Talkshows - Kurztherapie oder psychische Vergewaltigung?


Seminararbeit, 2001

26 Seiten, Note: 1 (sehr gut)


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitendes

2. Wer wird Talkgast? Über den Weg vom Rezipienten zum Fernsehakteur
2.1 Die Motivation zum Auftritt
2.2 Motivtypen nach Bente/ Fromm
2.3 Motiv: Parasoziale Beziehung (PSB )

3. Der Fernsehauftritt
3.1 Ein für den Talk- Gast befriedigender Verlauf einer Aufzeichnung
3.2 Exkurs: Der Moderator als Therapeut?
3.3 Ein für den Talk- Gast unbefriedigender Verlauf einer Aufzeichnung

4. Die Folgen des Auftritts

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einleitendes

Der Talkshow- Moderator Hans Meiser berichtet 1997 in der Zeitschrift „Der Spiegel“ , er begegne auf Schritt und Tritt einem „TV- geilen Volk“, das sich vor der Kamera produzieren möchte1. „ Wenn ich unterwegs bin [...] begegnen mir Leute, die erklären: ‚Ich kann zu jedem Thema etwas sagen‘.“ Der Fernsehwert scheint in unserer Gesellschaft zu steigen, während andere Werte immer mehr regelrecht verschwinden. Traditionen und Institutionen verlieren ihren Einfluß, jeder definiert immer mehr für sich selbst, was richtig und falsch bzw. gut und schlecht ist. Der Philosoph Bloom behauptet, der moderne Mensch sei „geistig ungerüstet, beziehungslos, isoliert, mit keinerlei ererbter oder vorbehaltloser Bindung an irgendwas oder irgendwen“. Deutlich zeigt sich in unserer Gesellschaft ein Trend zum Individualismus sowie zur Lustmaximierung und damit zur Selbstinszenierung. Ausdruck dessen sind Veranstaltungen wie die alljährliche Loveparade in Berlin, anläßlich welcher sich halbnackte Menschen in ihrer „Ausgeflippthei“t gegenseitig zu überbieten versuchen. Exhibitionismus scheint beinahe eine Tugend geworden zu sein.

Oder man bedenke die rasant wachsende Zahl von Extremsportarten, frei nach dem Motto „höher, schneller, weiter“. Durchschnittlich zu sein ist nicht mehr gut genug. Aus der Masse herauszuragen wird immer wichtiger für das Ego des Durchschnittsbürgers. Ausdruck dieser Entwicklung ist auch die Veränderung in der Fernsehlandschaft. Gewinnshows, Reality- TV á la Big Brother und Talkshows überschwemmen den Markt. Mit ihrer Hilfe hat der Normalbürger die Möglichkeit auszubrechen aus dem Kreis der Unscheinbaren und Normalsterblichen. Besonders in der Talkshow kann er sich aus seiner Isolation herauslösen und dabei sich seiner Identität durch die Zustimmung der Öffentlichkeit versichern. Denn was im Fernsehen gesagt wird, scheint mehr Wert zu besitzen als das Wort in der Kirche. Wer gesendet wird, scheint wertvoll zu sein.

Talkshows sind Sendeformate, in welchen unprominente Gäste Geschichten aus ihrem Leben möglichst authentisch vor laufender Kamera präsentieren. Die Shows laufen in Deutschland von 10 bis 16 Uhr, also zu einer recht schwierigen Sendezeit, da Nebenzeit. Sie werden meist Fließband- ähnlich abgedreht und äußerst günstig produziert, so daß sich die Produktion trotz Sendezeit rentiert. Nach Angaben der Zeitschrift „Der Spiegel“ sind im Mai des Jahres 2000 pro Tag 780 Minuten Talk im Fernsehen verfügbar gewesen.

