Wozu brauchen wir Gemeindediakone/innen?

Biblisch-theologische Begründung eines Berufsstandes


Diplomarbeit, 2008

125 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkurzungsverzeichnis

Einleitung
Motivation und Zielsetzung
Herangehensweise
Hinweise zum Aufbau

I. TEIL: EXEGETISCHE UNTERSUCHUNGEN
1 Zum Bedeutungsspektrum der •‚àK-Wortgruppe
1.1 Die traditionelle These
1.2 Die neue These
1.3 Fazit
2 Diakonisches Handeln in jüdisch-christlicher Tradition
2.1 Matthäusevangelium – einleitender Teil
2.2 Die Salz- und Lichtworte in Mt 5,13-16
2.2.1 Kontextanalyse – die Bergpredigt
2.2.2 Einzelexegese Exkurs: Gute Werke
2.2.3 Zusammenfassung der Exegese
2.2.4 Biblische Aussagen über diakonisches Handeln
2.2.4.1 Diakonisches Handeln ist Teil der Identität der Kirche
2.2.4.2 Diakonisches Handeln wirkt missionarisch
2.3 Die Schilderung des Weltgerichts in Mt 25,31-46
2.3.1 Kontextanalyse – die Endzeitrede
2.3.2 Einzelexegese
2.3.3 Zusammenfassung der Exegese
2.3.4 Biblische Aussagen über diakonisches Handeln
2.3.4.1 Diakonisches Handeln ist Gerechtigkeitshandeln
2.3.4.2 Diakonisches Handeln ist Handeln an Gott selbst
2.3.4.3 Diakonisches Handeln ist konkretes Handeln
3 Gemeindediakonie der ersten christlichen Gemeinden
3.1 Die so genannte erste Diakonenwahl in Apg 6, 1-7
3.2 DiakonInnen in der biblischen Briefliteratur
3.3 Zusammenfassung
3.4 Biblische Aussagen über Gemeindediakonie
3.4.1 Gemeindediakonie orientiert sich an gesellschaftlichen Entwicklungen
3.4.2 Gemeindediakonie wird zur Qualitätssicherung delegiert
4 Fazit

II. TEIL: FOLGERUNGEN ANWENDUNGEN
5 Konsequenzen und Konkretionen
5.1 Berufsidentität
5.1.1 Das Professionalisierungsproblem von GemeindediakonInnen
5.1.2 Die spezifische Professionalität von GemeindediakonInnen
5.1.3 Fazit und Konsequenzen für die Ausbildung
5.2 Der Status
5.2.1 Das Impulspapier „Kirche der Freiheit“
5.2.2 Kritische Auseinandersetzung mit dem Impulspapier
5.2.2.1 Gemeindediakonie und GemeindediakonInnen
5.2.2.2 PfarrerInnen-Zentrierung und GemeindediakonInnen
5.2.2.3 Mission und GemeindediakonInnen
5.2.3 Fazit
5.3 Handlungsfelder
5.3.1 Das Wohnprojekt DOMINO
5.3.2 Kritische Auseinandersetzung mit dem Wohnprojekt DOMINO
5.3.3 Fazit und Konsequenzen für die Ausbildung
6 Programmatische Perspektiven für die Berufskonzeption
7 Persönliches Schlusswort

VERZEICHNISSE UND ANLAGEN
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Internet
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

if we are the body[1]

if we are the body

why aren't his arms reaching

why aren't his hands healing

why aren't his words teaching

and if we are the Body

why aren't his feet going

why is his love not showing them

that there is a way

there is a way

- casting crowns –

Einleitung

Motivation und Zielsetzung

Im Jahr 2003 wurden in meiner Heimat-Kirche, dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, revolutionäre Neuerungen im Bereich des Diakonats eingeführt: GemeindediakonInnen[2] werden seither ordiniert und sind dem Status nach PastorInnen gleichgestellt.[3] Dieser Beschluss stellt eine immense Aufwertung und Attraktivitätssteigerung des Berufsstandes von GemeindediakonInnen dar.

Im Jahr 2003 begann ich das Studium der Religionspädagogik/ Gemeindediakonie an der evangelischen Fachhochschule Freiburg mit dem Ziel Gemeindediakonin zu werden. Erst im weiteren Verlauf meines Studiums realisierte ich, dass GemeindediakonInnen in den verschiedenen Kirchen ein sehr unterschiedlichen Stellenwert und Status beigemessen wird. In der badischen Landeskirche ist es z.B. bisher nicht möglich oder auf absehbare Zeit angedacht, GemeindediakonInnen einen Status vergleichbar mit dem meiner Heimat-Kirche zu verleihen.

In dieser Spannung zwischen meinem persönlichen Hintergrund und den Erfahrungen in der Evangelischen Fachhochschule Freiburg stehend, beschäftigten mich von Anfang an Grundlagen meines Berufsstandes, dessen Stellenwert und Begründung in besonderem Maße. Es ergaben sich Fragen über die Berechtigung und den angemessenen Status meines zukünftigen Berufes. Wie wichtig sind GemeindediakonInnen? Und warum? Und welche Konsequenzen haben Antworten auf diese Fragen? Diese Fragen zogen sich durch mein gesamtes Studium.

Ferner erlebte ich die unterschiedlichsten Reaktionen auf meinen Berufswunsch als Gemeindediakonin. Häufig begegnete mir die Vermutung, DiakonInnen seien kleine PastorInnen bzw. Hilfs-PastorInnen. Wiederholt stellten sich Fragen wie diese: „Warum brauchen wir denn eigentlich GemeindediakonInnen?“ „Warum kann das nicht die Pfarrerin bzw. der Pfarrer tun?“ Oder: „Ich bin eigentlich gegen GemeindediakonInnen, weil ich finde, dass mehr ehrenamtliches Engagement gefördert werden sollte.“ Bei einem Bewerbungsgesprächen begegnete mir der gut gemeinte Satz: „Es ist ja nicht so schlimm, dass sie theologisch nicht so tiefgehend ausgebildet sind.“ Nein, das ist nicht so schlimm. Denn das ist nicht meine Profession. Es ist ja auch nicht schlimm, dass PastorInnen pädagogisch nicht so tiefgehend ausgebildet sind. All diese Statements zeigen ein großes Unverständnis davon, was GemeindediakonInnen sind und was sie tun. Seit Jahrzehnten spitzt sich die Frage nach der Notwendigkeit von GemeindediakonInnen in dem Zweifel zu, ob die Gemeinde neben dem Pfarrer überhaupt einen zweiten Beruf oder gar ein zweites ordiniertes Amt verträgt.

