Grammatik und Lyrikverstehen

Zur Integration des Grammatik- und Lyrikunterrichts am Beispiel der Wortbildung in moderner Poesie


Seminararbeit, 2009

37 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Idee des integrativen Deutschunterrichts

3. Integrativer Grammatikunterricht /Grammatik und Textverstehen

4. Grammatik und Lyrikunterricht

5. Zur Wortbildung im Deutschen
5.1 ‚Was ist Wortbildung?’
5.2 Wortbildungseinheiten
5.3 Wortbildungsverfahren
5.4 Wortbildungsbedeutung
5.5 Wortbildung und Textlinguistik

6. Wortbildung in der Lyrik – Beispiele
6.1 Martin Auer – Tischrede
6.2 Peter Handke – Der Rand der Wörter
6.3 Erich Fried – Fall ins Wort
6.4 Franz Mon – Geschnürter Wind

7. Integrativer Unterrichtsentwurf „Wortbildung und moderne Poesie“ für eine 10. Klasse
7.1 Lernziele
7.2 Sequenzplanung
7.3 Methodische Vorschläge und Erläuterungen

8. Fazit

Literaturverzeichnis:

Anhang – Die Gedichte.

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einer besonderen Form des integrativen Deutschunterrichts – dem integrativen Grammatikunterricht. Diese Begrifflichkeiten werden zunächst kurz erläutert.

Die Verknüpfung der verschiedenen Lernbereiche des Deutschunterrichts im Sinne eines integrativen Deutschunterrichts verlangt, dass auch der Bereich ‚Reflexion über Sprache’ und damit der Grammatikunterricht mit den Feldern ‚Sprechen und Zuhören’, ‚Schreiben’ und ‚Lesen – Umgang mit Texten und Medien’ in gegenseitig erhellender Weise unterrichtet wird. In dieser Arbeit soll die Integration der Lernbereiche ‚Reflexion über Sprache’ und ‚Umgang mit Texten’ im Vordergrund stehen. Die Fragen, inwiefern grammatikalische Kompetenz das Textverständnis unterstützen kann und wie dieser Verstehensprozess im Unterricht angeleitet werden kann, sind dabei von besonderem Interesse. Hierzu sollen vornehmlich die Theorien von Einecke und Abraham genauer beleuchtet werden.

Grammatik und Textverstehen – dieser Zusammenhang soll in dieser Arbeit an der lyrischen Textgattung nachvollzogen werden. Warum eignen sich lyrische Texte besonders gut für die wechselseitige Erarbeitung von Textinterpretation und grammatikalischen Phänomenen? Dieser Frage soll in Kapitel vier nachgegangen werden.

Als grammatikalisches Phänomen, um die Integration von Grammatik und Textverständnis an einem Beispiel deutlich zu machen, fiel die Wahl auf das Feld der Wortbildung. Die Wortbildungslehre des Deutschen ist ein sehr komplexes Thema und kann nur in ihren Grundzügen und unterrichtsrelevanten Merkmalen dargestellt werden, das heißt, es werden unter anderem die zentralen Wortbildungseinheiten sowie Wortbildungsverfahren berücksichtigt.

Im Anschluss an die Ausführungen zur Wortbildung des Deutschen folgt eine Reihe von Gedichtbeispielen der modernen Poesie, die im Hinblick auf ihren speziellen Umgang mit der Wortbildung hin ausgewählt wurden. Hinsichtlich einer exemplarischen Unterrichtsplanung wurden vier Gedichte ausgesucht, die einer gemeinsamen ‚Epoche’ zugeordnet werden können, um eine deutliche Kohärenz in der Unterrichtssequenz herzustellen. Die Gedichte Tischrede von Martin Auer, Der Rand der Wörter von Peter Handke, Fall ins Wort von Erich Fried und Geschnürter Wind von Franz Mon werden vorgestellt und auf ihren spezifischen Wortbildungscharakter hin analysiert.

Anschließend wird versucht, einen integrativen Unterrichtsentwurf mit dem Titel „Wortbildung und moderne Poesie“ für eine fiktive 10. Klasse zu umreißen, wobei besonders die Lernziele und die methodische Ausgestaltung von Interesse sind.

Insgesamt gilt es dabei aufzuzeigen, dass die Rezeption der Gedichttexte zur grammatikalischen Reflexion über Wortbildungsphänomene anregen kann, ebenso wie die gewonnenen Kenntnisse über die Wortbildung zur Interpretation der Gedichte dienen können.

2. Die Idee des integrativen Deutschunterrichts

„Unterrichtende im Fach Deutsch sind dazu angehalten, integrativ zu denken, wenn sie Unterricht planen“.[1] Abraham und Kepser zählen diese Prämisse des lernbereichsintegrativen Deutschunterrichts berechtigter Weise zu den derzeit aktuellen Konzepten der Deutschdidaktik, neben beispielsweise dem fächerübergreifenden Unterricht.