Obwohl Talkshows nur selten live gesendet werden, ist ein wichtiges Merkmal dieser Sendeformate gerade der Live – Charakter, der die Authentizität des Talks unterstreichen soll. Dieser entsteht durch ein Präsenspublikum, durch eine zum Teil sehr lockere Kameraführung (Handkameras) und manchmal auch durch Call- in- Aktionen für Zuschauer. Das Anliegen dieses Genres ist es, so die Macher, die Realität abzubilden. Dabei kommt es in manchen Sendungen jedoch immer weniger auf den Wahrheitsgehalt an, sondern vielmehr darauf, glaubhaft zu verkörpern2. Zentraler Punkt des Geschehens sind jedoch nicht nur die Gäste, sondern ist hauptsächlich der Moderator, nach dem die Sendung benannt ist und der sich Gäste einlädt, um mit ihnen „so ganz unter uns“ ein bißchen zu plaudern. Dieses Gefühl der Vertrautheit wird durch gegenseitiges Duzen betont. Der Moderator stellt außerdem das „konstante menschliche Element“3 zwischen den ständig wechselnden Themen und Gesichtern dar, er erscheint dadurch „verläßlich“ und ermöglicht eine andauernde emotionale Bindung des Rezipienten an das Programm bzw. an die Sendung. Sachliche Details, Fakten und Hintergrundinformationen werden bei den Einzelschicksalen außen vor gelassen. Emotionen, Sensationen und Skandale stehen im Vordergrund, denn der Zuschauer sucht hauptsächlich Unterhaltung, Ablenkung und Nervenkitzel, so die Macher.

Für prominente Personen mit TV- Erfahrung oder Schauspieler, die den „authentischen“ Talkgast für eine Aufzeichnung abgeben, sind Auftritte in diesen Sendeformaten kaum problematisch. Sie wissen wie sie mit dem Medium Fernsehen, einem Millionenpublikum und gewissen Fragen des Moderators umzugehen haben, so daß sie sich im Nachhinein wohl kaum mit unerwarteten und unangenehmen Reaktionen darauf auseinandersetzen müssen. Sie sind sozusagen in der Lage, mit einem Millionenpublikum umzugehen. Des weiteren wird sich die Regie bei einflußreichen Personen vermutlich hüten, diese „übers Ohr zu hauen“.

Wie sieht das aber bei dem Laien aus?

Was für Menschen sind das, die sich vor einem Millionenpublikum in eine für sie völlig neue Situation begeben, in der sie sich dann sozusagen offenbaren? Was bezwecken sie wirklich damit? Wie fühlen sich Talk- Kandidaten während der Sendung und wie fühlen sie sich danach? Könnte es nicht sein, daß angesichts der Tatsache, daß der Rezipient bloß Unterhaltung sucht, der eine oder andere Talkgast ohne es zu wissen zur allgemeinen Belustigung regelrecht vorgeführt wird? Daß ein Kandidat angesichts der „intimen“ Stimmung im Studio und der gekonnten „Verhörung“ durch den Moderator Dinge preisgibt, die er eigentlich nicht ansprechen wollte? Sind Laien den Machern aufgrund ihrer Unwissenheit im Grunde nicht sogar völlig hilflos ausgeliefert? Und wo sind die Macher, wenn ein Talkgast aufgrund der Aufzeichnung auf Ablehnung oder Angriffe aus seinem Umfeld stößt? Gibt es eine psychologische Betreuung der Gäste, die beim Rückweg in den Alltag behilflich ist? Wie gehen Gäste mit schlechter Publicity um? Oder gibt es vielleicht keine negativen Reaktionen, weil der Stellenwert des „Im- Fernsehen- gewesen- seins“ in unserer Gesellschaft so hoch ist?

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit möchte ich diese Fragen diskutieren und Studien vorstellen, die versuchen, Antworten darauf zu geben.

2. Wer wird Talkgast? Über den Weg vom Rezipient zum Fernsehakteur

Talkgast kann heutzutage jeder werden. Hauptkriterium um in eine Talkshow eingeladen zu werden ist eine medientaugliche Story. Der Gast muß bereit sein, in der Sendung zu dem jeweiligen Thema aus persönlichem Erleben eine möglichst skurrile, absurde, lächerliche, depremierende, obszöne oder sonst irgendwie besondere Anekdote vorzutragen. Die Themenpalette ist relativ unbegrenzt. Quotenrenner sind Themen, welche die Bereiche des Alltags mit seinen Problemen und Konflikten behandeln, die zum einen in den Verbindungen des Einzelnen zur Außenwelt hin, zum anderen im persönlichen Intimbereich liegen. Dabei handelt es sich weniger um Sex und Erotik, was möglicherweise an der Sendezeit liegen könnte. Den größten Anteil machen nach Krüger (1998) somit Alltags- und Bezieh-ungskonflikte aus, gefolgt von Familie und Liebe/Partnerschaft. Den meisten Themen gemein ist jedoch, daß sie in den verschiedensten Variationen immer wieder auftauchen, ähnlich wie manche der entsprechenden Talk- Gäste selbst.