Die Notwendigkeit von GemeindediakonInnen, ihr Berufsfeld und ihre spezifische Professionalisierung sind meiner Erfahrung nach für viele Mitarbeiter und Mitglieder der Kirche nicht selbstverständlich. So müssen GemeindediakonInnen ihre Berufsidentität sowie ihre Daseinsberechtigung immer und immer wieder selbstbewusst begründen und erklären können. Vertreter dieses Berufsstandes brauchen ein stabiles Selbstvertrauen, und eine Sicherheit darüber, was ihre Tätigkeit begründet und als dringend notwendig ausweist. Denn, wenn GemeindediakonInnen selber nicht wissen, wozu es sie gibt, wie sollen es dann andere verstehen? Und warum machen sie es dann?

Im Rahmen meiner Diplomarbeit erhielt ich von Frau Prof. Dr. K die Möglichkeit, mit Studierenden im ersten Semester in einem Seminar Teile der vorliegenden Arbeit zu erarbeiten und meine eigenen Erträge zu präsentieren. So bat ich die Studierenden ihre Berufsidentität zu beschreiben, indem sie benennen sollten, wozu es GemeindediakonInnen gibt. Es folgten erstaunlich viele Negativdefinitionen ihres Berufsstandes. Kaum jemand zählte spezifische Aufgaben oder Kompetenzen von GemeindediakonInnen oder ein für GemeindediakonInnen spezifisches Fachwissen auf, welches ihre berufliche Existenz berechtigt. Hinzu kam, dass nahezu alle Wortmeldungen von angehenden GemeindediakonInnen den Berufsstand in Abgrenzung zum Pfarramt definierten. Außerdem ließen einige der Definitionen den Berufsstand der GemeindediakonInnen sehr in die Nähe von ehrenamtlich engagierten MitarbeiterInnen rücken. Teilweise war ein berufliches Selbstwertgefühl zu erahnen, konnte aber nicht eindeutig kommuniziert werden.

Das Thema dieser Arbeit ist mein Herzensanliegen. Ich möchte eine biblisch-theologische Begründung unseres Berufsstandes formulieren. Ich will klären können, warum es GemeindediakonInnen gibt, und ob bzw. warum sie so notwendig für die Kirche und in der Kirche sind. Auf diese Weise sehe ich diese Arbeit als einen Beitrag zur Stärkung des beruflichen Selbstbewusstseins von GemeindediakonInnen in der Praxis und im Studium. Doch nicht nur Studierende und GemeindediakonInnen sind Adressaten dieser Arbeit. Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass die hier erarbeiteten Inhalte in Gemeinden und Kirchen sowie Gemeinde- und Kirchenleitungen bekannt und vor allem immer mehr umgesetzt werden!

Herangehensweise

Eine Annäherung an den Berufsstand von GemeindediakonInnen ist in unterschiedlicher Art und Weise sinnvoll. So wäre eine historische Herangehensweise denkbar, die die Entwicklung des Berufes untersucht. Ebenso wäre es wertvoll, die bekenntnismäßigen oder rechtlichen Grundlagen des Berufes zu beleuchten und zu reflektieren. Die Confessio Augustana, das darin enthaltene Ämterverständnis oder die Stellung von GemeindediakonInnen in der Grundordnung der EKD oder ihrer Gliedkirchen, wäre ein interessantes Forschungsfeld. Auch die eingehendere Beschäftigung mit Professionalisierungstheorien oder die empirische Untersuchung und Beschreibung einer spezifischen Professionalität von GemeindediakonInnen wäre eine ]reizvolle Herausforderung, wie sie gerade in diesem Jahr Rainer Merz auf faszinierende Art und Weise in seiner Dissertation[4] bewältigt hat. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen musste ich mich leider für einen Zugang zum Thema entscheiden.

Im Laufe der exegetischen Untersuchungen wurde mir bewusst, dass es mein besonderes Anliegen ist, eine biblisch-theologische Begründung des Berufsstandes der GemeindediakonInnen zu erarbeiten. Es ist viel über die historische Entwicklung geschrieben worden. Ebenso ist kirchengeschichtlich sowie -politisch viel zum Thema gesagt worden und noch zu sagen. In dieser Arbeit ist das „Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments gegeben ist“[5] die Grundlage der Überlegungen zum Berufsstand der GemeindediakonInnen. Nach dem sprichwörtlichen Motto back to the roots will ich prüfen, welche biblisch-theologische Grundlagen für den Beruf der GemeindediakonInnen existieren und welche Konsequenzen diese haben bzw. haben müssten, wenn die Kirche sich „auf das in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments bezeugte Wort Gottes, die alleinige Quelle und oberste Richtschnur ihres Glaubens, ihrer Lehre und ihres Lebens“[6] gründen will.

Hinweise zum Aufbau

Die vorgelegte Arbeit ist in zwei Hauptteile gegliedert: An ausführliche exegetische Untersuchungen schließen Folgerungen der Erträge dieser Untersuchungen an, um

eine biblisch-theologische Begründung des Berufsstandes der
GemeindediakonInnen formulieren zu können. Anfangs werde ich den der Berufsbezeichnung DiakonIn zugrunde liegenden griechischen Begriff diakonos auf sein Bedeutungsspektrum hin untersuchen. Dieser Schritt ist deswegen so fundamental, weil eine falsch verstandene Berufsbezeichnung einer konstruktiven Profilierung des Berufsstandes der GemeindediakonInnen im Wege stehen könnte. Anschließend werden einige biblische Texte exegetisch auf ihre Aussagen über diakonisches Handeln, Gemeindediakonie und GemeindediakonInnen untersucht: Zunächst stehen biblische Aussagen zu diakonischem Handeln im Vordergrund, die anhand zweier matthäischer Texte erarbeitet werden. Darauf folgen Untersuchungen von Texten der Apostelgeschichte und biblischer Briefliteratur auf ihre Aussagen zu gemeindlicher Diakonie und GemeindediakonInnen. Im zweiten Teil dieser Arbeit werden Folgerungen der erarbeiteten biblischen Aussagen über diakonisches Handeln und Gemeindediakonie formuliert. Anhand exemplarischer Konkretionen werde ich darstellen, dass diese biblische Aussagen Konsequenzen für den heutigen Berufsstand von GemeindediakonInnen haben müssen. Diese werden anschließend als programmatische Perspektiven für eine Berufskonzeption vorgestellt.

I. TEIL: EXEGETISCHE UNTERSUCHUNGEN

1 Zum Bedeutungsspektrum der •‚àK-Wortgruppe

Die Berufsbezeichnung von GemeindediakonInnen besteht aus den Substantiven Gemeinde und DiakonIn, die jeweils so mehrdeutig sind, dass das Komposita nicht eindeutig wird, sondern im Gegenteil unterschiedlichst gefUllt werden kann. Der Teilbegriff Gemeinde kann die Gemeinde als ein Haus oder eine Versammlung von Menschen, eine Kirchen-, Pfarr- oder Anstaltsgemeinde meinen. Während hierunter demzufolge mehrere in sich eindeutig definierbare Begriffe gemeint sein können, ist der Begriff DiakonIn semantisch unklar. Neben der Bezeichnung Diakon ist der der Diakonie verbreitet, welcher gewohnlich ,,als Synonym für Liebestatigkeit (Caritas) verwendet„[7] wird. Dementsprechend erscheint ,,das Epitheton diakonisch als ein motivanzeigendes Beiwort für dasjenige soziale Handeln, das aus christlichem Glauben erwächst.„[8] Ein Diakon ware folglich ein Mensch, der aufgrund seines christlichen Glaubens eine Liebestatigkeit ausführt. Für dieses landlaufige Verständnis von Diakonen oder Diakonie findet sich allerdings kaum ein Anhaltspunkt in der etymologischen Wortbedeutung. Die Grundlage des Wortes Diakon ist das griechische Wort ...†âlcovoç/ diakonos, welches haufig mit Diener übersetzt wird. Für das, was wir heute mit Dienen oder Dienst meinen, findet das Griechische sechs verschiedene Begriffe[9]: Douleuein, latreouin, leiturgein, hypäretein, hierourgein und diakonein.

Douleuein oder douloun bezeichnet im NT an 33 Stellen den Dienst eines Sklaven. Für diesen hat sein eigener Wille und Motivation keine Bedeutung. Er muss seinen Dienst tun, da er seinem Herrn untersteht. Der Dienst im kultischen, also auch gottesdienstlichen Bereich, wird üblicherweise eher mit latreouin bezeichnet. Für diesen Bereich benutzt das Neue Testament aber auffallend profane Begriffe. Dahingegen wird in den 26 Fundstellen im Neuen Testament latreou auf das ganze Leben eines Christen ausgeweitet (Röm 12,1): Das ganze Leben soll Gottesdienst sein! Leiturgein wiederum beschreibt den Dienst eines Priesters, wie aus 14 Stellen im NT zu entnehmen ist. Hierourgein meint im Griechischen auch den priesterlichen Dienst, ist im NT aber nur in Röm 15,16 zu finden. Hier bezeichnet Paulus mit diesem Begriff seine Verkündigungstätigkeit. Diese Textstelle zeigt, wie nahe sich die verschiedenen Begriffe sind, da sie in Röm 15,16.25.27 im gleichen Kontext verwendet werden. Das Verb hypäretein meint im Griechischen das Dienen des Rudersklaven und findet sich als Verb nur in der Apg (Apg 13,36; 20,34; 24,23). Das Substantiv wird weitere 20 Mal im NT gebraucht. Diakonein, also das Verb dienen erscheint dort 37 Mal. Daneben taucht 34 Mal das davon abgeleitete griechische Wort für Dienst und 29 Mal das für Diener auf. Gegenwärtig bestehen vor allem zwei vorherrschende Thesen darüber, was dieses Verb diakonein und die davon abgeleiteten Begriffe diakonos und diakonia bedeuten. Nach der traditionellen These meint diakonia einen „Dienst der Liebe am Nächsten, und zwar in der Niedrigkeit, wie Jesus sie gelebt hat“[10], während die neue These dem widerspricht und diakonia als eine Vermittlertätigkeit deutet, welche „die Beauftragung als wichtigsten Aspekt“[11] bewertet. Diese Thesen werden im Folgenden dargestellt.

1.1 Die traditionelle These

Nach der traditionellen These von Herman Wolfgang Beyer[12] bezeichnete diakonia im Profangriechischen einen niedrigen Tischdienst im Sinne von bei Tisch aufwarten. Er stellt fest, dass der Schwerpunkt des Begriffes „auf der Unterworfenheit des Dienenden“[13] liege und dieses Dienen in „den Augen eines Griechen etwas Minderwertiges“[14] sei. Nach dieser traditionellen Deutung bezeichnete diakonein im Hellenismus eine minderwertige Tätigkeit, die eines freien Mannes unwürdig war, wie auch in Lk 22,27a herausgestellt werde: „Wer ist größer, der zu Tisch Liegende oder der Dienende? Nicht der zu Tisch Liegende?“[15] Beyer geht davon aus, dass dieser Begriff aus der griechischen Alltagssprache stammt und erst im Judentum auf den Kult und die tätige Nächstenliebe bezogen worden sei.[16] Dort sei er aber bis in das Spätjudentum immer weniger als Hingabe am Nächsten sondern immer stärker als „verdienstliches Werk vor Gott empfunden“[17] worden. Anschließend, so vermutet Beyer, sei diakonein im sich neu bildenden Christentum im Sinne des eigenen Ethos völlig umgedeutet worden. So werde im NT mit der Selbstbezeichnung Jesu als diakonos ein Paradigmenwechsel eingeläutet. In Mt 20,26b-27 wird deutlich, dass es nicht bei der Selbstbeschreibung Jesu bleibt, sondern dass diakonein die Sendung und den Auftrag Jesu an seine Nachfolger darstellt: „wenn jemand unter euch groß werden will, wird er euer Diener [=diakonos] sein, und wenn jemand unter euch der Erste sein will, wird er euer Sklave sein.“ Diakonein wurde laut Beyer durch Jesus „zum Inbegriff der gottgewollten sittlichen Haltung des ihm nachfolgenden Menschen gemacht.“[18] Daher werde die Tätigkeit der Apostel wird mit diesem Wort beschrieben wie beispielsweise in 2Kor 3,3 und 2Kor 6,3. Im Petrusbrief wird die zentrale Bedeutung des Dienens für jeden Christen betont: „Wie jeder eine Gnadengabe empfangen hat, so dient damit einander als gute Verwalter der verschiedenartigen Gnade Gottes!“(1Petr 4,10)

Beyer ist der Meinung, das Christentum hätte den ursprünglich profanen Begriff des eher unwürdigen Dienens zur programmatischen Beschreibung eines Christusnachfolgers umgedeutet. Angemerkt sei hier noch, dass Beyer diesen Vorgang reichlich grenzwertig als Reinigung des Dienstbegriffs „von den Verfälschungen, die er im Judentum erfahren hat“[19] betrachtet. Weiterhin wurde er in seiner Interpretation stark von Wilhelm Brandts Untersuchung „Dienst und Dienen im Neuen Testament“[20] geprägt. Brandt sah diesen Dienst des NT vor allem im Wirken der Kaiserswerther Diakonissen verwirklicht. So wurde unser heutiger Diakonie-Begriff stark von der Inneren Mission des 19. Jahrhunderts geprägt.

Zahlreiche Lexika übernahmen die Befunde Beyers unkritisch. Unter anderem ist hier das RGG[21] in der dritten Auflage von 1958 oder das griechisch-deutsche Wörterbuch von Bauer zu nennen. Alles in allem finden sich in den gebräuchlichen Wörterbüchern zum NT immer wieder Hinweise auf die Niedrigkeit des Dienens. So wird diakonia zumeist als Hilfeleistung und der diakonos als Helfer und Diener übersetzt[22] und so verweist Bauer beispielsweise auf die Bedeutung Unterstützung und auf den niedrigen Tischdienst[23]. Dort werden als Grundbedeutungen für diakonos die deutschen Bezeichnungen Diener oder Helfer als Übersetzungen angeboten[24]. Ebenso wird hier auf Jesus als Vorbild für diakonisches Handeln verwiesen, der seine Nachfolger dazu aufruft, so wie er ein Diener [diakonos] für andere zu sein. Bei Bauer wird ferner das kirchliche Amt des Diakons und der Diakonin erwähnt, welches besonders mit Verweisen auf Hinweise im Timotheus-, Philipper- und Römerbrief belegt wird. Aufgrund einiger Verse wird ein so genanntes dreigliedriges Amt angenommen. Laut Bauer kann unter Diakonie ein Dienst im Auftrag der Kirche verstanden werden. Doch darauf soll später näher eingegangen werden.[25]

Neben dieser Prägung unseres heutigen Verständnisses der diak-Wortgruppe kursiert in manchen Kreisen eine etymologische These. Diese besagt, das griechische Wort für Diener, also diakonos, würde aus zwei zusammengesetzten griechischen Begriffen bestehen. Bei drei verschiedenen Variationen dieser These wird dia mit durch, hindurch übersetzt. Anschließend stellen diese Variationen Vermutungen über den folgenden angeblichen Teilbegriff -konos/ -konia/ -konein an. Dieser wird bspw. als konos - Haus[26], als ein verwandter Begriff von conari - sich abmühen[27] oder als konis - Staub[28] identifiziert. Diesen Variationen entspringen demnach die unterschiedlichste Bedeutungen, die aber alle drei in eine ähnliche Richtung weisen: Die zwei ersteren meinen, Uber die Ursprungsbedeutung Hauswirtschaft ware die Hauptbedeutung von diakonos (...†âicovos) Diener entstanden. So sei mit dem Verb diakonein ursprUnglich Dienen am Tisch oder den Lebensunterhalt versorgen gemeint[29]. Die dritte Variante betont die UnterwUrfigkeit des Dieners, indem sie ihren bzw. seinen Dienst als durch den Staub gehen beschreibt.[30] Abzulehnen sind alle drei Ubersetzungsversuche, da das a in dieser Wortbedeutung kurz, das in diakonos aber lang ist.[31]

Zusammenzufassen ist: Zum Verb diakonein wird nach der traditionellen These dienen, helfen und für jemanden sorgen assoziiert. Dabei lag der Gedanke an die Innere Mission des 19. Jahrhunderts zugrunde. So ist es naheliegend, dass immer noch Begriffe wie Demut, Hingabe und Selbstlosigkeit mitschwingen, wenn jemand nach dieser weit verbreiteten Tradition als DiakonIn bezeichnet wird. Nach der traditionellen These wird demnach unter einem Diakon ein Mensch verstanden, der einen untergeordneten Dienst der Nächstenliebe im Auftrag Jesu und seiner Kirche versieht. Im Vordergrund des Verständnisses steht dabei meist der erste Teil dieser Definition: Der untergeordnete oder gar unterwUrfige und demUtige Dienst am Menschen mit christlicher Motivation.

1.2 Die neue These

Von dieser traditionellen These abweichend entstand in den letzten Jahrzenten eine Neuinterpretation des Diakonie-Begriffs durch John N. Collins. Der katholische Theologe aus Australien vertritt die These, der griechische Wortstamm des Begriffs Diakonie stelle nicht karitative Hilfsleistungen, die tätige Nächstenliebe oder den Hilfebedürftigen, sondern den Gehorsam eines Mandatsträgers in den Mittelpunkt.[32] Bisher wurden Collins Untersuchungen nicht in die deutsche Sprache übertragen. Hans-Jürgen Benedict war der Erste, der Collins Thesen im deutschen Sprachraum bekannt machte.[33] In der gleichen Tradition steht Anni Hentschel mit ihrer Dissertation „Diakonia im Neuen Testament“.[34] Beide beschreiben, dass Collins durch den Vergleich der Verwendung von diakonia, diakonos und diakonein im NT und ihrem Gebrauch in paganen antiken Quellen zu einer „Re-Interpretation“[35], also einer Neuinterpretation oder Umdeutung des Begriffes gelangte. Collins kann im Gegensatz zu Beyer keine Umdeutung der diak-Wortgruppe im NT zu dessen Bedeutungsspektrum in der griechischen oder gar jüdischen Umwelt entdecken. Mit dieser Neudeutung des Diakonie-Begriffes stellt Collins die „ganze Auslegungstradition in Frage.“[36]

Die traditionelle These, die besonders durch Beyer[37] und Brandt[38] entstand, bezeichnet Collins als Missverständnis und „Engführung des griechischen Lexems und seiner Bedeutungsgehalte.“[39] Collins erkennt in den Worten rund um den Wortstamm diakonia gerade nicht die tätige Nächstenliebe, den Dienst am Nächsten, die Barmherzigkeit und den demütigen und hingegebenen Dienst: „Care, concern, and love (...) – are just not part of their field of meaning.”[40] Er stellt drei Bedeutungsbereiche fest, in denen die diak-Wortgruppe verwendet wird: „Message, agency, attendance upon a person or in a household.“[41] Auf deutsch in etwa: Botengänge, Übermittlung von Botschaften, Ausführung von Aufgaben, Aufwartung gegenüber einer Person bzw. Arbeiten in einem Haushalt.[42] Demnach geht es bei Diakonia nicht um den Dienst am Nächsten, sondern um „den Dienst für einen Herrn, um das Dienen im Namen, im Auftrag und im Interesse einer übergeordneten Instanz.“[43] Als Beispiel verweist Collins auch auf die Bezeichnung des Götterboten Hermes als diakonos.[44] Das Griechisch-Englische Lexikon, das aus Bauers Wörterbuch entstanden ist, folgt Collins‘ neuer Übersetzung: Hier wird auf die Übersetzung „to function as an intermediary, act as gobetween/agent, be at one’s service” verwiesen. Christus wäre demnach nach Mk 10,45b nicht als Diener gekommen, sondern „to carry out an assignment, zu deutsch: (...) um einen Auftrag (eine Aufgabe) auszuführen.“[45]

Collins versteht unter diakonos weniger einen Diener als einen Gesandten, einen Beauftragten, einen Vermittler bzw. einen Übermittler und unter diakonein ein dazwischen gehen. Dabei können die zu übermittelnden Güter sowohl Nachrichten als auch Speisen sein. Das Überbringen von Speisen, also die Bedeutung von bei Tische dienen ist allerdings laut Collins nicht die Grundbedeutung, wie Beyer behauptet, sondern nur „eine mögliche Bedeutung von dazwischen gehen.“[46] In der Weiterführung dieses Gedankens stellt der Diakonie-Begriff laut Collins die Beauftragung in den Vordergrund.

Die „von den heutigen Exegesen behauptete Niedrigkeit“[47] des diakonos steht dabei keineswegs im Vordergrund der Wortbedeutung, da dieser Begriff nicht den Status beschreibt, sondern eher eine Aktivität benennt.

Da dieser Begriff laut Collins nicht aus der Alltagssprache stammt, sondern in Gedenkinschriften und Zusammenhängen tief religiöser Natur zu finden ist, wertet die Tätigkeit der diakonia den Beauftragten im Gegensatz zu Beyers Aussagen stark auf: Der Begriff enthält eine „Konnotation von etwas Speziellem, ja Würdigem.“[48] Durch diese Re-Interpretation wird aus dem Diakon also ein Vermittler oder ein Beauftragter. Collins Forschungsergebnisse widersprechen demnach dem traditionellen Gebrauch des deutschen Begriffes Diakon oder Diakonie. In der sehr wesentlichen Dimension des Status schaffen sie m.E. Weite und werten die als DiakonInnen Bezeichneten stark auf.

Durch diese Neudeutung wird ein entscheidender Konflikt der Diakonie gelöst. Theißen führt Argumente für eine „Legitimitätskrise der Hilfe“[49] an, die negative Nebenwirkungen von Hilfe und Hilfehandlungen aufzeigen. Unter anderem nennt er das soziologische Argument, dass Hilfe „oft nur eine kaschierte Form von Machtausübung und damit zumindest anfällig für die Schädigung des anderen“[50] sei. Die Geschichte der Entwicklungspolitik als Machtpolitik ist ein unrühmliches Beispiel dafür. Wenn Hilfehandeln innerhalb von Diakonie aber als Vermittlungstätigkeit verstanden wird, geht es gerade nicht mehr darum, die eigene Macht auszubauen und zu sichern. Hier geht es immer um den Auftrag eines anderen, einer höheren Instanz. Je nach Status des Auftraggebers kann ein diakonos „mit einem hohen Autoritätsanspruch auftreten“[51]. Dazu ist er aber freilich nur berechtigt, solange er sich auftragsgemäß verhält. Laut Collins Untersuchungen sind im NT mit den zu übermittelnden Gütern meist Botschaften vom Himmel, Botschaften zwischen den Kirchen oder Beauftragungen der Kirche gemeint. Der diakonos meint im NT kein/e DiakonIn im Sinne eines Amtes. Dass DiakonInnen im Neuen Testament etwas völlig anderes waren als heute, wird an anderer Stelle noch einmal ausführlicher thematisiert.[52] Hier ist aber festzuhalten, dass ein/e DiakonIn ein „Agent in heiligen Angelegenheiten“[53] ist.

1.3 Fazit

Die traditionelle These, dass Diakonie bzw. diakonisches Handeln ein selbstloser und niedriger Dienst am Nächsten sei, ist nach diesen Darstellungen überholt. Bei Collins wird ersichtlich, dass das griechische Wortes im NT keine Umprägung erfährt, sondern im NT wie im Hellenismus eine Beauftragung von Höchster Stelle meint. Demnach geht es bei diakonia „um Vermittlungstätigkeiten aller Art.“[54] Vermittelt werden können Güter für materielle Grundbedürfnisse, wie in Apg 6,2, gleichermaßen kann aber auch die Vermittlung einer Botschaft gemeint sein, wie in Apg 6,4 beschrieben. Konsequenzen macht Wilfried Brandt[55] durch einen Vergleich zwischen dem Gebrauch der Begriffe Mission und Diakonie deutlich: Mission wird landläufig mit Evangelisation gleichgesetzt, meint im eigentlichen Wortsinn aber lediglich die neutrale Sendung. Ebenso ist es mit der Diakonie: Gewöhnlich wird darunter der Liebesdienst der Christen verstanden. Tatsächlich meint es aber allgemein einen Vermittlerdienst, die Ausführung eines Auftrages. Der entscheidende Unterschied liegt in der Bekanntheit dieser Tatsache. Während der Begriff Mission immer wieder umgangssprachlich in der ursprünglichen Bedeutung verwendet wird, bleibt die eigentliche Bedeutung des Wortes Diakonie bisher meist unbeachtet und muss bei Übersetzungen und Interpretationen immer bewusst mit bedacht werden. Zu beachten ist die Reihenfolge: Christliche DiakonInnen sind demnach zunächst Beauftragte und erst in der Ausführung dieses Auftrages, welcher bspw. dem Liebesgebot Christi (Mk 12,31f) entspricht, auch „hilfreich sozial Handelnde und Dienende.“[56] Diakonie im Sinne von tätiger Liebe ist also nach Collins nur dann Diakonie wenn sie im Auftrag einer höheren Instanz verstanden wird und nicht automatisch jeder – oder eben ausschließlich – Dienst am Nächsten, jede tätige Nächstenliebe.

Nun bleibt zu klären, wie in dieser Arbeit die Worte Diakonie, diakonisches Handeln und der Begriff (Gemeinde-)DiakonIn verwendet wird. In unserer Alltagssprache sind häufig karitative Tätigkeiten impliziert, wenn von Diakonie oder diakonischem Handeln die Rede ist. Wie gezeigt wurde, kann aber eine besondere Wohltätigkeit oder Hilfsbereitschaft bei einem diakonos nicht vorausgesetzt werden. Keineswegs ist es aber auszuschließen, „dass das Lexem in einem entsprechendem Kontext (...) auch eine karitative Tätigkeit umschreiben kann.“[57] Da diese Arbeit sich mit dem Berufsfeld der christlichen GemeindediakonInnen auseinandersetzt, wird im Folgenden Diakonie und diakonisches Handeln immer in einem christlichen Horizont verwandt. Weil aber innerhalb der jüdisch-christlichen Religion das Liebesgebot eine zentrale Rolle spielt[58], werde ich im Weiteren die Begriffe Diakonie und diakonisches Handeln als vermittelndes Handeln im besonderen Sinne verwenden, nämlich im Sinne der Vermittlung von karitativen Tätigkeiten und Hilfehandeln. Diakonie und diakonisches Handeln umschreibt in dieser Arbeit also die Nächstenliebe in Wort und Tat, die im Auftrag des dreieinen Gottes geschieht. Ich möchte betonen, dass es meinem Verständnis von Diakonie entspricht, dass diakonisches Handeln Wort und Tat beinhaltet. Denn auch mit Worten werden „gute Taten“[59] getan. Wichtig ist hierbei, dass Diakonie und diakonisches Handeln nur in einem Sinne karitativen Tätigkeiten entspricht: Ausschließlich als Konsequenz des Auftrages Gottes.

2 Diakonisches Handeln in jüdisch-christlicher Tradition

Anhand von zwei Exegesen wird die Rolle von diakonischem Handeln in der jüdisch-christlichen Tradition untersucht und dargestellt. Zunächst folgt eine Exegese der Salz- und Lichtworte in Mt 5,13-16. Dieser Text erscheint mir in diesem Zusammenhang besonders geeignet, weil er für die Beschäftigung mit Diakonie recht untypisch ist und vergleichsweise selten angeführt wird. Der zweite untersuchte Text ist die Schilderung des Weltgerichts in Mt 25,31-46, der einen eher klassischen Diakonie-Text darstellt. Da beide Texte matthäisch sind, wird den Exegesen eine Einleitung in das Matthäus-Evangelium vorangestellt.

2.1 Matthäusevangelium –einleitender Teil

(1)Verfasser

Als Verfasser des Matthäusevangeliums ist wahrscheinlich nicht der Apostel Matthäus anzunehmen, wie die Bezeichnung dieser Schrift nahelegt. Die starke Bezugnahme des Matthäusevangeliums auf das Markusevangelium, also die Orientierung eines Augenzeugen an einer Schrift eines Nicht-Augenzeugen, wäre kaum erklärbar. Der Verfasser des Matthäusevangeliums nimmt den Augenzeugen Matthäus wahrscheinlich wegen dessen herausragenden Stellung in der Ursprungsgemeinde des Evangeliums in Anspruch. Laut Schnelle ist der Verfasser ein Vertreter eines „liberalen hellenistischen Diaspora-Judenchristentums.“[60] Hinweise auf einen heidenchristlichen Verfasser widerlegt besonders ausführlich Ulrich Luz[61] in seinem Matthäus-Kommentar. Es ist anzunehmen, dass der Urheber als Lehrer in seiner Gemeinde tätig und gebildet, wenn auch nicht rabbinisch geschult, ist.[62]

Zeit und Ort der Abfassung

Der genaue Ort der Abfassung des Matthäusevangeliums ist umstritten. Laut Schnelle[63] kann aber Syrien als Entstehungsort und die Zeit um 90 n. Chr. als Abfassungszeit angenommen werden.

(3) Adressaten

Die matthäische Gemeinde wird wesentlich von dem Bruch mit Israel bestimmt.[64] Die Distanz zu nicht christusgläubigen Schriftgelehrten und Pharisäern und ihrem Tun wird beispielsweise in Mt 6,1-18; 23,1-36 sehr deutlich. Ob die Heidenmission in der matthäischen Gemeinde Usus war, ist umstritten: Schnelle meint, durch den so genannten Missionsbefehl (Mt 28,18-20), dem eine zentrale Stellung im Matthäusevangelium zukommt, würde deutlich, dass die Heidenmission schon Teil der gemeindlichen Aktivitäten war. Doch verweist er auf Luz, der die Spannung zwischen Mt 10,5f und Mt 28,19f hervorhebt. Luz vermutet die Gemeinde auf dem Weg zur Öffnung für die Heidenmission und ist der Ansicht, Matthäus beziehe mit seinem Evangelium gezielt Stellung für diese neue Richtung der Gemeinde.

Petrus scheint in der matthäischen Gemeinde eine besondere Stellung zuzukommen, worauf das Felsenwort in Mt 16,17-19 hindeutet und die ihm zugeschriebene Vollmacht zum Binden und Lösen. Indem diese Vollmacht anschließend (Mt 18,18) ebenso der Gemeinde zugeschrieben wird, wird Petrus zum Vorbild und Beispiel für einen Nachfolger Christi.

(4) Matthäus als Synoptiker

Wie schon erwähnt, rezipiert das Matthäusevangelium stark das Markusevangelium als Quelle. Daneben lag vor allem die Logienquelle Q vor, aus der einige Redekomplexe wie beispielsweise zumindest Teile der Bergpredigt stammen. Mithilfe von Q wird die vorliegende Schrift durch eine ethische Dimension ergänzt. Denn nach Mt sind das Gesetz und die Propheten nicht aufgehoben, sondern werden durch das Handeln Jesu und seiner Nachfolger erfüllt. Schnelle[65] erläutert, dass mit Erfüllung die Vollmacht Jesu über die Interpretation der Tora gemeint ist.

Mt will die Menschen an ihre ethische Verantwortung im Angesicht des kommenden Gottesreiches erinnern.[66] Daneben existiert Sondergut des Mt. Luz nimmt an, dass Mt Texte „aus mündlicher Tradition übernommen und erstmals schriftlich formuliert“[67] hat. Lediglich einige Sondergutgleichnisse nimmt er von dieser Theorie aus und vermutet, dass ihm diese sowie Teile der Bergpredigt bereits schriftlich vorlagen.

(5) Komposition des Evangeliums

Das Matthäusevangelium ist keine Sammlung von Perikopen, sondern eine zusammenhängende Erzählung.[68] Der Evangelist „stellt formal oder inhaltlich ähnliche Stoffe zusammen“[69], wie bspw. an der Gleichnissammlung, der Wundergeschichtensammlung oder der Pharisäerrede erkennbar wird.

Weiterhin gebraucht er Schlüsselworte, Dubletten, Inklusionen, Signale und einige andere literarische Mittel, die Ulrich Luz[70] als Hinweis darauf deutet, dass „Mt sich wünscht, dass sein Buch immer wieder und ganz gelesen und meditiert wird.“[71] Über die Gliederung des Evangeliums bestehen diverse Theorien[72], wie bspw. die der fünf Bücher, die den fünf großen Redekomplexen entsprechen. Diese stellt sich wie folgt dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Andere[73] verweisen auf einen chiastischen Aufbau des Evangeliums um ein Zentrum herum, als welches häufig die Rede in Kapitel 13 angenommen wird. Nach dieser Theorie entsprechen sich jeweils die folgenden Kapitel 1-4 mit 26-28, Kapitel 5-7 entsprechen 23-25 usw.

Ich schließe mich Luz‘[74] Erkenntnissen an, nach welchen er im Aufbau eine starke Anlehnung des Mt an das Markusevangelium sieht und demnach eine theologische Grundentscheidung des Mt annimmt. Diese Grundentscheidung ist die Basis dafür, dass Mt das „Markusevangelium zur Grundlage [seiner Schrift] macht, von der aus Jesu Verkündigung überhaupt erst richtig aufleuchten kann.“

(6) Gliederung des Evangeliums

In meiner Gliederung des Matthäusevangeliums lehne ich mich an Schnelles[75] Gliederung an und verändere nur im Detail. Danach ergibt sich folgende Gliederung:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.2 Die Salz- und Lichtworte in Mt 5,13-16

Die so genannten Salz- und Lichtworte in Mt 5,13-16 stehen in einem größeren Zusammenhang, da sie Teil der Bergpredigt sind. Da diese eine in sich geschlossene Sinneinheit darstellt, sollen im Folgenden Quellen, Struktur, Setting sowie Inhalt und Ziel dieser Rede in Grundzügen erläutert werden. Darauf erfolgt die Einzelexegese mit anschließender Zusammenfassung. Im Anschluss daran stehen hermeneutische Überlegungen in Form von Formulierungen biblischer Aussagen zu diakonischem Handeln.

2.2.1 Kontextanalyse – die Bergpredigt

(1) Quellen

Die Bergpredigt wurde zwar von Mt in dieser Form zusammengestellt, doch greift er auf Material zurück, welches auch Lukas in seiner Feldrede nutzt. So entsprechen sich diese Reden in ihrem Aufbau. Die Texte stammen aus der Logien-oder Spruchquelle genannten Quelle Q bzw. QMt und QLk. Laut Luz ist es aber „gerade im Bereich der Feldrede oft nicht möglich [...], einen bis ins einzelne identischen Q-Text aus Matthäus und Lukas zu rekonstruieren.“[76] Die Bergpredigt beinhaltet gegenüber der lukanischen Feldrede zusätzliches Material, wie bspw. die Antithesen in Mt 5,21-6,18, welche der Evangelist in diese Rede einfügt. Diese stammen aus Sondergut oder weiteren Teilen der Logienquelle Q.[77] Die Verse 13­16 des 5. Kapitels des Matthäusevangeliums stammen aus Q.

(2) Struktur

In der Übernahme weiter Teile von Markus platziert Matthäus die Bergpredigt zwischen Mk 1,21 und 1,22.[78] In Mk 1,21 ist die erste Lehrtätigkeit Jesu erwähnt. Der Beginn der Bergpredigt ist durch die einleitenden Worte Jesu in Mt 5,1f markiert: „Als er aber die Volksmengen sah, stieg er auf den Berg; und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach.“ Daran anschließend fügt Matthäus die Bergpredigt ein und orientiert sich zum Schluss dieser Rede wieder an der bei Markus direkt im Anschluss beschriebenen Reaktion der Menschen an Jesu Lehre. Mit den abschließenden Worten in Mt 7,28f übernimmt Matthäus das markinische Staunen der Zuhörer in Mk 1,22: Die Menschen gerieten außer sich, „denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die [ihre][79] Schriftgelehrten.“ (Mk 1,22) Im Zentrum der Bergpredigt steht das Vaterunser, von dem aus diese Rede konzentrisch aufgebaut ist. „Die Abschnitte vor und nach dem Unservater [sic!] entsprechen sich“[80] jeweils: Der äußerste Rahmen besteht wie schon dargestellt aus einer Beschreibung der Situation der Hörer sowie ihrer Reaktion (Mt 5,1f; 7,28-8,1a). Einen zweiten Ring stellen Ein- bzw. Ausleitung dar, welche beide Einlassbedingungen für das Reich der Himmel formulieren (Mt 5,3-16; 7,13-27). Mit dem Vorspruch bzw. Abschluss des Hauptteils (Mt 5,17-20; 7,12) schließt sich ein weiterer Ring um das Zentrum. Anschließend wird der Hauptteil mit den so genannten Antithesen einerseits und den Themen Besitz, Richten und Bitten andererseits (Mt 5,21-48; 6,19-7,11) formuliert, worauf sich die Bergpredigt rund um den Höhepunkt mit dem Thema Gerechtigkeit (Mt 6,1-6; 6,16-18) hin zum zentralen Gebet des Vaterunsers (Mt 6,7-15) zuspitzt.

(3) Setting

Matthäus wählt als Setting für die Jesusrede, die Lukas an einem ebenen Feld lokalisiert, einen Berg, auf dem Jesus mit seinen Jüngern sitzt und diese ebenso wie die Volksmenge lehrt. Dass Matthäus diese Rede auf einen Berg versetzt, ist keineswegs bedeutungslos, schließt er damit doch typologisch an eine Erzähltradition des Judentums an, in der ein Berg immer wieder mit Theophanien verbunden war: Die Begegnung Moses mit Gott nach dem Exodus in Ex 19, 1ff., wie auch Berufung und Auftrag Moses geschahen auf dem Berg Horeb, wo er ebenfalls den Dekalog (Ex 20,2ff. Deut 5,6ff) empfing. Auch der Prophet Elia erfuhr Gott auf diesem Berg in einem „leisen Wehen“ (1.Kö 19,8). Das Zweite Testament knüpft an diese Tradition mit der Berufung der zwölf Apostel (Mk 3,13) auf einen Berg wie auch mit dieser Komposition der großen Jesusrede an.

Bei Matthäus findet sich dieses typologische Setting auf einem Berg als Ort der Begegnung mit dem einen Gott an verschiedenen Stellen: Ein Berg ist nicht nur Ort der Lehre Jesu,[81] sondern ferner der Begegnung Jesu mit seinem Vater, der Heilungen und der Visionen (Mt 14,23;15,29;17,1;28,16). Das Setting auf einem Berg soll darauf hinweisen, dass Gott nun, durch Jesus, zu seinem Volk sprechen wird, wie damals am Berg Horeb.

Zu betonen ist, dass hier keinesfalls Jesus und Mose einander antithetisch gegenübergestellt werden sollen oder der Evangelist Jesu Lehren als eine Außerkraftsetzung der Tora darstellen würde. Diese Annahme würde lediglich eine Anknüpfung an eine lange Geschichte des christlichen Antisemitismus darstellen. Dahingegen ist mit dieser Anknüpfung an frühere Theophanien die Betonung der Rolle Christi verbunden, der wie vorher schon Mose nun Gottes Botschaft an seine Nachfolger verkündet.

[...]


[1] Casting Crowns (2003).

[2] Im Folgenden verwende ich diese umstrittene Schreibweise im Bemühen um eine inklusive und gerechte Sprache im Sinne der gleichzeitigen Verwendung von weiblicher und männlicher Form. In meinen Bemühungen um einen flüssigen Text verwende ich desweiteren ausschließlich die in der Badischen Landeskirche übliche Berufsbezeichnung GemeindediakonIn und verzichte auf die Erwähnung der in anderen Gliedkirchen der EKD verwendete Bezeichnungen für diesen Berufstand. Berufsangehörigen mit anderslautenden Bezeichnungen sind aber selbstverständlich ebenso gemeint bzw. angesprochen.

[3] Vgl. Anlage 1

[4] Vgl. Merz (2007).

[5] GO der EKD (2003).

[6] Vorspruch, GO der Evangelischen Landeskirche in Baden (2006).

[7] Philippi (1981), 621.

[8] A.a.O., 621.

[9] Vgl. Luz (2005), 17. Sowie: Vgl. Rienecker (2004), 346.

[10] Benedict (2003), 127.

[11] Hentschel (2007), 85.

[12] Beyer (1935).

[13] A.a.O., 81.

[14] Ebd.

[15] Alle Bibelzitate aus der revidierten Elberfelder Übersetzung (1999).

[16] Vgl. Beyer (1935), 83.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19] Beyer (1935), 83.

[20] Vgl. Brandt (1931).

[21] RGG (1958).

[22] Vgl. Kassühlke (1997), 44.

[23] Bauer (1988), 368.

[24] A.a.O., 369.

[25] Vgl. Kapitel 3.2 DiakonInnen in der biblischen Briefliteratur.

[26] Vgl. Wikipedia, Diakonie (2007).

[27] Coenen (1997), 941.

[28] Horstmann (2007), 24.

[29] Lexikon zur Bibel (2004), 346.

[30] Horstmann (2007), 24.

[31] Ebd.

[32] Vgl. Brandt (2004), 2.

[33] Benedict (2003).

[34] Hentschel (2007).

[35] Vgl. Collins (1990).

[36] Brandt (2004), 1.

[37] Beyer (1935).

[38] Brandt (1931).

[39] Hentschel (2007), 22.

[40] Collins (1990), 254.

[41] Vgl. a.a.O., 335.

[42] Vgl. Hentschel (2007), 22.

[43] Brandt (2004), 2.

[44] Collins (1990), 90ff., 194.

[45] Brandt (2004), 4.

[46] Benedict (2003), 129.

[47] Ebd.

[48] Benedict (2003), 129.

[49] Theißen (1999), 35.

[50] A.a.O., 36.

[51] Hentschel (2007), 86.

[52] Kapitel 3.2 DiakonInnen in der biblischen Briefliteratur.

[53] Benedict (2003), 130.

[54] Leutzsch (2007), 2345.

[55] Vgl. Brandt (2004), 5.

[56] Benedict (2003), 131.

[57] Hentschel (2007), 88

[58] Vgl.: Kapitel 2.2.2: Exkurs: Gute Werke.

[59] Vgl. ebd.

[60] Schnelle (2005), 265.

[61] Vgl. Luz (1985), 62-65.

[62] Vgl. Schnelle (2005), 263-264

[63] Vgl. a.a.O., 265f.

[64] A.a.O., 266.

[65] Schnelle (2005), 266.

[66] A.a.O., 276f.

[67] Luz (1985), 31.

[68] Vgl. a.a.O., 19.

[69] Luz (1985), 19.

[70] Vgl. a.a.O., 19ff.

[71] A.a.O., 22.

[72] Vgl. a.a.O., 15-28.

[73] Vgl. Luz (1985), 15-28.

[74] A.a.O., 26.

[75] Vgl. Schnelle (2005), 269.

[76] Luz (1985), 187.

[77] Vgl. Luz (1985), 187. Sowie Luck (1993), 48.

[78] Vgl. Schnelle (2005), 270.

[79] Vgl. kleine Abweichung in Mt 7,29.

[80] Luz (1985), 185.

[81] Neben der Bergpredigt vgl. auch Mt 24,3

Ende der Leseprobe aus 125 Seiten

Details

Titel
Wozu brauchen wir Gemeindediakone/innen?
Untertitel
Biblisch-theologische Begründung eines Berufsstandes
Hochschule
Evangelische Fachhochschule Freiburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
125
Katalognummer
V140396
ISBN (eBook)
9783640485857
ISBN (Buch)
9783640485543
Dateigröße
996 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
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Arbeit zitieren
Nathalie Abel-Klaiber (Autor:in), 2008, Wozu brauchen wir Gemeindediakone/innen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140396

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