Ralf Stoeckers moralphilosophische Auflösung der Hirntoddebatte - Durchbruch oder Problemverlagerung?


Hausarbeit, 2005

13 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das Hirntodkonzept

Drei Lebensdefinitionen
a) Biologische Definition des Lebens
b) Bewusstsein als Definition menschlichen Lebens
c) Lebendigkeit als Definition des Lebens

Der moralische Status von Hirntoten und die moralphilosophische Auflösung der Hirntoddebatte

Konsequenzen aus der moralphilosophischen Auflösung

Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

Zu den Urängsten des Menschen gehört die Furcht, als noch Lebender bereits für tot gehalten zu werden. Diese Angst rührt daher, dass an Toten gewisse Handlungen vollzogen werden dürfen, für welche lebende Menschen tabu sind. Weil der medizinische Fortschritt die Grenze zwischen Leben und Tod immer stärker verschwimmen lässt und dadurch die alten Todeskriterien nicht mehr ausreichend sind, müssen neue Kriterien gefunden werden. Die Angst, auf Grund eines falschen Kriteriums als tot bezeichnet zu werden und somit unmoralisch behandelt zu werden, nimmt dadurch aber nicht ab. Im Gegenteil: Die Etablierung des Hirntodkriteriums entfachte einen nicht enden wollenden Diskurs.

Im Folgenden soll Untersucht werden, was die Konsequenzen einer rein moralphilosophischen Betrachtungsweise des Hirntods sind, wie sie Ralf Stoecker fordert. Dabei werde ich mich im Wesentlichen auf den Artikel Stoeckers „Die Hirntod - Debatte aus philosophischer Sicht“ stützen.

In einem ersten Teil möchte ich in die Thematik des Hirntods einführen, um dann das Problem der Todesdefinition und des entsprechenden Kriteriums aufzuzeigen. Im weiteren Verlauf soll, von der ethischen Grundannahme ausgehend, die Entwicklung des moralischen Status von Sterbenden untersucht werden, um anschliessend die Konsequenzen Stoeckers moralphilosophischer Auflösung der Hirntoddebatte darzustellen. Dabei soll die Frage geklärt werden, ob sie zu einem Durchbruch in der Hirntoddebatte oder einer blossen Problemverlagerung führt. Der Schwerpunkt soll der Hirntod an sich sein, doch scheint mir, in Anbetracht der immensen Wichtigkeit des Hirntodkriteriums für die Transplantationsmedizin, eine Kontextualisierung stellenweise sinnvoll.

Das Hirntodkonzept

Der medizinische Fortschritt in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts brachte neben den allseits gelobten neuen Möglichkeiten auch Probleme mit sich. Dies gilt auch für die Transplantationsmedizin, deren auf den ersten Blick doch so edles Ziel, nämlich die Rettung oder Verbesserung von menschlichem Leben, mit der ethisch korrekten Behandlung des Spenders vereinbar sein muss. Wenn es dabei um lebensnotwendige Organe1 geht, entsteht ein Dilemma. Einerseits ist es äusserst einleuchtend, dass nur toten Spendern Organe entnommen werden dürfen, da eine Explantation bei Lebenden deren Tötung bedeuten würde2. Andererseits können nur intakte Organe sinnvollerweise transplantiert werden. Dies hat zur Konsequenz, dass diejenigen Patienten, von welchen man mit Sicherheit sagen kann, dass sie tot sind (z.B. über längere Zeit herztot), sich als Spender nicht mehr eignen. Patienten aber, die von einem „endgültige[n], nicht behebbare[n] Ausfall der gesamten Hirnfunktion […]“3 betroffen sind, welche also hirntot sind, deren Herz aber, durch die intensivmedizinische Behandlung noch schlägt, die noch atmen und deren Organe demzufolge durchblutet sind, eignen sich sehr wohl als Spender.

Obwohl bereits in den 1950er Jahren der Hirntod als Todeskonzept entdeckt wurde, nämlich aus der „Erkenntnis der Sinnlosigkeit einer weiteren Therapie[…]“4 von tiefst komatösen Patienten und erst in den 60er Jahren mit der Transplantationsmedizin in Verbindung gebracht wurde, ist deren Funktion als Motor für die Etablierung des Hirntodkonzeptes nicht zu bestreiten. Diese Anschuldigung der „pragmatischen Umdefinierung des Todes“, wie sie Hans Jonas formulierte5, mag deshalb zwar berechtigt sein, doch ist dadurch die Richtigkeit des Hirntodes als Todeskriterium nicht beeinträchtigt. Diese Richtigkeit, so banal es auch tönen mag, ist allein davon abhängig, ob hirntote Menschen wirklich tot sind oder nicht. Um diese Frage zu beantworten und die Korrektheit des Hirntodes als Todeskriterium zu untersuchen, muss zuerst der Tod definiert werden. Grundsätzlich kann man sagen, dass ein Mensch genau dann tot ist, wenn er nicht mehr lebt. Dass sich Leben und Tod nach dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) verhalten, führte bereits Epikur zur Feststellung: „Der Tod ist ein Nichts: Solange wir da sind, ist der Tod nicht da; ist der Tod da, sind wir nicht mehr da.“

Darum ist es nötig, zuerst Überlegungen anzustellen, was es heisst, am Leben zu sein, sprich Aspekte zu finden, welche den Lebenden vom Toten abheben6. Nur so ist es möglich, in einem zweiten Schritt, den Hirntoten der Gruppe der Lebenden, oder derjenigen der Toten zuzuteilen.