Der Weg in die Talkshow ist vielfältig. So wird im Rahmen der Talkshows auf bevorstehende Themen aufmerksam gemacht: In einem Spot spricht der oder die Moderator/in die Zuschauer „direkt“ zu einem bestimmten Thema an und fordert sie auf, sich dazu zu äußern und sich über einer Hotline4 zu bewerben. Für diejenigen, die diesen Aufruf verpaßt haben, gibt es eine Seite im Videotext. Auf Werbeplakaten oder sogar mit Anzeigen in Boulevardblättern werden Talkgäste zu konkreten Themen akquiriert. Professionelle Casting-Agenturen, Headhunter genannt, veranstalten regelmäßig Castings, um neue interessante Ge-sichter zu finden, die vielleicht zu einem Thema passen könnten. Aber auch die Redaktion selbst macht sich auf die Suche nach neuen Gästen: So werden Vereine oder gar Selbsthilfegruppen kontaktiert. Auch kleine Zeitungsmeldungen über Menschen, die in skurrile Situationen gerieten, könnten potentielle Talkgäste sein. Hinzu kommt, daß viele Menschen auch auf potentielle Kandidaten in ihrem Bekanntenkreis aufmerksam machen (Information der RTL-Pressestelle), daß also die Bewerbung über Dritte stattfindet.

Talkgäste kommen also ins Fernsehen aufgrund ihrer Eigeninitiative im Falle einer Bewerbung, auf-grund einer Bewerbung durch Dritte wie beispielsweise im Falle einer Überraschungssendung oder aufgrund einer gezielten Einladung durch die Redaktion. Sie alle müssen jedoch noch ein Auswahl-gespräch bestehen, in welchem die Tauglichkeit und möglicherweise auch die Authentizität der Person geprüft werden.

Gary Bente und Bettina Fromm fanden in ihren Studien zu ihrem Buch „Affektfernsehen“ heraus, daß sich die meisten Talkgäste dabei zuerst keine Chancen ausrechneten. Zu groß sind die Zweifel in Bezug auf die Bedeutsamkeit der eigenen Geschichte und der eigenen Person. Viele gaben an, sich aus Jux beworben zu haben So bedeutet schließlich die Einladung in die Talkshow oft eine Bestätigung durch die Sendung und deren Macher. Das Gefühl von ihnen ernst genommen zu werden und die interessanteste Geschichte erzählt zu haben, die es wert ist einem Millionenpublikum vorgestellt zu werden, führt nach Bente/Fromm zu einem Hochgefühl und einer immensen Selbstbestätigung seitens der Kandidaten.

2.1 Die Motivation zum Auftritt

Was treibt Menschen nun aber wirklich in die Talkshows? Woher kommt die Motivation einem Millionenpublikum zum Teil intimste Themen zu beichten? Natürlich ist in unserer Alltagskultur ein Trend zur Veröffentlichung zu verzeichnen: die Grenzen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben haben sich allmählich verschoben. Am deutlichsten wird das an dem Gebrauchsgegenstand und „Imagevertreter“ Mobiltelefon. Mehr und mehr wird es an öffentlichen Plätzen wie Restaurants, im Bus oder auf der Straße genutzt. Bestimmt hat jeder von uns schon einmal die Erfahrung gemacht, daß es manchem Handy-Besitzer gleichgültig zu sein scheint, ob andere seine Gefühle, Konflikte oder anderes Privates sozusagen live und direkt mithören können. Der Mobiltelefonierende versucht oft gar nicht erst eine Distanz zu möglichen fremden Mithörern herzustellen, offenbar empfindet er es nicht als Risiko Intimes publik zu machen oder aber er erwartet von seiner Umwelt, daß sie das Gehörte sozusagen diskret behandelt bzw. überhaupt nicht mithört.

Aber der Trend zur Veröffentlichung von Privatem geht noch weiter, sogar bis in die Kreise der Prominenten (man denke nur an die eine oder anderer Person, die sich Paparazzis zu Nutzen machte!) oder in die der Politiker. Wenn diese ihr Privatleben offenlegen, hoffen sie, unterbewußt an dumpfe Gefühle der Gemeinschaftlichkeit, an Wärme und Geborgenheit appellieren zu können5. Und spätestens seit dem Aufsehen um die Lewinski-Affaire wissen wir, daß das Intimleben der Politiker wichtiger sein kann als politisches Programm! Ein weiteres amerikanisches Beispiel Bill Clintons stammt aus der Zeit seines ersten Präsidentenwahlkampfes 1992: Clintons angebliche Freundin Gennifer Flowers plauderte Bettge-schichten aus. Eine prekäre Lage, der Clinton zu entkommen versuchte, indem er mit seiner Ehefrau zur besten Einschaltzeit im Fernsehen auftrat. Händchenhaltend beichtete das Ehepaar der Nation ihre ehelichen Probleme und Vergehen. Es half! Nach Senett will der Politiker mit der Zurschaustellung seiner Persönlichkeit den Wähler dazu bringen, daß er ihm vertraut, sich identifiziert und sich somit von seinen Emotionen leiten läßt, also irrational handelt. Außerdem wird dem, was man im Fernsehen gesehen hat, sozusagen mit seinen eigenen Augen, mehr Glauben geschenkt als allem anderen.

Der Trend zur Veröffentlichung schreitet also immer mehr voran und entwickelt sich sogar zu einem wichtigen Propaganda – Instrument.

Die erste empirische Arbeit zu den Motiven von Talkshow- Kandidaten stammt von Priest6. Sie befragte 40 amerikanische Kandidaten nach deren Talkshow - Auftritten, dabei handelte es sich überwiegend um Mitglieder sozialer Randgruppen. Die Interviewten betonten alle ihr Anliegen, auf die jeweilige soziale Gruppe aufmerksam zu machen und um Verständnis in der Öffentlichkeit zu werben. Des weiteren spielt der Wusch nach Anerkennung oder „mal ins Fernsehen zu kommen“ eine wichtige Rolle. Priest bestimmte in ihren Untersuchungen vier Motivtypen:

Den „Evangelist“, der seine Sicht der Welt verbreiten möchte, den „Moth“, welcher vom Licht der Mattscheibe magisch angezogen wird, des weiteren den „Plaintiff“, der einen von ihm als proble-matisch bewerteten Zustand anprangern will und den „Marketer“, der seinen Auftritt für (werbe-) wirtschaftliche Zwecke nutzt.

In Frankreich untersuchte Mehl im Jahr 1996 ebenfalls die Motive zum Auftritt in Talkshows und fand heraus, daß der Auftritt als Mutprobe angesehen wird und somit positive Erfahrungen mit sich bringt. Eine therapeutische Wirkung der Sendung soll – zeitlich begrenzt- vorhanden sein. Mehl unterscheidet ebenfalls vier Motive: die persönliche Botschaft an eine Person, das therapeutische Gespräch mit dem Moderator, die Fernsehbeichte als kathartisches Moment aufgrund öffentlicher Selbstproblema-

tisierung und die öffentliche Botschaft an alle aufgrund einer eigenen Erfahrung.

Reichertz arbeitete im deutschsprachigen Raum vier quasireligiöse Funktionen von Livesendungen heraus, von denen zwei Talkshows zuzuordnen sind7: Beichte und Absolution, da das Fernsehen als medienvermittelnde Version der katholischen Beichte verstanden wird, sowie Mitgefühl und finanzielle Hilfe, da das Fernsehen karitative Funktionen ausfüllen kann und finanzielle bzw. emotionale Unterstützung ermöglicht.

Allen Untersuchungen ist gemein, daß immer ein Profit für die eigene Person im Fernsehauftritt gesehen wird. Keine der Studien spricht Motive wie Neugier an. Dagegen scheinen das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit sowie nach Hilfe therapeutisch- emotionaler, rechtlicher oder finanzieller Art eine wichtige Rolle zu spielen.

[...]


1 Der Spiegel 29/1997 S. 93

2 Der Spiegel 21/2000

3 siehe dazu Bente/Fromm (1997)

4 Begriff für den Telefonservice einer Talkshow

5 Senett (1983)

6 Priest (1995)

7 Reicherts (1997)

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Talkshows - Kurztherapie oder psychische Vergewaltigung?
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Institut für Volkskunde)
Veranstaltung
Proseminar: Talkshows - Spiegel- oder Zerrbild der Gesellschaft?
Note
1 (sehr gut)
Autor
Jahr
2001
Seiten
26
Katalognummer
V14119
ISBN (eBook)
9783638196086
ISBN (Buch)
9783656166726
Dateigröße
555 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit befasst sich mit Zuschauerprofilen von Talkshowrezipienten, sowie mit Talkgästen und den Folgen ihrer Auftritte.
Schlagworte
Talkshows, Kurztherapie, Proseminar, Gesellschaft, Medienwissenschaft, Volkskunde, Kulturwissenschaft, TV, Talk-Formate, Psychologie, Reality-TV, Talkshow, Medienpsychologie
Arbeit zitieren
Sandra Wesp (Autor:in), 2001, Talkshows - Kurztherapie oder psychische Vergewaltigung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14119

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