenwürde sieht Taylor vor allem darin, dass die von ihm geforderte Einmütigkeit des Wollens eine „rigorose Ausschließung jeder Rollendifferenzierung“ (ebd. S. 42) fordert und die Abhängigkeit vom allgemeinen Willen zum wichtigsten Instrument, um zweiseitige Abhängigkeitsbeziehungen zu vermeiden macht. Dies lässt an Tyrannei in all ihren Formen denken.

2.3.4 Modelle liberaler Gesellschaften

Die Frage, ob jede Politik des Universalismus und der allgemeinen Menschenwürde in einer derartigen Homogenisierung enden müsse, führt Taylor zu anderen universalistischen Liberalismusmodellen, die „die allgemeine Freiheit von den anderen Elementen der rousseauschen Dreiheit“ (ebd. S. 43) trennen und eine Rechtsgleichheit für alle Bürger zum Ziel haben. Der Vorwurf, der diesen Formen des universalistischen Liberalismus häufig gemacht wird, lautet, sie seien nicht in der Lage, Differenzen und Besonderheiten anzuerkennen. In ihrer restriktivsten Interpretation von Rechtsgleichheit gehen dieses Liberalismusmodelle davon aus, dass ein Grundrechtskatalog universal anwendbar ist und unterschiedliche kulturelle Kontexte oder kollektive Ziele in keinem Fall berücksichtigen darf, dass Grundrechte also absoluten Vorrang vor Vor- und Sonderrechten haben. Der Mensch wird hier als „ein Subjekt der selbstbestimmten, auf Selbstausdruck zielenden freien Entscheidung“ (ebd. S. 51) betrachtet. In der Konsequenz muss ein solcher liberaler Staat auch kulturell neutral sein. Vertreter eines solchen Liberalismus sind unter anderem John Rawls und Ronald Dworkins, von dem auch der treffende Begriff der prozeduralen Republik stammt[3]. Eine solche prozedurale Republik sieht Taylor am ehesten in den Vereinigten Staaten umgesetzt.

Diesem Modell setzt Taylor nun ein weiteres, differenzierteres Modell einer liberalen Gesellschaft gegenüber, für das er als Beispiel die kanadische Provinz Quèbèc wählt. Diese Gesellschaft kann durchaus kollektive Ziele verfolgen, also eine gemeinsame Vorstellung vom guten Leben teilen, ohne denjenigen, die diese Vorstellung nicht teilen, die Anerkennung zu verweigern. Wichtig und ausschlaggebend ist dabei der Umgang mit Minderheiten, vor allem mit „jenen, die ihren kollektiven Zielen nicht folgen mögen“ (ebd. S. 53). Eine solche Gesellschaft kann also liberal sein, sofern sie in der Lage ist, „Vielfalt zu respektieren […] und vorausgesetzt, sie kann die Grundrechte angemessen garantieren“ (ebd. S. 53).

Nachdem er diese beiden Formen liberaler Gesellschaften erläutert hat, befürwortet Taylor schließlich ohne weitere Ausführungen diejenigen, die keine prozeduralen Liberalismusmodelle sind, sondern sich stets auf dem schmalen Grat zwischen der Wichtigkeit bestimmter Formen der Gleichbehandlung und der Wichtigkeit des Überlebens einer Kultur befinden, und sich die Freiheit nehmen, gegebenenfalls zugunsten letzterer entscheiden zu können.

2.4 Gleichwertigkeit von Kulturen

Als nächstes geht Taylor auf die Annahmen, die zu der Forderung eines kulturell neutralen Liberalismus führen, ein und erklärt, warum er sie für falsch hält.

Aus der Erwartung, ein differenzblinder Liberalismus müsse „eine neutrale Grundlage, auf der Menschen aller Kulturen einander begegnen und miteinander existieren können“ (ebd. S. 56/57) errichten, erwächst die Forderung nach Abgrenzungen unterschiedlicher Sphären[4], wie etwa der von Staat und Religion, um zu verhindern, dass die „einander widerstreitenden Unterschiede“ (ebd. S. 57) die politische Sphäre bedrohen oder beeinträchtigen. Taylor dagegen sieht den Liberalismus als „politischen Ausdruck eines bestimmten Spektrums von Kulturen“ (ebd. S. 57) und bezeichnet den ihn als „organisch aus dem Christentum hervorgegangenes Ideengebäude“ (ebd. S. 57)[5]. Ein liberaler Staat kann also kulturell nicht neutral sein, sondern ist bereits Ausdruck einer Kultur.

Von diesem Ausgangspunkt gelangt man nun zu einem besonders akuten Problem der Multikulturalismusdebatte: Dem Problem der Überlagerung bestimmter Kulturen durch vermeintlich überlegene andere Kulturen. Dieses Problem verknüpft Taylor eng mit dem Problem der Anerkennung und erläutert im Folgenden die Forderung nach der Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Kulturen. Dass das Aufnötigen eines fremden Selbstbildes eine der stärksten Waffen der Unterdrücker seien und dass eine Veränderung dieses Selbstbildes zu einem Kampf führt, „der sich einerseits im Beherrschten abspielt, andererseits gegen den Herrscher richtet“ (ebd. S. 61), setzt Taylor als Grundannahme voraus.

Am Beispiel der kontroversen Diskussion, die in den USA um die Erweiterung des Literaturkanons an Schulen und Universitäten geführt wird[6], geht er nun genauer auf die Forderung nach gleicher Wertschätzung aller Kulturen ein. Im Kern geht es dabei um die Forderung nach einer Erweiterung des Lehrplans auf der Grundlage des Zusammenhangs von Identität und Anerkennung: Durch die Revision der bisher vermittelten falschen bzw. einseitigen Bilder sollen Freiheit und Gleichheit gefördert werden und den bisher vernachlässigten oder verkannten Minderheiten gebührende Anerkennung gezollt werden. Die dabei häufig vorgebrachte Überzeugung, alle Kulturen hätten den gleichen Wert, ist Taylor zufolge nicht völlig falsch, kann aber nicht Argument für ein Urteil über eine andere Kultur, sondern nur Ausgangshypothese für eine Beschäftigung mit einer anderen Kultur sein. Während dieser Beschäftigung muss nun eine sog. „Horizontverschmelzung“ (ebd. S. 63) eintreten: Im Rahmen der Beschäftigung mit der fremden Kultur verändern sich die eigenen Wertmaßstäbe und der eigene Horizont wird erweitert.[7] Erst dieser Vorgang kann zu einem wirklichen Werturteil führen, während die aus der Annahme der Gleichwertigkeit der Kulturen abgeleiteten „gebieterisch vorgetragenen Forderungen nach positiven Werturteilen“ (ebd. S. 68) zu einer Homogenisierung führen, da wegen der fehlenden Horizontverschmelzung die eigenen Kriterien immer gleich bleiben und Urteile über andere Kulturen so unbewusst in bereits vorhandene Kategorien gepresst werden.

Taylor befindet zu guter Letzt folgendes Vorgehen für richtig: Eine Annahme von Gleichwertigkeit, die keinerlei endgültigen Urteile fordert, sondern den Weg zu vergleichenden Kulturstudien öffnet, sowie sie Erkenntnis, dass der relative Wert einer Kultur nur nach sehr langen und mühevollen Studien tatsächlich erkannt werden kann, dass dies aber nicht Ziel der Beschäftigung mit einer fremden Kultur ist.

3 Habermas` Kritik an Charles Taylor Politik der Anerkennung in dem Kommentar „Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat

Der Kommentar, den Jürgen Habermas zu Charles Taylors ausführlichem Essay „Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung“ verfasst hat, enthält zum einen eine ausführliche Analyse und Kritik von Taylors Thesen, zum anderen aber auch eine Situationsanalyse der Anerkennungsproblematik in der Bundesrepublik. Seine Grundthese lautet dabei, der sog. Liberalismus 2 der Taylorschen Politik der Anerkennung sei überflüssig, sofern die Theorie der Rechte nur konsequent durchgesetzt würde. Um diese These zu untermauern erläutert er eingangs die Fragen, die ihn zu einer Beschäftigung mit Taylor und zu einem Kommentar ausgerechnet diesen Buches führen. Im Kern ist diese Motivation in der Diskrepanz zwischen dem liberalen Rechtssystem und den politischen Forderungen, die im Rahmen von Anerkennungskämpfen gestellt werden, zu finden.

Um diese Diskrepanz herauszuarbeiten, geht Habermas zunächst auf den liberalen Verfassungsbegriff und stellt fest, dass dieser insofern individualistisch geprägt ist, als dass er sich ausschließlich auf „den Schutz der individuellen Rechtspersonen“ (ebd. S. 147) bezieht. Des Weiteren weist er auf die Rolle der Verfassung im Laufe der Zeit hin: Anforderungen an sie und ihre Interpretation können sich im Laufe der Zeit ändern. Ein dritter Punkt, der seiner Meinung nach mit den Kollektivrechten und –Ansprüchen kollidiert, ist die Entwicklung des Kampfes gegen „die Unterdrückung von Kollektiven, denen gleiche soziale Lebenschancen vorenthalten wurden“ (ebd. S. 148) zu einem Kampf „um die sozialstaatliche Universalisierung der Bürgerrechte“ (ebd. S. 148), die ja mit der Theorie der Rechte, wie Rawls sie fordert durchaus vereinbar ist.

Diese drei Punkte formuliert Habermas nun als Gegensatz zu den Anerkennungskämpfen, die er in Anlehnung an Honneth[8] als Kampf zur Durchsetzung von Ansprüchen auf die Anerkennung kollektiver Identitäten auffasst, der von kollektiven Akteuren geführt wird und aus „kollektiven Erfahrungen verletzter Integrität“ (ebd. S. 148) entsteht. Die kollektiven Rechte, die in diesen Anerkennungskämpfen gefordert werden, treffen nun auf einen Rechtsstaat, der im Umgang mit Gerechtigkeit auf subjektive Rechte fixiert ist. Hier setzt Habermas zur Analyse des Taylorschen Essays an und stellt noch in der Einleitung fest, dass Taylors Schlussfolgerungen selbst den „individualistischen Kern des modernen Freiheitsverständnisses“ (ebd. S. 149) in Frage stellen.

3.1 Der überflüssige Liberalismus 2

Nachdem er bereits die Begriffe des Liberalismus 1 und Liberalismus 2 eingeführt hat[9], geht er nun zu einer näheren Untersuchung der Theorie Taylors über. Er erklärt hierfür zuerst die Forderungen, die aus mangelnder Anerkennung resultieren: Erstens die Angleichung sozialer Lebendbedingungen, also die Forderung nach gleicher subjektiver Freiheit aller, und zweitens den „Schutz der Integrität der Lebensformen und Traditionen, in denen sich Angehörige diskriminierter Gruppen wieder erkennen können“ (ebd. S. 151), also eine Forderung nach Sicherung kollektiver Identität. Als kontroversen Punkt erkennt er dabei die Vereinbarkeit dieser Forderungen.

Taylors Ansicht nach kommt es zwangsläufig zu Kollisionen dieser beiden Forderungen, da die zweite eben jene Besonderheiten in den Mittelpunkt stellt, von denen die erste Forderung sich distanziert. Daraus leiten sich nun im Rahmen des Gleichbehandlungsgrundsatzes zwei unterschiedliche Politiken ab: Eine „Politik der Beachtung kultureller Differenzen“ (ebd. S. 151), bei Taylor die Politik der Differenz, und eine „Politik der Verallgemeinerung subjektiver Rechte“ (ebd. S. 151), die Taylor Politik des Universalismus nennt[10]. „Die eine Politik soll den Preis ausgleichen, den die andere in Gestalt eines gleichmachenden Universalismus fordert.“ (ebd. S. 151). Diese beiden Politiken bilden einen Widerspruch zu der liberalen Prämisse des kulturell neutralen Rechtsstaates – eine Prämisse, der der Kommunitarismus jede Berechtigung abspricht. Taylor versucht, am Beispiel der kanadischen Provinz Quèbèc zu beweisen, dass diese Prämisse falsch ist. Habermas kritisiert außer Taylors subjektiver Beweisführung und der fehlenden Belegung seines Beispieles auch den Kerngehalt dieser Aussage: Seiner Ansicht nach ist „eine richtig verstandene Theorie der Rechte gegenüber kulturellen Differenzen keineswegs blind“ (ebd. S. 153).

[...]


[1] C. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas. Hg.: Amy Gutman. Frankfurt a. M. 1997.

[2] z.B.: C. Taylor: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a. M. 1988.

[3] R. Dworkin: Liberalism. In: S. Hampshire (Hrsg.): Public and Private Morality, Cambridge 1978.

Vgl. auch M. Sandel: The procedural Republic and the Unencumbered Self, Political theory 12 (1984), S. 81-96.

[4] Vgl. hierzu auch M. Walzer: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1992.

[5] Geht man davon aus, dass der Liberalismus ein durch und durch christlicher Gedanke ist, verliert der Vorwurf, die institutionellen Garantien der christlichen Kirchen in der BRD widerspreche den Grundsätzen des Liberalismus, wie ihn etwa Habermas erhebt (Taylor 1997; S. 168), an Schärfe. Dazu auch: C. Taylor: The Rushdie Controversy, Public Culture 2, Nr. 1 (Herbst 1989), S.118-122.

[6] Vgl. dazu den Kommentar von Amy Gutman in Taylor 1997.

[7] Vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1975.

[8] A. Honneth: Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1992

[9] Er nennt sie „zwei Lesarten des demokratischen Rechtsstaates“ (Ebd., S.150).

[10] vgl. hierzu Taylor 1997; S.27 – 35.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Jürgen Habermas, Charles Taylor und die deutsche Zuwanderungspolitik
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Geschwister-Scholl Institut für Politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Jürgen Habermas: Ausgewählte Texte
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
40
Katalognummer
V14177
ISBN (eBook)
9783638196468
ISBN (Buch)
9783640612215
Dateigröße
527 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jürgen, Habermas, Charles, Taylor, Zuwanderungspolitik, Jürgen, Habermas, Ausgewählte, Texte
Arbeit zitieren
Katharina Bläsing (Autor:in), 2003, Jürgen Habermas, Charles Taylor und die deutsche Zuwanderungspolitik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14177

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