Der Begriff integrativer Deutschunterricht kann auf den ersten Blick verschiedenste Integrationskonzepte meinen – die Verbindung von induktiven und deduktiven Verfahren oder das Anknüpfen an andere Unterrichtsfächer zum Beispiel. In diesem Kontext ist jedoch die oben bereits als lernbereichs integrativ gekennzeichnete Form des integrativen Deutschunterrichts gemeint, von der auch im aktuellen Kernlehrplan für die Sekundarstufe I geschrieben wird, „er [der Deutschunterricht] soll in komplexen Kontexten [...] die Bereiche des Faches integrieren“.[2] Die Aufgabe dieses Unterrichts ist es, die Lernbereiche ‚Reflexion über Sprache’, ‚Sprechen und Zuhören’, ‚Schreiben’ und ‚Lesen – Umgang mit Texten und Medien’ in einander gegenseitig erhellender Weise miteinander zu verknüpfen. Das kann bedeuten, dass ein literarischer Text als Schreibanlass genommen wird, etwa indem man die Schülerinnen und Schüler einen Brief an den Autor verfassen lässt, oder dass beispielsweise ein Sachtext als Grundlage einer Diskussion im Unterricht genutzt wird. In beiden exemplarischen Fällen wird der Gegenstand, hier der Text, nicht singulär behandelt. „Der Gegenstand fordert zwar einen spezifischen Lernbereich für sich“[3], geht darin aber lange nicht auf. Im Übrigen impliziert bereits die Benennung des Lernbereichs ‚Umgang mit Texten und Medien’, dass eine Integration nahezu unumgänglich ist – zum ‚Umgang’ mit einem Text gehört es eben auch, mit, von und über den Text zu sprechen und zu schreiben. Nicht weniger wichtig ist allerdings im integrativen Konzept auch die Verknüpfung der Sprachreflexion mit den übrigen Lernbereichen. Dieses oftmals als integrativer Grammatikunterricht bezeichnete Vorhaben wird – als Grundlage dieser Arbeit – im folgenden Kapitel näher erläutert.

3. Integrativer Grammatikunterricht /Grammatik und Textverstehen

„Der Deutschunterricht stellt das methodische Instrumentarium, die erforderlichen Kenntnisse, Strategien und Arbeitstechniken zur Verfügung, um Texte zu analysieren und Literatur zu verstehen.“[4] Mit diesen Worten liefert der Kernlehrplan Deutsch für die Sekundarstufe I zum einen die Legitimation für den Grammatikunterricht an sich, da grammatikalische Kenntnisse eindeutig als nötige Kenntnisse für eine Textinterpretation verstanden werden sollten. Zum anderen steckt in dieser Aussage des Ministeriums auch der Aufruf dazu, eine Integration von Grammatikunterricht und Literaturunterricht vorzunehmen. Der bewusste Umgang mit Sprache, das heißt ihre Regeln, Strukturen und Besonderheiten – sprich ihre Grammatik – zu kennen und verstehen, bietet den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, Texte genauer wahrnehmen und interpretieren zu können.[5]

Aus den Aufgaben und Zielen des Deutschunterrichts laut Kernlehrplan ergibt sich eine Intention, die mehr schlecht als recht mit der Realität des ‚traditionellen’ deutschen Grammatikunterrichts zusammenpasst(e). Bredel bemerkt treffend, dass mit der Bezeichnung ‚traditioneller Grammatikunterricht’ ein Programm beschrieben wird, dessen Name überhaupt erst aus der Kritik an ihm hervorgegangen ist. Der ‚traditionelle Grammatikunterricht’ meint weitläufig „die deduktive Vermittlung eines terminologischen Apparats zur Beschreibung formaler sprachlicher Eigenschaften“[6] im Deutschunterricht. Das funktionale Erleben von Grammatik bleibt dabei eher außen vor. Sprache und Äußerungen dienen als reines Beispielmaterial, dessen Inhalt zweitrangig ist. Diese normative Orientierung des ‚traditionellen Grammatikunterrichts’ hat, wie bereits erwähnt, vermehrt Kritik auf sich gezogen. Bereits seit den 1970er Jahren wurden daher von verschiedenen Seiten neue Konzepte eines sinnvollen und funktional orientierten Grammatikunterrichts entwickelt.[7]

Als eines der bedeutendsten Konzepte sei auf das Programm des ‚situationsorientierten Grammatikunterrichts’ nach Boettcher und Sitta verwiesen. In diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass Sprache immer in einem konkreten kommunikativen Kontext steht. Daher solle auch das grammatikalische Phänomen nicht isoliert, sondern in Hinblick auf seine situative Funktion betrachtet und verstanden werden. Boettcher und Sitta sprechen des Weiteren davon, dass der Grammatikunterricht dann keinen eigenen autonomen Gegenstandsbereich mehr habe, sondern dass die grammatikalischen Gegenstände erst im Kontext sprachlicher Verwendung relevant seien.[8]

Mit diesem Axiom verweist der situative Grammatikunterricht im Prinzip schon auf den heutigen Leitgedanken des integrativen Grammatikunterrichts. Grammatik soll als Sprache in Funktion erlebt werden und diese Funktion und damit die konkreten sprachlichen Anwendungskontexte sollten so authentisch wie möglich sein.

Die Umgestaltung der alten Lehrpläne zu den aktuellen Kernlehrplänen hat mit dem Paradigmenwechsel von der Inputorientierung zur Outputorientierung gänzlich neue Möglichkeiten geschaffen, den Weg vom ‚traditionellen’ Grammatikunterricht hin zum integrativen und funktionalen Grammatikunterricht zu beschreiten. Die Lehrpläne geben den Lehrern nun nicht mehr haarklein vor, welche grammatikalischen Inhalte vermittelt werden müssen, sondern formulieren stattdessen Lernziele und Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht haben sollten. Das bedeutet für die Unterrichtspraxis, dass sowohl die kommunikativen Anwendungskontexte – Literatur, Sachtexte, Unterrichtsgespräche usw. – als auch das methodische Vorgehen von der Lehrperson relativ frei wählbar sind. Natürlich gilt es aber vor jeder Unterrichtseinheit einige Überlegungen dazu anzustellen, welche Ziele tatsächlich mit der Integration von Grammatik und Textarbeit verfolgt werden sollen und welche Texte dafür besonders geeignet sind.

Da sich die vorliegende Arbeit insbesondere mit der Integration von Grammatik- und Lyrikunterricht beschäftigt, wird sich im Folgenden auf das Verhältnis und die Integration von literarischen Texten und Grammatik beschränkt und die Möglichkeiten der mündlichen und alltäglichen Kommunikation werden ausgeklammert.

Das Verhältnis von Literatur und Grammatik beschreibt Abraham bildlich als das einer Skulptur und ihres Materials.[9] Das Material – die Formen, Bausteine und Regeln der Grammatik – ermöglicht es, neben der pragmatischen Textproduktion auch ein Kunstprodukt zu erschaffen – den literarischen Text. Die Literatur spielt mit den Möglichkeiten, die ihr die Grammatik bietet. Regeln und Normen werden überformt, verzehrt und teilweise auch gebrochen. Das Verlockende daran, dass die Literatur sich die Sprache und ihre Grammatik als Material zu eigen macht, ist, dass die Sprache dadurch vom Medium zum Gegenstand der Reflexion und Analyse wird. Das bedeutet, dass Sprache im alltäglichen Gebrauch und auch in pragmatischen Texten vorrangig Mittel der Verständigung ist und somit die Aufmerksamkeit auf der Inhaltsseite der sprachlichen Äußerung liegt. In der Literatur hingegen ist die Sprache so weit vom Alltäglichen entfremdet, dass ein Aufmerksamkeitswechsel stattfinden kann: von der Seite des Bezeichneten auf die Seite des Zeichens. Abraham zitiert hierzu die treffende Metapher Knoblochs, „Die Sprache ist im Sprechen transparent, sie ist ein Fenster zum jeweils gemeinten [...] Nur wenn das Fenster trübe, fleckig oder zerbrochen ist, fassen wir es selbst ins Auge, anstatt hindurchzusehen.“.[10]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dieser Idee folgend könnte man allerdings zu der Vermutung kommen, dass die Literatur im integrativen Konzept einzig ein gelungenes Demonstrationsobjekt grammatikalischer Phänomene und Spielräume sei. Diese einseitige Instrumentalisierung der Literatur entspricht aber in keinem Fall den Anforderungen eines integrativen Deutschunterrichts. Das eigentliche Ziel dieses Unterrichtskonzeptes zeigt die untenstehende Graphik.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Verhältnis von Literatur und Grammatik im Unterricht. Nach Abraham/Kepser 2006, S. 120.

Vielmehr sollte also die Literatur instrumentell werden für die Grammatik – in gleichem Maße wie die Grammatik für die Literatur instrumentell werden sollte. Auf diese Art und Weise können literarischer Text und grammatikalisches Phänomen einander gegenseitig erhellen. Wichtig ist jedoch, dass man sich zu jeder Zeit darüber klar ist, welches Ziel man gerade verfolgt. Lenkt man den Blick gerade auf die grammatische Form in ihrer Funktion oder versucht man den Text zu interpretieren? Es empfiehlt sich ein ausgewogener Blickwechsel, ein Hin- und Herwechseln zwischen formaler und funktionaler Betrachtung.

Es gibt zahlreiche literarische Texte, die solch einen Blickwechsel geradezu herausfordern und deren Verständnis durch die grammatikalische Perspektive gefördert wird. Einecke geht sogar davon aus, dass die Integration von Textarbeit und Grammatikarbeit nahezu immer und bei jedem Text geschehen kann. Er betont jedoch zu Recht, dass man einen literarischen Text auch von Zeit zu Zeit – und das nicht nur sporadisch – rein literarisch betrachten sollte, um seinem Wert Genüge zu leisten.[11] