Subjektive Vorstellungen von Gesundheit und Spiritualität


Magisterarbeit, 2009

107 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Problemstellung

2. Gesundheit
2.1 Das Gesundheitsverständnis im historischen Wandel
2.2 Gesundheit im salutogenetischen Bezugsrahmen
2.3 Subjektive Gesundheitsvorstellungen

3. Spiritualität
3.1 Spiritualität und Wissenschaft
3.2 Verbundenheit und Suchen als Aspekte von Spiritualität
3.3 Spiritualität im Gesundheits(und Krankheits-)bezug

4. Forschungsteil
4.1 Theoretische Verortung und Grundannahmen
4.1.1. Angewandte Methode: Das problemzentrierte Interview
4.1.2. Auswahl der Probandinnen
4.1.3. Interviewleitfaden, Schlüsselbegriffe und Datenauswertung
4.2 Interviews
4.2.1. Hilke - Beziehungen
4.2.2. Brigitta - Natur und Entsprechungen
4.2.3. Claudia - Balance und Liebe zu sich selbst
4.2.4. Svea - 'Aha- Effekte' und Innere Instanz
4.2.5. R-Geschwister - Biografie und Stigmatisierung

5. Querschnittsanalyse, Erkenntnisse und Diskussion
5.1 Spiritualität
5.2 Gesundheit und Spiritualität
5.3 Konsequenzen für den Gesundheitsbegriff
5.3.1. Gesundheit als Individuationsprozess
5.3.2. Identität und Kohärenzgefühl im Individuationsprozess
5.4 Ganzheitliche Gesundheitsförderung auf personaler Ebene

6. Zusammenfassung und Ausblick

7. Literaturverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis, Transkribierte Interviews

Abbildung

1: Spontane Assoziationen zum Thema 'Spiritualität' (aus: Bucher, 2007)

Tabelle

1: Interviewleitfaden nach Themenbezug (Tb), zentrale Leitfrage (ZF) und Ergänzungsfragen

2: Begriffspaarungen und Schlüsselbegriffe (Sch) nach Themenblöcken (Tb)

3: Kurzporträt Hilke nach den zentralen Schlüsselbegriffen

4: Kurzporträt Brigitta nach den zentralen Schlüsselbegriffen

5: Kurzporträt Claudia nach den zentralen Schlüsselbegriffen

6: Kurzporträt Svea nach den zentralen Schlüsselbegriffen

7: Zentraler Schlüsselbegriff Spiritualität, R-Geschwister

8: Zentrale Begriffe und ihre Synonyme

1. Einleitung und Problemstellung

Das gegenwärtig vorherrschende Verständnis von Gesundheit und Krankheit beruht auf einer 200 Jahre alten Geschichte der naturwissenschaftlich geprägten Medizin. Es ist vor allem eine Geschichte der Reduktion, in der der Mensch in all seinen Einzelteilen erforscht und verstanden wurde sowie lebensrettende Techniken durch die Forschung entwickelt wurden. Die vorrangig pathogenetische Ausrichtung fokussiert das körperliche Symptom, seine Bekämpfung und die Aufdeckung der Ursachen. Die immaterielle Seite und somit auch die religiöse, spirituelle Seite mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit von Gesundheit und Krankheit ist in den Hintergrund gerückt.

Seit geraumer Zeit ist eine Rückkehr zu dieser erweiterten Schau in Form der modernen Komplementärmedizin zu beobachten. Viele der Angebote entziehen sich einer wissen- schaftlichen Validierbarkeit und unterliegen somit nur weichen Qualitätskriterien, da sie aus ihrem Wesen heraus dem Prinzip der Einzigartigkeit folgen und ihre Wirkungs- weisen über klar benennbare und somit messbare Zusammenhänge hinausgehen.

Nefiodow beschreibt in seinem Werk 'Der sechste Kondratieff' (1999) das derzeitige Gesundheitswesen als ein Krankheitswesen, in dem 98% der Finanzmittel dafür verwendet werden Krankheiten zu erforschen, zu diagnostizieren und zu verwalten.

Diese einseitige Ausrichtung auf Krankheit bezeichnet er als zu teuer, schädlich und als nicht mehr zeitgemäß. Diese Situation erfordert, so Nefiodow, eine sozialverträgliche Transformation, die den Menschen mit seinem vollen Potential in den Mittelpunkt rückt. Innovative Auslöser werden Veränderungen in der modernen Biotechnologie sein und ein weiterer Motor der steigende Bedarf nach psychosozialer Gesundheit bzw. Gesund- erhaltung. Er betrachtet Krankheit und Gesundheit als Systemeigenschaften, die vom ganzen Menschen und seiner natürlichen und sozialen Umgebung abhängig sind, und betont, dass es auf diese ganzheitliche Sicht, körperlich, seelisch, geistig, sozial und ökologisch und spirituell, in Zukunft ankommt. Nach seiner Auffassung wird die körper- liche Gesundheit durch die Biotechnologie revolutioniert werden und das weite Feld der seelischen, sozialen und spirituellen Potenziale des Menschen wird durch psychosoziale und psychotherapeutische Kompetenzen erschlossen werden. (Nefiodow, 2008).

So kann der Einbezug einer spirituellen Dimension in die Gesundheitsförderung und die Gesundheitsbildung ein Beitrag zur Erschließung dieser vielfältigen Potenziale eines Menschen sein. Inwieweit Spiritualität und Gesundheit in subjektiven Gesundheits- vorstellungen miteinander verwoben sind, soll in dieser Arbeit untersucht werden. Spiritualität wird als bestmöglicher zusammenfassender Begriff für die menschliche Affinität zu einer geistigen, transzendenten Dimension gewählt. Mit der Frage, wie sich eine unmittelbar erleb- und erfahrbare Dimension von Gesundheit und Spiritualität mit erforschtem Wissen in Einklang bringen lässt, bewegt sich diese Arbeit an der Schnitt- stelle zwischen zwei wertvollen Wissensquellen. Der Mensch wird als Subjekt in den Mittelpunkt gerückt; sein Merkmal ist es verbunden zu sein, und zwar auf allen Ebenen des menschlichen Seins: auf biologischer, psychischer, sozialer und vor allem auch auf geistiger Ebene. Sich verbunden fühlen ist nach Bucher (2007) kennzeichnend für spirituell beeinflusste Lebensauffassungen.

Dieser Beobachtung liegt ein Menschenbild zugrunde, das über die körperlichen Grenzen hinausgeht und den Menschen vielschichtig und multidimensional begreift. So ist der Mensch zum einen durch die Körperlichkeit an Materie gebunden, zum anderen wird er getragen und inspiriert durch das Verbundensein mit einer geistigen Dimension. Diese Verbundenheit des Menschen ist in spiritueller Hinsicht beobachtbar als eine Rückverbindung mit individuell gewählten Bezugsgrößen wie Gott, Engel oder anderen transpersonalen Konzepten. Sie dienen als Informationsquellen, mit denen z. B. über das Gebet oder eine meditative Innenschau die Kommunikation gesucht wird. Die Informationswege verlassen zwar den fassbaren Rahmen, können aber als handlungs- leitender Impuls in ihren Auswirkungen zu sehr fassbaren Ergebnissen führen und so den Verlauf von Gesundheit und Krankheit konkret beeinflussen.

Zentrales Anliegen dieser Arbeit ist es, zu eruieren, ob und inwiefern spirituelle Aspekte in den subjektiven Vorstellungen mit persönlicher Gesundheit verbunden werden und inwiefern sie ihren Ausdruck im Alltagshandeln finden.

Um den Gesundheitsbegriff für Gedanken und Ansichten zu öffnen, die ihren Ursprung in spirituellen Fragen haben, kommt man nicht umhin, einen Blick auf den historischen Hintergrund unseres heutigen Verständnisses von Gesundheit und Krankheit zu werfen.

Im folgenden Kapitel 2 wird daher der Gesundheitsbegriff im geschichtlichen Kontext, der älter ist als 200 Jahre, zusammenfassend dargestellt (Kap.2.1). Anschließend erfolgt eine Betrachtung von Gesundheit im salutogenetischen Bezugsrahmen (Kap.2.2). Als Träger des Bedürfnisses nach Sinnhaftigkeit kommt dem Kohärenzgefühl unter dem Aspekt der Identitätsbildung ein besonderes Augenmerk zu. Das zweite Kapitel abschließend wird der subjektive Ansatz in Hinblick auf den Gesundheitsbegriff vor gesundheitspsychologischem Hintergrund verortet (Kap.2.3).

In Kapitel 3 wird als erstes der Begriff der Spiritualität in dem Feld zwischen persönlicher Erfahrung und Religion beleuchtet. Es wird des weiteren der Frage nachgegangen, wie sich spirituelle Inhalte und die Wissenschaft zueinander verhalten (Kap. 3.1). Nachfolgend werden die Aspekte der Verbundenheit und des Suchens als für diese Arbeit relevant herausgestellt (Kap.3.2) und Spiritualität in den Gesundheitsbezug gesetzt (Kap.3.3).

Kernstück dieser Arbeit ist der Forschungsteil (Kap.4). Hier wird die Arbeit im Rahmen der qualitativen Sozialforschung verortet und die angewendeten Methoden vorgestellt (Kap.4.1). Im Anschluss werden die geführten Interviews dokumentiert und ausgewertet (Kap.4.2).

Kapitel 5 umfasst die Diskussion der Ergebnisse: Der Begriff Spiritualität (Kap. 5.1) und die Begriffspaarung Gesundheit und Spiritualität (Kap.5.2) werden im Querschnitt analysiert und miteinander verbunden. Es folgt eine Darstellung des Gesundheits- begriffes als ein Individuationsprozess, der sich auf das Kohärenzgefühl und die Identitätsbildung auswirkt (Kap.5.3). Anschließend wird ein Entwurf ganzheitlicher Gesundheitsförderung auf personeller Ebene skizziert (Kap. 5.4).

2. Gesundheit

" Gesundheit und Krankheit sind wie Geburt und Tod Grundphänomene des menschlichen Lebens, sie beziehen sich auf Natur und Kultur, sind Biologie und Geist, stellen immer deskriptive und normative Begriffe dar, sind Beschreibung und Bewertung" (Engelhardt,1995).

2.1. Das Gesundheitsverständnis im historischen Wandel

Um den Gesundheitsbegriff für Gedanken und Ansichten, die ihren Ursprung in spirituellen Fragen haben und somit auch immer Fragen unserer menschlichen Existenz streifen, zu öffnen, kommt man nicht umhin einen Blick in den historischen Hintergrund unseres heutigen Verständnisses von Gesundheit und Krankheit zu werfen. Im Rückblick auf die europäische Geschichte des Gesundheitsbegriffes wird eine vielschichtige Verwobenheit sowohl mit der menschlichen Kulturgeschichte als auch mit der Geistes- geschichte deutlich: In der Antike wurden Gesundheit und Krankheit kosmologisch und anthropologisch verstanden, im Mittelalter dominierte die Perspektive der Transzendenz und erst die Neuzeit folgte dem Prinzip der Säkularisierung (Engelhardt, 1995).

Seit ca. 500 v. Chr. fällt immer wieder der Diätetik eine besondere Rolle zu. Die Kunst der gesunden Lebensführung beschränkte sich nicht nur - wie heute oft verstanden - auf eine Lehre der ausgewogenen Ernährung, sondern stellte ein weit gespanntes Netzt der gesunden Lebensführung dar, das in erster Linie der Gesunderhaltung und nicht der Krankheitsbekämpfung diente. Aus ursprünglicher Sicht teilte sich die Diätetik in sechs Bereiche auf: Luft und Licht (aer), Essen und Trinken (cibus et potus), Schlafen und Wachen (somnus et vigilia), Bewegung und Ruhe (motus et quies), Ausscheidungen (secreta et excreta) und Affekte (affectus animi). Diese über die Jahrhunderte vielfach variierende Lehre bildete im Kern eine Anleitung zum geordneten Leben, getragen von der Bemühung um ein vitales Gleichgewicht in allen grundlegenden Lebensbereichen und der Ermahnung zu eigenverantwortlichem Handeln in Gesundheitsfragen (Bergdolt, 1999). Angesichts der steten Zunahme von chronisch degenerativen Erkrankungen kommt auch heute der Vorstellung einer gesundheitlichen Selbstverantwortung und der damit einhergehenden Kostenexplosion wieder eine neue, ungeahnte Bedeutung zu (Engelhardt, 1995). Die europäische Geschichte der Diätetik belegt die enge Verflechtung der Gesundheitslehre mit Fragen der Kultur, der Religion und der Philosophie (Bergdolt, 1999).

Sinnliche Vollkommenheit wurde in der Antike noch mit körperlicher Gesundheit gleich- gesetzt, welche durch einen Zustand der Harmonie und Balance erreicht wurde. Wesentlich hierfür war die Verbindung des Menschen als kulturelles Wesen mit der Natur und deren Gesetzmäßigkeiten, welche in einem Schema von Elementen, Säften, Organen und Temperamenten angewendet wurden. Diese vorausgesetzte Parallelität von Mikrokosmos und Makrokosmos brachte ein Gesundheitskonzept hervor, in dem Heilung in erster Linie die Wiederherstellung eines harmonischen Gleichgewichtes war. An oberster Stelle der therapeutischen Maßnahmen standen hierbei die Grundsätze der Diätetik, dann folgte das Medikament und zuletzt kam die Chirurgie.

Der große antike Mediziner Galen verstand die Wissenschaft der Medizin als eine Wissenschaft der Gesundheit, der Krankheit und der Neutralität, als Zustand zwischen beiden (ne-utrum, keines von beiden). Nach Galen musste die Krankheitsüberwindung der Gesundheitsbewahrung untergeordnet werden (Engelhardt, 1995), eine Vorstellung die aktuell wieder Beachtung in einer Umorientierung zur Prävention und Gesundheits- förderung findet. Ebenso findet die Bemühung Galens, die Dichotomie der Begriffe Gesundheit und Krankheit im Sinne eines Entweder-Oder durch die Einführung des neu- tralen Zwischenzustands aufzuheben, Anklänge im aktuellen Ansatz der Salutogenese.

Im christlichen Mittelalter besaßen Gesundheit, Krankheit und Heilung einen religiösen Sinn und der Körper sollte im diätistischen Sinne als Gefäß der Seele gepflegt werden. Die heilsgeschichtliche Bedeutung von Krankheit und Tod spiegelte sich in der Vor- stellung einer Urdifferenz zwischen dem Menschen und dem Göttlichen wider, die aus jeder Überwindung von Krankheit einen Akt der Auferstehung werden ließ. Krankheit, und somit auch Gesundheit hatten einen fundamentalen Schöpfungssinn und wurden als notwendiger Bestandteil der menschlichen Existenz akzeptiert. Die antike Gleich- setzung von sinnlich-sittlicher Vollkommenheit mit körperlicher Gesundheit wurde nicht mehr für absolut erklärt (Engelhardt, 1995). Krankheit sollte nicht nur etwas Negatives sein und Gesundheit nicht nur etwas Positives. Krankheit als innerer Akt der Wieder- auferstehung im Sinne einer seelischen Reifung, führte zu einer Weitung des Gesund- heitsbegriffes auf die Fähigkeit Krankheit auszuhalten oder in das Leben zu integrieren. Und so sprach man genauso von der Kunst des Sterbens (ars moriendi) wie von der Kunst des Lebens (ars vivendi) (Engelhardt, 1995). Hildegard von Bingen, Äbtissin, Naturforscherin und Ärztin, setzte sich für die Natur und den Leib ein, als Träger der menschlichen Seele, ordnete aber das Physische immer dem Geist unter. Charakteristisch für das Mittelalter war das tief empfundene Verständnis von Mitleid und Liebe (caritas), das dem christlichen Barmherzigkeitsgedanken entsprang, und zur Gründung von vielen Hospitälern führte, die sich der Leidenden und der Ausgestoßenen annahmen. Diese christlichen Werke der Barmherzigkeit prägten entscheidend die grundlegenden Ideen der fürsorgenden, sozialen Gemeinschaft in der späteren, staatlich verankerten Gesundheitsfürsorge. Tugenden wie die der Weisheit, Gerechtig- keit, Tapferkeit, Bescheidenheit, Liebe, Glaube und Hoffnung sollten sowohl dem Kranken als auch den Ärzten Hilfe und Stütze sein. Der ideale Arzt des Mittelalters hatte ein hohes Maß an Mitgefühl für das körperliche und seelische Leid des Erkrankten, welches über die neutrale, wissenschaftliche Distanz heutiger Mediziner weit hinausgeht (vgl. Engelhardt, 1995).

Schipperges beschreibt in seinem historisch kritischen Panorama 'Gesundheit und Gesellschaft' (2003) das klassische Konzept der Heilkunde, welches über die Jahrhunderte getragen wird von einer kategorialen Dreigliederung, in der Gesundheit als ein Ideal verstanden wird, dem man sich nur annähern konnte, und Krankheit als ein kritischer Grenzstand gewertet wurde. Dazwischen lag das riesige Übergangsfeld 'neutralitas', wo man weder richtig krank noch ganz gesund war.

Die Einführung der Sozialversicherung in der Neuzeit setzte eine Ökonomisierung der menschlichen Gesundheit als ein Kapital voraus, das ihren Wert aus der Arbeitsfähigkeit des Menschen generierte. Man ließ sich entweder krankschreiben oder man meldete sich wieder gesund und stand so dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung. Diese gesellschaftliche Veränderung in der Gesetzgebung führte zum Verlust des neutralen Feldes (ne-utrum) als der Zwischenbereich, in dem sich der Mensch normalerweise befindet. Nach Schipperges (2003) liegt gerade in diesem riesigen, verloren gegangenen Übergangsgebiet der Kompetenzbereich der Ärzte wie auch der alltägliche Entscheidungsspielraum des Patienten. Diese Kultivierung des Alltags folgte über die Jahrhunderte den Gesetzmäßigkeiten der Diätetik und stellte schon immer eine lebenslange Aufgabe dar (Schipperges, 2003).

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts liefert der mechanistische Blick auf die menschliche Physiologie und Pathologie einerseits die Voraussetzung für viele Errungenschaften der modernen Heiltechnik, auf der anderen Seite verengt sich über dieses 'Reparaturmodell' der Blick auf die Gesundheit des Menschen als einen negativ beschriebenen Zustand, welcher sich in erster Linie durch die Abwesenheit von Krankheit auszeichnet. Schipperges zitiert in seinen Ausführungen Viktor von Weizäcker, welcher bereits Mitte des 20. Jahrhunderts feststellte, dass es der modernen Medizin an einer positiven Formulierung von Gesundheit fehle. Gesundheit ist nach Weizäcker "...ein Ziel, welches den Menschen selbst betrifft, nämlich das, was der Mensch zu werden hat" und weiter: "Gesundheit hat mit Liebe, Gemeinschaft und Freundschaft gemeinsam die eindeutige Richtung, die nicht umgekehrt werden kann" (Weizäcker in Schipperges, 2003, S.106). Der daraus resultierende dynamische Gesundheitsbegriff orientiert sich an der Mittellage des Daseins, die wir allgemein Gesundheit nennen, und Gesundsein beschreibt sich nicht als ein statischer Normalzustand, sondern als ein ständiger Prozess der Veränderung, des Wachsens und Reifens und des Sterbens. So können Gesundheit und Krankheit nicht aus sich selbst heraus verstanden werden, sondern nur aus der Erfahrung des Lebens heraus (Schipperges, 2003).

Subjektive Vorstellungen von Gesundheit finden vor allem im Zwischenbereich, dem oben beschriebenen 'neutralen Feld', zwischen absoluter Gesundheit und absoluter Krankheit statt, und stellen in ihrem lebensgestaltenden Wesen eine Form der persönlichen Kultivierung des Alltags dar. Hier summieren sich die persönlichen Erfahrungen mit Gesundheit und Krankheit, bzw. Gesundsein und Krankwerden zu einem durchlebten Erfahrungswissen, aus dem sich ein subjektives Konzept von Gesundheit und Krankheit extrahiert. Es stellt ein Handwerkszeug für den alltäglichen Umgang mit Gesundheit und Krankheit dar und variiert individuell in seiner Komplexität.

Im Hinblick auf den aktuellen Gesundheitsbegriff, erweist es sich auch heute als schwierig Gesundheit zu definieren, da es je nach theoretischer Perspektive ganz unterschiedliche Bestimmungen von Gesundheit gibt. Die Medizin definiert Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit, eine Negativaussage, die immer noch die Frage offen lässt, was genau Gesundheit sei. Die einflussreichste Gesundheitsdefinition stammt aus der Präambel der Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1948:

“ Gesundheit ist ein Zustand eines vollkommenen k ö rperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen". Die nahe- liegende Schlussfolgerung, dass es dann im Verhältnis zur gesamten Weltbevölkerung sehr wenig gesunde Menschen geben muss, da hier ein Idealzustand formuliert wird, der für viele Menschen wohl immer Utopie bleiben wird (Becker, 2006, Bergdolt, 1999), hat für viele kritische Stimmen gesorgt. So sieht Bergdolt (1999) zum einen in der Präambel ein illusorisches Diktum angesichts der rapide wachsenden Weltbevölkerung. Zum anderen würde hier der grundsätzliche Irrtum reflektiert, dass es für den Menschen nur zwei körperliche Befindlichkeiten gäbe: nämlich Krankheit oder Gesundheit (Bergdolt, 1999).

Becker (2006) begrüßt an der WHO-Definition das grundsätzliche Bemühen um einen positiven Gesundheitsbegriff, der mehr beinhaltet als die Abwesenheit von Krankheit und auf die Zusammenhänge zwischen körperlichem, psychischem und sozialem Wohlbefinden hinweist. Das erlaubt eine Perspektiverweiterung im Sinne eines biopsychosozialen Gesundheitsmodells. Er nennt vier Kernkonstrukte, die Gesundheit, ausmachen:

- Funktionstüchtigkeit der Organe
- Leistungsfähigkeit
- Erfolgreiche Anpassung an die Lebensbedingungen
- Wohlbefinden

Faltermaier (2005) verzichtet auf weitere Definitionsbemühungen des Gesundheits begriffes und trägt stattdessen Bestimmungsstücke zusammen, die er in seinen gesund- heitspsychologischen Auslegungen für wichtig erachtet. Er betrachtet Gesundheit als ein ganzheitliches Phänomen, das sich auf drei Ebenen, der psychischen, physischen und der sozialen, beschreiben lässt. Gleichzeitig ist Gesundheit auch ein Zustand des Individuums, der sich sowohl positiv als auch negativ definieren lässt. Die Messbarkeit von Gesundheit durch objektive Parameter wird ergänzt durch die subjektive Beschreib- barkeit von individuell wahrgenommener Gesundheit, welche sich in körperlichem und/oder seelischem Wohlbefinden ausdrückt. Gesundheit umfasst nach Faltermaier neben der Befindlichkeit einer Person auch immer deren Handlungspotential als Grund- lage für Leistungsfähigkeit und soziale Teilhabe. Die gesellschaftlichen Anforderungen an die Person ergeben sich aus ihrem sozialen Kontext, welcher die vorherrschenden, historisch gewachsenen Lebensvorstellungen spiegelt und Gesundheit dadurch auch immer zu einem sozialen Konstrukt werden lässt (Faltermaier, 2005). Gesundheit, so Faltermaier, sei zwar als Zustand beschreibbar, müsse aber vor allem als dynamischer Prozess verstanden werden, den das Individuum in ständiger Interaktion mit seiner Umwelt aktiv mitgestaltet. Dadurch ist ein Organismus aufgerufen, seine Fähigkeit einzusetzen, Balance herzustellen. Auf diese Weise stellt sich, nach Faltermaier, Gesundheit für den Menschen als ein dynamisches Gleichgewicht dar. Die Parameter mit denen Gesundheit gemessen werden können, wurzeln in Normen und Werten, die dem Individuum gleichzeitig als Orientierung dienen. Sie sind an soziale Erwartungen, funktionale Anforderungen oder auch statistische Normen gekoppelt und finden in der WHO-Definition als Ideal ihren Ausdruck (Faltermaier, 2005).

2.2. Gesundheit im salutogenetischen Bezugsrahmen

Das grundsätzliche Aufeinander-bezogen-Sein von Gesundheit und Krankheit stellt die Dichotomie dieser Begriffe im Sinne von entweder gesund oder krank sein in Frage und wird von Faltermaier als nicht mehr angemessen dargestellt. Er verweist auf das Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky, welches Gesundheit und Krankheit auf einem multidimensionalen Kontinuum verortet, das einen Übergangsbereich zwischen diesen beiden Polen offen hält, welcher multiplen Einflüssen unterliegt und in dem sich jeder Mensch, ob gesund oder krank, einordnen lässt. So spricht Antonovsky selbst von den Polen health-ease (Gesundheit/Gesundung) und dis-ease (Ent-Gesundung) (Antonovsky, 1997). Auch Faltermaier ordnet diese Pole konsequent positiv in den Kontext von Gesundheit ein, indem er von "maximaler und minimaler Gesundheit “ spricht (Faltermaier 2005, S.36).

Wesentlichstes Merkmal des Konzeptes der Salutogenese ist seine konsequente Abkehr von der vorherrschenden pathogenen Ausrichtung im Umgang und Verständnis von Gesundheit und Krankheit, in der der pathologische Zustand, nämlich die Krankheit, als Abweichung vom gesunden Normalzustand im Mittelpunkt steht. Demnach würde ein Großteil der Menschen in die Kategorie krank fallen. Um die polarisierende Dichotomie aufzuheben entwirft Antonovsky das salutogenetische Konzept des Gesundheits- kontinuums, um sich in diesem Konstrukt der zentralen Frage nach den Faktoren, die den Menschen gesund erhalten, zu nähern (Antonovsky, 1997). Diese Frage nach den Ursprüngen von Gesundheit ist aus heutiger Sicht eine erneuernde Veränderung im Hinblick auf das Verständnis von Gesundheit und Krankheit.

Historisch gesehen, aus dem Verständnis der Diätetik, ist es das Wiederaufleben des neutralen Zwischenbereiches als Feld tatsächlichen Gesundheitshandelns. Diese Sichtweise rückt den Gedanken der Prävention und Gesundheitsförderung in den Vordergrund. Auffällig an Antonovskys Ausführungen ist seine neutrale Bewertung von Stressoren, da er sie als omnipräsent im Leben des Menschen begreift und ihre stärkende oder schwächende Wirkung in der Summe nichts über den Gesundheits- zustandes des betroffenen Menschen aussagt. Die sich daraus ergebende Frage, was den Menschen gesund erhält, ließ ihn das Konzept der generalisierten Widerstands- ressourcen, wie z. B. Ich-Stärke, Geld, kulturelle Stabilität, soziale Unterstützung, entwerfen. Die Verfügbarkeit dieser Ressourcen ist maßgeblich daran beteiligt, ob der Mensch über ein erfolgreiches Bewältigungshandeln (Coping) verfügt und die Anforderungen des Lebens erfolgreich meistert. Antonovsky (1997) führt den Begriff des Kohärenzgefühls (sense of coherence) ein.

Das Konzept des Kohärenzgefühls wird von Antonovsky als "eine globale Orientierung definiert, die das Ma ß ausdrückt, in dem man ein durchdringendes, andauerndes und dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, da ß die eigene interne und externe Umwelt vorhersagbar ist und da ß es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, da ß sich die Dinge so entwickeln werden, wie vernünftigerweise erwartet werden kann" (Antonovsky, 1997, S.16). Antonovsky entwickelte sein Konzept des sense of coherence aus der Notwendigkeit heraus, über ein Auswahlkriterium zu verfügen, nach dem man ein Phänomen als eine Widerstandsressource identifizieren kann. In diesem Ansatz sind generalisierte Widerstandsressourcen so definiert, dass sie es dem Betroffenen erleichtern, Sinn in den zu bewältigenden Stressoren zu erkennen. Die fortlaufende Versorgung mit sinnhaften Erfahrungen schafft mit der Zeit ein hohes Kohärenzgefühl.

Nach Antonovsky sind drei wesentlichen Komponenten des sense of coherence maßgebend: Der sense of comprehensibility, übersetzt als ein Gefühl der Verstehbarkeit, der sense of manageability, als eine Überzeugung von der Bewältigbarkeit der zu erwartenden Anforderungen, und der sense of meaningfulness, als ein grundsätzliches Gefühl der Sinnhaftigkeit, welches das Leben als wertvoll erscheinen lässt. Nach Antonovsky (1997) beschreibt die Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit das Ausmaß, in dem der Mensch das Leben als emotional sinnvoll empfindet. Er sieht die motivationale Komponente der Sinnhaftigkeit als die wichtigste an, ohne die die anderen beiden Komponenten wohl ausprägbar wären, sich aber insgesamt kein hohes Kohärenzgefühl entwickeln würde, da sich das Leben mit seinen Herausforderungen zu schnell nur als eine unangenehme Last darstellen würde (Antonobvsky, 1997).

Dem Bedürfnis nach Bedeutsamkeit und Erklärbarkeit liegt die Frage nach grundsätz licher Sinnhaftigkeit zu Grunde. Die Suche nach Sinn, im Speziellen nach dem Sinn von Krankheit, spiegelt sich in den in dieser Arbeit vorgestellten subjektiven Vorstellungen von Gesundheit und Spiritualität wieder. Es werden Konzepte von erklärender Sinn- haftigkeit geliefert, in denen die Betroffenen sich selbst und die von ihnen erfahrene Umwelt einordnen. Diese subjektiven Konstrukte sind in hohem Maße von individueller Lebenserfahrung und einem Zugang zu spirituellem Wissen geprägt (vgl. Kap 4.2). Steinmann (2008) führt in seiner Abhandlung 'Spiritualität - die vierte Dimension der Gesundheit' an, dass es sich bei dem Konzept des Kohärenzgefühls grundsätzlich um ein psychologisches Konstrukt handele, das jedoch mit dem Lebensbereich 'existenzielle Fragen' auch die spirituelle Dimension des Menschseins berühre.

Das Konstrukt des Kohärenzgefühls hat in seiner Ausprägung ebenso Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung des Menschen. Kolip, Wydler und Abel (1999) weisen in ihren einleitenden Worten zu der Beitragssammlung 'Salutogenese und Kohärenzgefühl' auf den Begriff der Ontologischen Sicherheit hin. Ontologische Sicherheit wird als ein wichtiger Faktor in der Persönlichkeitsentwicklung betrachtet und bildet sich im Wesentlichen durch Erfahrungen von Vertrauen und Zutrauen heraus. Die Waage zwischen Zutrauen und Risiko kennzeichnet die Situation des Individuums in einer pluralistischen, von vielen Wahlmöglichkeiten gekennzeichneten Gesellschaft. Nach Kolip, Wydler und Abel besteht die Herausforderung darin, "... riskante Optionen zu berücksichtigen, Flexibilität zu bewahren und trotzdem ein Gefühl von Identität zu entwickeln “ (Kolip, Wydler, und Abel, 1999, S.14). Erfahrene Sinnhaftigkeit als ein entscheidender Aspekt bei der Ausbildung eines hohen Kohärenzgefühls liegt nach den Autoren auch in der Fähigkeit existenzielle Angst zu überwinden und eben diese 'Ontologischen Sicherheit' zu entwickeln.

Die philosophische Dimension des Kohärenzgefühls behandelt Schmid in seinem Buch 'Philosophie der Lebenskunst'(1998). Hier beschreibt er Kohärenz als ein Konstrukt des Selbst, das in der Lebenskunst reflektiert und hergestellt wird. Dieser immerwährende Vorgang ist ein Prozess der Selbstgestaltung und Zusammenfügung, der es dem Subjekt durchaus zugesteht auch Fehler zu machen, und es ihm so erlaubt, einen großen Reichtum des Selbst anzuhäufen. Schmid begreift Kohärenz, als ein Konstrukt des Subjektes, welches ein Gebilde ist, das sich in Raum und Zeit bewegt, ständig in Beziehung ist und auch immer von historischen und biografischen Momenten im Selbst durchzogen ist. Bestandteil der Kohärenz ist es, als Subjekt auch den Blick von Außen auf das eigene Selbst werfen zu können. So wird "...das Selbst eine mit Hilfe von Reflexion und Selbstreflexion organisierte Gestalt, festgefügt und doch veränderlich" (Schmid, 1998, S.256).

Diese Auffassung spiegelt sich auch in der Fragestellung der aktuellen Identitätsdebatte nach einem konsistenten Kern von Identität. Der Kohärenz als zentrale Anforderung in der Identitätsarbeit wird dabei eine wichtige Rolle zugeschrieben. Höfer (2000) regt an, "... sich von der Idee der Kohärenz, als Harmonie und innere Einheitlichkeit zu verab- schieden, und Kohärenz viel mehr als prozessuales Ergebnis zu fassen, in dem die Verknüpfungsarbeit für Subjekte, trotz aller fragmentierenden Erfahrungen und Widersprüchlichkeit, eine authentische (kohärente) Gestalt behält" (Höfer, 2000, S.58). In Höfers Sinne wird Identität als ein ständiger Passungsvorgang beschrieben, welcher reflexive Achtsamkeit erfordert und Kohärenz in einer offenen Struktur des sich ständig Wandelnden begreift (vgl. auch Keupp, 2002). Hier findet in Bezug auf die Frage der Sinnhaftigkeit eine wichtige Perspektiverweiterung statt. Der sich daraus ergebende Gedanke, dass sich dem Subjekt eine große Palette an Antwortmöglichkeiten bietet, im Sinne von erlaubter Widersprüchlichkeit aber auch von grundsätzlicher Richtigkeit, stellt eine wichtige Vorüberlegung für die Konzeption der Fragestellung dieser Arbeit dar.

2.3. Subjektive Gesundheitsvorstellungen

Subjektive Gesundheitsvorstellungen repräsentieren persönliche Wissensbestände zum Thema Gesundheit und existieren parallel zu den wissenschaftlichen Wissens- beständen. Flick fragt sich in den einleitenden Worten zu seiner Gesundheitsforschung 'Subjektive Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit' (1998) wie sich die persönlichen Wissensstände zu den wissenschaftlichen verhalten, ob sie verdrängt, ersetzt oder erst in Kontakt mit ihnen herausgebildet werden. Sowohl in der Psychologie wie auch in der Soziologie und Anthropologie wird die Diskrepanz von subjektiven Vorstellungen und wissenschaftlichen bzw. professionellen Konzepten untersucht. Vor allem in Bezug auf Gesundheit und Krankheit stellt sich die Frage, welchen Einfluss die subjektiven Vorstellungen auf den Erfolg einer medizinisch-therapeutischen Intervention nehmen (vgl. Flick, 1998).

Der Herangehensweise an die subjektive Konzeption von Gesundheit liegt laut Falter- maier ein Menschenbild zu Grunde, welches den Menschen als potentiell aktives und kompetentes Subjekt und als Mitgestalter seines Lebens und seiner Gesundheit begreift (Faltermaier, 2005). Subjektive Vorstellungen von Gesundheit sind Konstrukte, die vom Menschen als handelndes Wesen getragen und entwickelt werden. Sie sind eng mit seinen Vorstellungen vom Leben verbunden und müssen daher in einem größeren Kontext von Selbstkonzept und Lebenskonzept verstanden werden (Faltermaier, 2005). Vor dem Hintergrund eines individuellen Lebens- und Gesundheitskontextes kann nach Faltermaier der Laie als Experte für seine ureigenen Vorstellungen von Gesundheit verstanden werden, die konsequenterweise auch immer handlungsleitend sind. Im subjekttheoretischen Ansatz wird der Mensch nicht als passives, von der Umwelt determiniertes Opfer begriffen, sondern als mehr oder weniger kompetentes, bewusst handelndes Individuum, das sich in einem sozialen Kontext bewegt und auf persönliche Ziele ausgerichtet ist (Faltermaier, 2005).

So stellt Gesundheitshandeln ein aktives Mitgestalten des Lebens durch ein aktives kompetentes Subjekt dar. Handlungen füllen die subjektiven Vorstellungen von Gesundheit und Spiritualität mit Lebendigkeit und erzeugen durchlebte Erfahrung und stellen auf diese Weise eine prozesshafte sich immer wieder erneuernde Konstruktion subjektiver Wirklichkeit dar.

Der subjektive Ansatz rückt den Menschen in den Mittelpunkt, auch um dahinterliegende Handlungsprinzipien zu verstehen. Kickbusch beobachtet in ihrer Veröffentlichung 'Gesundheit und Gesellschaft' (2006), dass sich der Gesundheitsbegriff immer mehr gegen medizinische Eingrenzungs- und Definitionsversuche sperrt. Sie betont die vielfältigen Optionen der persönlichen Gesundheitsdefinitionen: "Gesundheit sch ö pft vielmehr aus der Ungenauigkeit und Grenzenlosigkeit und der subjektiven Erfahrbarkeit. Je umfassender die Gesundheitsdefinition, umso mehr Bereiche der Gesellschaft und des individuellen Handelns werden dadurch undüber Gesundheit definiert. Je pers ö n- licher die Gesundheitsdefinition, umso mehr Optionen braucht es, um sie individuell einl ö sen zu k ö nnen. Damit tritt die Gesundheit auf neue Weise in das pers ö nliche Leben, in die Politik und auf den Markt. Gesundheit wird allgegenwärtig und das 'Gesundheits'wesen selbst wird zum Nebenschauplatz “ (Kickbusch, 2006, S.10) . So können subjektive Vorstellungen wie ein Kaleidoskop verstanden werden, welches den Gesundheitsbegriff in seiner Vielfalt auffächert. Hier erfährt der Begriff des Gesundheitshandelns eine weite Öffnung, da bei genauerem Hinsehen hinter jeder Entscheidung des Menschen, sei sie noch so klein oder noch so groß, auch eine Gesundheitsentscheidung steht. Im Hinblick auf Spiritualität und Gesundheit kann somit der subjektive Bereich Türöffner zu grundlegenden Einsichten sein (vgl. Kickbusch, 2006; Steinmann, 2008). In seiner Einführung 'Spiritualität - die vierte Dimension der Gesundheit' stellt Steinmann fest: "Die pers ö nliche Domäne der Gesundheit ist für das Verständnis der spirituellen Dimension die wichtigste und zugleich die am wenigsten bekannte und zugängliche “ (ebd. 2008, S. 23).

Im Laiengesundheitssystem werden Gesundheitsentscheidungen in einem hohen Maße von Frauen getroffen. Faltermaier (2005) merkt an, dass im Laiengesundheitssystem Frauen eine zentrale, aber öffentlich vielfach unbemerkte Rolle spielen. Der von ihm zitierte Graham (1985), spricht von den Frauen als ' providers of health', da vor allem in den Familien eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vorherrscht, was die alltägliche gesundheitliche Versorgung angeht. Frauen vermitteln in ihren Familien vor allem die entscheidenden Einstellungen und Verhaltensweisen zur Gesunderhaltung und zum Umgang mit Krankheiten. Als ' negotiators of health' verfügen sie über das Gesundheits- wissen, beraten und fungieren so als Modell vor allem für ihre Kinder. In ihrer Funktion als 'mediators of health' stellen sie die Verbindung zwischen Familie und dem professionellen Gesundheitssystem mit seinen medizinischen und sozialen Experten her (vgl. Faltermaier, 2005).

3. Spiritualität

“ Leben wird durch eine Macht geschaffen, die gr öß er ist als die unsrige. In einem umfassenden Sinne menschlich zu werden bedeutet sich dieser Macht zu ö ffnen (und mit ihr in Kontakt zu treten), die wir mit vielen Namen bezeichnen, oft mit dem Namen Gott. Ob ein Leben erfolgreich und erfüllt ist, hängt meiner Meinung nach davon ab, ob wir zu unserer Lebenskraft in Beziehung treten und ob wir sie akzeptieren" (Satir, 1991, S. 430).

Spiritualität ist, ähnlich wie Gesundheit, ein weitgreifender Begriff, der durch eine allgemeingültige einheitliche Definition nicht zufriedenstellend erfasst werden kann. Das Wort Spiritualität leitet sich von dem lateinischen Nomen 'spiritus' ab, welches ursprüng- lich 'Luft, Hauch' bedeutet. Gleichzeitig steht es für 'Atem, atmen', 'Seele, Geist' sowie 'Begeisterung, Mut, Sinn'. Das zugrunde liegende Verb 'spiro' wird verstanden als 'wehen, hauchen', 'atmen, leben' sowie 'erfüllt und beseelt sein'. Die Bedeutungsweite von Spiritualität hat sich im Laufe der europäischen Geschichte auf eine kirchliche Frömmigkeit verengt und wurde als 'geistliches' oder 'inneres Leben' gedeutet (Bucher, 2007). Religion (lat. religiare: sich zurück verbinden) stellt eine Weltanschauung dar, die an einen überlieferten Glauben gebunden ist, welcher von bestimmten Personen bewahrt und an praktizierende Gläubige weitergegeben wird (Büssing et al., 2006). Um das multidimensionale Konstrukt Spiritualität zu fassen, merkt Büssing an, dass es nicht an theologischen und religionspsychologischen Konzepten mangelt, "...vielmehr mangelt es an einer Konvergenz jenseits einer konfessionell-institutionalisierten 'Interpretations- hoheit', die sich auch in der Bev ö lkerung wieder finden lässt" (Büssing, 2006a, S.11).

Eine wirklich eigene spirituelle Erfahrung ist nach Walach (2005, in Büssing, 2006a) eine erfahrungsmäßige Erkenntnis, die eine transzendente, das individuelle Ich übersteigende Wirklichkeit beschreibt. Sie zeigt sich als eine nach innen gerichtete Erfahrung, in der sich die Wirklichkeit in einer tiefen Schau bzw. in einem intuitiven Wissen zu erkennen gibt. Walach (2006) stellt eine Verbindung zwischen den Begriffen Spiritualität und 'persönliche Erfahrung' her. Spiritualität bezieht sich für ihn immer auf persönliche Erfahrung, verstanden als ganzheitlicher Vollzug von Erkennen, der sich nicht nur auf ein rational-lineares Erkennen sowie logische Strukturen beschränkt, sondern auch emotional-affektive Komponenten aufweist.

Dieses ganzheitliche Erkennen enthält eine motivationale Komponente, die unser Handeln beeinflusst. Der Autor merkt an, dass eine spirituelle Erfahrung, als Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit, immer in einem spezifischen Sprach- und Kulturraum stattfindet, interpretiert und gedeutet wird. Die Interpretation und Deutung dieser ursprünglichen Erfahrungen von Wirklichkeit wird als die Grundlage für das Entstehen von Religion als ein System von Glaubenssätzen und Verhaltensregeln verstanden. Sind die Glaubenssätze eines religiösen Systems nicht mehr mit persönlicher, spiritueller Erfahrung gefüllt, werden sie unverständlich und steril. Religion stellt somit nach Walach eine Art Lehrgebäude dar, das aus ursprünglichen Erfahrungen entstanden ist, denen hier ermöglicht wird sich im Rahmen eines religiösen Ritus zu bewegen und zu verorten. "Damit wird spirituelle Erfahrung zum Quell der Religion und umgekehrt Religion zur Fassung für diesen Quell" (Walach, 2006, S.30).

3.1. Spiritualität und Wissenschaft

Walach (2006) führt zu den Bereichen Wissenschaft und Spiritualität aus, dass es sich um zwei komplementäre, somit sich ergänzende Erfahrungen ein und derselben Wirklichkeit handelt, begreifbar als eine innere und eine äußere Erfahrung. Wissenschaft nutzt äußere Sinneserfahrungen und deren Erweiterung mit Hilfe moderner Instrumente. Spirituelle Wirklichkeitserfahrung geschieht über eine von innen kommende Erfahrung.

Beide intendieren Wirklichkeit: die Wissenschaft mit Hilfe unserer Sinne, Spiritualität mit Hilfe unseres Bewusstseins. Für den Autoren sind Bewusstsein und Materie daher komplementäre Erscheinungsformen einer Wirklichkeit und Wissenschaft und Spiritualität die zwei komplementären Zugangsweisen zu dieser Wirklichkeit.

Viele Impulse in der wissenschaftlichen Herangehensweise werden über intuitive, sprunghafte Erkenntnisse (sog. Geistesblitze) gesetzt. Sie stellen eine innere Erfahrung oder auch Eingebung dar, die mit einer spirituellen Erfahrung gleichgesetzt werden kann. Auf der anderen Seite erhält die innere spirituelle Erfahrung ihren Wirklichkeits- bezug über konkretes Handeln: "Denn das Kriterium für die Sachhaltigkeit und den Wirklichkeitsbezug einer spirituellen Erfahrung ist eben gerade nicht irgendein System von Sätzen, sondern das Handeln, das Leben, der Vollzug selbst" (Walach, 2006, S.42). Wissenschaftliche wie auch spirituelle Erkenntnisprozesse sind mit Erfahrungen sowohl aus dem einen wie auch dem anderen Bezugssystem angereichert: der wissenschaft- liche Erkenntnisprozess aus intuitiven Momenten und die spirituelle Erfahrung in ihrer alltäglichen, pragmatischen Umsetzung.

Spiritualität als Trend

Bucher (2007) führt aus, dass Spiritualität im Trend liegt. Er beruft sich auf den Sozio- logen Roof, der bereits im Jahre 2000 die US Gesellschaft als 'spirituellen Marktplatz und Sinnsuche-Kultur' charakterisierte. In der von der Stiftung Identity Foundation (2006) durchgeführten repräsentativen Studie 'Spiritualität in Deutschland' wurden 1000 persönliche Interviews zum Thema Spiritualität durchgeführt. Der Studie zufolge messen 17,4% der Befragten spirituellen oder religiösen Fragen eine große bis sehr große Bedeutung bei und 15% der Befragten geben an, aktiv auf der Suche nach ihrer inneren Mitte zu sein. Die Studie entwirft vier Typologien der Selbstverortung. Es gibt die 'Traditionschristen' (ca. 10%), welche immer mehr der Gruppe der 'Religiös Kreativen' (ca. 35%), die ihre Sinnbezüge aus religiösen Fragmenten und eigener Reflektion schöpfen, weicht. Die Gruppe der 'Spirituellen Sinnsucher' (ca. 12%) forscht weitgehend ohne konkrete religiöse Rückbezüge nach neuen Formen der Selbstvergewisserung. Ein charakteristisches Statement dieser Gruppe ist: 'Der Kosmos wird vom Sinn in sich, einem höheren Wesen oder von einem unpersönlichen Spirit zusammengehalten'. Ihnen gegenüber steht die Gruppe der 'Unbekümmerten Alltagspragmatiker' (ca. 40%), welche sich fast vollständig von Sinnfragen distanzieren und ihr Heil vor allem in ihrer eigenen, meist materiellen Zufriedenheit sehen.

Insgesamt gesehen ist eine spirituelle Praxis für 30% aller Befragten ein wichtiger Bestandteil ihres Alltags. Neben Meditation, Yoga, Chi Gong und Ayurveda wird als häufigste Form spiritueller Praxis das Gebet oder eine Zwiesprache mit Gott genannt. Als weitere spirituelle Praktiken werden das Deuten von Träumen, Kontemplation und Zen sowie Gespräche mit Geistlichen angegeben (Stiftung Identity Foundation, 2006). Diese Studie deutet auf mehrer Sachverhalte hin: Zum einen ist Spiritualität ein Thema, das für eine hohe Anzahl von Menschen in Deutschland von Interesse ist. Zum anderen stellt sich Spiritualität als etwas dar, was mit unterschiedlichen Praktiken und religiösen Inhalten verschiedener Traditionen in Verbindung gebracht wird. So bedarf es einer Verortung des Begriffes Spiritualität in dem weiten Feld persönlicher Auffassungen und Erfahrungen zwischen Religiosität, Esoterik und unterschiedlichen Lebensphilosophien.

Assoziationen zu Spiritualität

Bucher (2007) berichtet in seinem Handbuch 'Psychologie der Spiritualität' über eine aktuelle Befragung von Studierenden im Rahmen eines Pilotprojektes an den Universitäten Fribourg und Salzburg. Hinsichtlich des Items 'Spiritualität lässt mich spontan an folgendes denken' wurden Assoziationen zusammengetragen, die vom Untersuchungsteam, wie die folgende Grafik zeigt, in acht Kategorien eingeteilt wurden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Spontane Assoziationen zum Thema 'Spiritualität' (Bucher, 2007)

Signifikant deutlich ist die Assoziation zu Übernatürlichem und Transzendentem als generell etwas 'Übermenschliches' und 'Übersinnliches' (1). Das kann verstanden werden als Gott, höhere Mächte, Engel oder Schutzengel. Gefolgt wird dieses Verständ- nis in der Häufigkeit von Spiritualität als etwas Esoterisches, Okkultes (2), wie Gläser- rücken, Magie und Aberglaube. Hier wird die begriffliche Nähe zu Spiritismus deutlich und weckt bei den Probandinnen auch Assoziationen wie 'Humbug und gefährlich'. Als spirituelle Praktiken (3) werden in erster Linie Yoga und Meditation genannt und die folgende Kategorie Gefühle und Harmonie (4) werden mit Formulierungen wie 'Harmonie spüren, 'innere Ruhe und Gelassenheit erlangen', 'sich frei fühlen' und 'vertrauen' belegt. Spiritualität als Glaube (5) enthält als Kernaussagen 'Ansätze ver- schiedener Religionen' und der Glaube wird gelegentlich sehr deutlich nicht auf 'die Kirche und Gott' bezogen sondern auf 'höhere Mächte'. Die Frage nach der philoso- phischen Komponente von Spiritualität (6) wird in der Auseinandersetzung mit Fragen 'Woher komme ich, wohin gehe ich?' deutlich und spiegelt Fragen der 'Sinngebung'. Als übersinnliche Erfahrungen (7) wurden 'Mystisches und Mysteriöses' genannt, 'Energien, die man nicht sehen kann, die uns aber beeinflussen'. Hierunter fallen auch Erlebnisse intensiver Naturverbundenheit. Die am seltensten ausgesprochene Kategorie ist die der Individuation (8), die Spiritualität als etwas versteht, worin es darum geht, 'Innere Reife zu erlangen' und 'heil zu werden', auch mit Hilfe von alternativer Medizin. Als ein 'Innerer Weg und Selbstfindung' bezeichnet, wird hier das Prozesshafte von Spiritualität betont, als ein Weg nach innen, der in die 'Freiheit' führt (vgl. Bucher 2007).

3.2. Verbundenheit und Suchen als Aspekte von Spiritualität

Aufgrund der Weite und Vielschichtigkeit des Begriffes Spiritualität ist es bisher nicht gelungen, eine einzige schlüssige Definition zu formulieren (vgl. Walach 2005, Büssing, 2006; Bucher 2007). Angemessen für diese Arbeit ist es, den subjektiven Bezugs- rahmen, in den Spiritualität gesetzt wird, zu berücksichtigen. Er findet seinen Ausdruck in gelebter Spiritualität, welche sich als innere Erfahrung mit intendierter Handlung zeigt. Um sich der Vielfältigkeit dieses individuellen Ausdrucks nähern zu können, greift diese Arbeit auf das Konzept der Verbundenheit (conectedness) zurück (vgl. Bucher, 2007). Bucher plädiert "...für ein Verständnis von Spiritualität, in dem diese wesentlich Verbundenheit und Beziehung ist, und zwar zu einem den Menschenübersteigenden, umgreifenden Letztgültigen, Geistigen, Heiligen, das für viele nach wie vor das G ö ttliche ist; aber auch die Beziehung zu den Mitmenschen und der Natur. Diese Ö ffnung setzt voraus, dass der Mensch vom eigenen Ego absehen bzw. dieses transzendieren kann" (ebd., 2007, S.56).

Verbundenheit zeigt sich in verschiedenen Ausprägungen in unterschiedlichen Lebensbereichen: Auf der sozialen Ebene, wie z. B. der Paarbeziehung, der Familie, der Institution und dem Staat, findet menschliches Miteinander statt. Auf geistiger Ebene sind es Gedanken, Konzepte, Ideen sowie Überzeugungen, die Menschen miteinander verbinden. Auf der körperlichen Ebene sind es biochemische Vorgänge, Regelkreise wie auch das Ein- und Ausatmen ein und derselben Atemluft. Das Konzept der Verbundenheit impliziert in diesem Fall Verbundensein als einen Zustand permanenter Resonanz zwischen Geist, Seele, Körper und Umwelt (vgl. Bucher 2007).

Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses entsteht die Möglichkeit der Übertragbarkeit und der gegenseitigen Spiegelung bestimmter Wirkprinzipien. In der Medizin ist es der Bereich der Psychosomatik, welcher sich mit seelisch-körperlichen Wechselwirkungen beschäftigt. Unter Einbezug einer spirituellen Dimension weitet sich das Feld möglicher Wechselwirkungen auch auf die geistige und die feinstoffliche Ebene aus. Sich verbunden fühlen als subjektiver Ausdruck gelebter Spiritualität ermöglicht eine wertfreie Beschreibung der individuellen Vorstellungen von Spiritualität, da sich hier vor allem auch solche Erfahrungen in einen Bezug setzen lassen, die den herkömmlichen Rahmen unserer Alltagswahrnehmung überschreiten. Die feinstoffliche Ebene ist z. B. nicht an die Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit gebunden und ermöglicht subtile energetische Prozesse der Informationsübermittlung, wie z. B. das Gebet, als eine Möglichkeit der Zwiesprache mit einer höheren Instanz (Gott, Engel).

In Bezug auf Gesundheit und Krankheit erlaubt das Konzept der Verbundenheit Schlüsse zu ziehen und sich dem übergeordneten Sinn insbesondere von Krankheit zu nähern. So liegt der Frage nach Sinnhaftigkeit von Krankheit auch die Idee der Verbundenheit zugrunde. Sie öffnet den Weg für eine Herangehensweise, welche über schulmedizinische Erklärungsmuster hinausgeht und nach übergeordneten Zusammen- hängen fragt. Sinn wird hier als ein perspektivisches Deutungskonstrukt verstanden und kann immer nur über eine subjektive Deutung erfasst werden. Einer Krankheit einen Sinn zu geben heißt, ihr eine subjektive Be-Deutung zu geben. Das Gegenteil von Verbundenheit ist das Gefühl des Getrennt-Seins. Schwartz (2001) entwirft ein Modell, in dem der Mensch als komplexes System betrachtet wird und die grundsätzliche Ursache von Krankheit in dem Gefühl des Getrennt-Seins liegt. Befindet sich ein Mensch in dem Gefühl des Gertrennt-Seins, legt Schwartz diesem Zustand Unachtsam- keit zu Grunde, in deren Folge der Mensch daran gehindert wird, Rückmeldungen von Körper und Geist wahrzunehmen. Verliert der Mensch als sich selbst regulierendes System auf Grund von Unachtsamkeit die Möglichkeit der Rückkopplung, gerät er aus seiner Balance und die daraus resultierenden Fehlsteuerungen führen zu Krankheit (vgl. Kabat-Zinn, 2007).

Verbundenheit als ein Aspekt weiblichen Zugangs zu Spiritualität

Genderforscherin Gilligan (1993) weist in ihrer Abhandlung 'Die andere Stimme Lebenskonflikte und Moral der Frau' auf entscheidende Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Identität hin. In ihren Augen ist die weibliche Persönlichkeit stärker über das Verbundensein mit anderen Menschen definiert als eine männliche Identität. Weibliche Geschlechtsidentität entwickelt sich über Erfahrungen von Bindung und Intimität, die männliche hingegen entwickelt sich über Erfahrungen der Autonomie und Ablösung (Gilligan, 1993).

Da in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit das 'In-Beziehung-Sein' ein wichtiges Kriterium für die Themenkompetenz ist, findet sich hier ein weiterer Grund dafür, der Zugang zu subjektiven Vorstellungen von Gesundheit und Spiritualität über die Lebenswelten von Frauen vorzunehmen (vgl. Kap. 2.3). Die zitierten Probandinnen haben zum einen eine Offenheit für spirituelle Inhalte und stehen zum anderen mit Menschen in Beziehung. Als Antwort auf spezifische Anforderungen des beruflichen und privaten Alltags sind ihre Beziehungen durch Verantwortung im Sinne selbstreflexiver Handlungskompetenz geprägt. Vor dem Hintergrund des Kontextes von Beziehung und Verbundenheit überrascht es nicht, dass die Studie der Identity Foundation als deutliches Ergebnis hervorbringt, dass bei Frauen die Ausrichtung auf Spiritualität und die damit verbundene Praxis doppelt so hoch ausgeprägt ist wie bei Männern.

Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Begriffsbestimmung von Spiritualität ist das motivationale Moment der Suche nach Sinn und Bedeutung, welcher in dem folgenden Vorschlag durch Büssing und Ostermann deutlich wird: "Mit dem Begriff der Spiritualität wird eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der/die Suchende ihres 'g ö ttlichen' Ursprungs bewusst ist [...] und eine Verbundenheit mit anderen, mit der Natur, mit dem G ö ttlichen usw. spürt. Aus diesem Bewusstsein heraus bemüht er/sie sich um eine konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsichten im Sinne einer individuell gelebten Spiritualität, die durchaus auch nicht-konfessionell sein kann. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Vorstellungen" (Büssing und Ostermann zit. in Büssing, 2006a, S.23).

Das Suchen nach Sinn und Bedeutung als Lebenseinstellung spiegelt sich in einer Begrifflichkeit von Belschner wieder, der in seinem Artikel 'Tun und Lassen: Ein komplementäres Konzept der Lebenskunst' (2001), von einer richtungsweisenden, grundlegenden Lebenssehnsucht spricht. Sie ist es, die das individuelle Leben als einen Ausdruck schöpferischen Geschehens vorantreibt und von dem Autor als kreative Entfaltung einer impliziten Ordnung verstanden wird. Dieses 'In-die-Welt-Bringen' des individuellen Potentials als ein individueller, unhintergehbarer Sinn, stellt die menschliche Biografie als ein Projekt dar, in dem sich eine spezifische Sehnsucht des Lebens gegen alle Widerstände einer Lebensgeschichte manifestieren will (Belschner, 2001). Dieser Ansatz wird auch in den Aussagen der in dieser Arbeit geführten Interviews deutlich (Vgl. Kap.4.2).

3.3. Spiritualität im Gesundheits(und Krankheits-)bezug

Im Hinblick auf die aktuelle Forschung ist der Gesundheitsbezug von Spiritualität vielfach legitimiert. In ihrem Artikel 'Spiritualität als Ressource' stellen Walach und Kohls (2008) die Frage, inwiefern Religion bzw. Religiosität oder Spiritualität hilfreich für die Bewältigung des Lebens und für die körperliche und geistige Gesundheit sind. Sie stellen fest, dass in der aktuellen Forschung wenig zwischen Religion und Spiritualität differenziert wird. Die Operationalisierung des Begriffes Spiritualität stellt sich als schwierig dar, da es starke begriffliche Unterschiede zwischen den einzelnen Studien gibt. Die Autoren registrieren des Weiteren, dass eine positive Korrelation zwischen Religion und Gesundheit weniger mit der Religion als solcher zu tun hat, sondern mehr mit den damit verbundenen Verhaltensweisen. So geben einige Religionsgemeinschaften Verhaltensweisen vor, die als vorteilhaft für die Gesundheit gelten können, da sie direkt oder indirekt positives Gesundheitsverhalten hervorrufen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Subjektive Vorstellungen von Gesundheit und Spiritualität
Hochschule
Europa-Universität Flensburg (ehem. Universität Flensburg)  (Institut für Psychologie- Abteilung Gesundheitspsychologie und Gesundheitsbildung)
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
107
Katalognummer
V141414
ISBN (eBook)
9783640506491
ISBN (Buch)
9783640506705
Dateigröße
866 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit bewegt sich im Bereich der qualitativen Sozialforschung. Methode ist das Problemzentrierte Interview. Probandinnen sind Frauen mittleren Lebensalters. Der Themenkomplex Gesundheit und Spiritualität wird prozesshaft erschlossen.
Schlagworte
Gesundheit, Spiritualität, Gesundheitsförderung, Religion, Identität, Salutogenese, Qualitative Sozialforschung, Gesundheitsbildung, Gesundheitspädagogik, Krankheit, Entwicklung, Interview, Frauen, alternative Heilmethoden, Ganzheitliche Gesundheitsberatung, Kerngesund, Ressource, Gott, Subjektive Gesundheitsvorstellungen, Laiengesundheit, Gesundheitspsychologie, Achtsamkeitsmeditation
Arbeit zitieren
Gesine Hansen (Autor:in), 2009, Subjektive Vorstellungen von Gesundheit und Spiritualität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141414

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