Drei Lebensdefinitionen

a) Biologische Definition des Lebens

Eine heute populäre Möglichkeit das menschliche Leben zu definieren, liegt in der biologischen Betrachtung des Menschen7. Sie beinhaltet, dass der Mensch ein Organismus ist, der in seinem Mikrokosmos aus einzelnen Zellen besteht, welche ihr eigenes Leben haben. Das eigentliche Leben des Menschen besteht nun in der Fähigkeit der Selbstregulierung. Diese homöostatische Fähigkeit des Organismus bezeichnet das Vermögen des Systems sich selbst zu erhalten. Wie oben erwähnt, laufen jedoch auf zellulärer Ebene solche selbstregulierenden Prozesse autonom ab, auch noch lange Zeit nach dem offensichtlichen Tod eines Menschen (zum Zeitpunkt der Einäscherung oder der Erdbestattung). Auf der subzellulären Ebene kann man dieses Phänomen in einem noch frappanteren Ausmass betrachten: So können selbst Nukleinsäuren in den Genen von Pharaonen reaktiviert werden.8 Damit ist gezeigt, dass der Verlust aller homöostatischen Fähigkeiten zwar ein hinreichendes, jedoch aber kein notwendiges Kriterium ist, um einen Menschen als tot bezeichnen zu können. Das Wegfallen eines einzelnen Regulationsmechanismus reicht jedoch nicht aus, wie das Beispiel der künstlichen Beatmung zeigt: Die Intensivmedizin ermöglicht es, substituierend einzugreifen, sodass ein Beatmeter sicherlich nicht als toter Mensch bezeichnet werden kann. Also sind die homöostatischen Fähigkeiten lediglich Leben erhaltend und machen nicht das Leben aus. Demzufolge ist Leben das „faktische[ ] Bestehen des Systems, unabhängig davon, ob es intern oder extern stabilisiert wird“9 und nicht die Fähigkeit zur Selbstregulierung. Somit wären hirntote Patienten noch Lebende. Sieht man die künstliche Beatmung jedoch lediglich als eine Hilfe zur Eigenregulierung des Systems und knüpft den Tod an den definitiven

Ausfall aller vitalen10 Integrationsleistungen, dann scheint das Hirntodkriterium biologisch fundiert akzeptabel zu sein, insofern alle vitalen Integrationsleistungen durch das Gehirn koordiniert werden. Daraus kann man schliessen, dass die biologische Definition des Lebens keine eindeutige Antwort auf die Frage geben kann, ob Hirntote noch leben oder nicht. Darüber hinaus scheint mir die eindimensionale, rein naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des Lebens nicht ausreichend zu sein, um alle Aspekte zu erfassen, die einen Lebenden auszeichnen.

b) Bewusstsein als Definition menschlichen Lebens

Ein anderer Weg, das menschliche Leben zu beschreiben, ist der Versuch, das Vermögen des Menschen zum Bewusstsein seiner selbst als die Grundlage des menschlichen Daseins hinzuzuziehen.

Die Frage ob ein Mensch dann tot ist, wenn er sein Bewusstsein verliert ist schnell beantwortet: Das ist er mit Sicherheit nicht, denn Patienten, die aus einer Bewusstlosigkeit wieder erwachen, waren nie tot. Der endgültige, unwiderrufliche Bewusstseinsverlust als Todeskriterium anzunehmen, wirkt jedoch plausibel. Da „[…] Denkprozesse in der Hirnrinde einschliesslich der unmittelbar zugehörigen Nervenzell-Faserverbindungen des Grosshirns ausgebildet [sind] und […] die Verarbeitung von Erlebnissen, das Erinnern, die Planung und Ausführung von Handlungen und die Selbstwahrnehmung [ermöglichen]“11, ist ein endgültiger Ausfall der Gehirnfunktionen mit einem endgültigen Bewusstseinsverlust verbunden. Daraus folgt, dass, wenn man damit einverstanden ist, dass der irreversible Verlust des Bewusstseins ein Todeskriterium ist, das Hirntodkriterium auch als ein Solches akzeptiert werden muss.

Stoecker bezweifelt jedoch, dass das Leben nur an das Bewusstsein gebunden ist. Er äussert dazu den Einwand, dass ein Patient, der unter Vollnarkose (also bewusstlos) stirbt, nicht schon von Beginn der Narkose tot ist, obwohl er das Bewusstsein nie wieder erlangt. Das Todeskriterium müsste der Verlust der Fähigkeit bewussten Erlebens sein. Somit entsteht jedoch wieder das gleiche Problem wie schon bei der biologischen Definition des Lebens, nämlich dass der lebende Mensch metaphysisch, also durch seine Fähigkeiten bestimmt ist. Also ist das „am Leben Sein […] eine Fähigkeit und es fragt sich, wie ja auch schon bei den anderen vitalen

Fähigkeiten, […] warum man diese Fähigkeit als Kennzeichen erachten sollte, dass ein Mensch am Leben ist.“12

Somit ist auch mit der Herangehensweise über das Bewusstsein keine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden, ob Hirntote noch leben oder nicht.

c) Lebendigkeit als Definition des Lebens

Die äussere Erscheinung eines Menschen hat in der Praxis oft einen grossen Einfluss darauf, ob ein Patient als lebender oder toter Mensch angeschaut wird. Auf dieses äussere Erscheinungsbild gestützt, müssten Hirntote als noch Lebende angesehen werden. Die Lebendigkeit darf jedoch nicht mit dem am Leben Sein gleichgesetzt werden. Stoecker bringt hier das Beispiel der sog. Scheintoten13, an welchen gezeigt werden kann, dass eben dieser Schein tot zu sein trügen kann. In Zeiten, wo die Diagnostik allein auf den von aussen wahrnehmbaren Lebenszeichen beruhte, kam es vor, dass Menschen sogar lebendig begraben wurden. Der Schein könnte aber auch in anderer Richtung trügen, nämlich dass Patienten, welche noch lebendige Charakteristika aufweisen (z.B. Hirntote), bereits tot sind.

Dieser kurze Überblick über drei Ansätze, welche den Begriff des Lebens und den damit verbundenen Todesbegriff zu definieren versuchen, hat gezeigt, wie problematisch eine solche Definition ist und unsere Grundfrage, ob Hirntote noch leben oder nicht, bleibt innerhalb der einzelnen Definitionsparadigmen unbeantwortet. Konsequenterweise müssten diese begrifflichen Unklarheiten dazu führen, dass in Bezug auf den Hirntod eine tutoristische Haltung eingenommen werden müsste: Solange man nicht weiss, ob hirntote Patienten tot sind oder nicht, müssen sie als Lebende angeschaut werden und ihnen dürfen wegen dem Tötungsverbot keine Organe entnommen werden.

Da die Frage, ob ein hirntoter Mensch noch lebt, unbeantwortet bleibt, bietet sich eine andere Herangehensweise an, nämlich die Frage nach dem moralalischen Status eines hirntoten Menschen. Stoecker nennt diesen Schritt die moralphilosophische Auflösung der Hirntoddebatte. Der moralische Status einer Person beinhaltet ihre Schutzwürdigkeit. Im Folgenden soll nun geklärt werden, ob ein Hirntoter über diesen Status verfügt.

[...]


1 im Folgenden wird Organ stets in diesem, lebensnotwendigen Sinn verwendet. Lebens notwendig soll meinen, dass ein Leben ohne dieses Organ nicht möglich ist. Dies in Abgrenzung z.B. zu einer geringen Menge an Blut oder einer Niere, welche ja unbestrittenermassen ebenfalls lebenswichtig sind, dennoch aber gespendet werden können, ohne dass der Spender dadurch stirbt.

2 diese Prämisse, welche ich als Grundprämisse der moralisch legitimen Spende von lebensnotwendigen Organen bezeichnen möchte, beruht auf dem Tötungsverbot.

3 Ach / Quante (1997) S. 355.

4 Stocker (1999) S. 13.

5 vgl. Jonas (1985).

6 Dabei möchte ich auf religiöse Vorstellungen (etwa, dass das Entweichen der Seele aus dem menschlichen Körper die Grenze zwischen Leben und Tod markiert) nicht eingehen.

7 die Ausführungen in diesem Abschnitt orientieren sich im Wesentlichen an Stoecker (2003) II.

8 Vgl. Largiadèr, Candinas, Honsell (1999).

9 Stoecker (2003) S.54.

10 Befürworter des Hirntodkonzeptes trennen die Regulationsfähigkeit in vitale, und perifäre Mechanismen.

11 Stocker (1999) S.12.

12 Stoecker (2003) S.59.

13 Vgl. Stoecker (2003) S.60.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Ralf Stoeckers moralphilosophische Auflösung der Hirntoddebatte - Durchbruch oder Problemverlagerung?
Hochschule
Universität Zürich
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2005
Seiten
13
Katalognummer
V140734
ISBN (eBook)
9783640488421
ISBN (Buch)
9783640488582
Dateigröße
424 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hirntod, Organspende, Transplantation, Hirntodkonzept, Ethik, Sterbehilfe, Tötungsverbot, Tod, Todeskriterium
Arbeit zitieren
Mathias Haller (Autor:in), 2005, Ralf Stoeckers moralphilosophische Auflösung der Hirntoddebatte - Durchbruch oder Problemverlagerung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140734

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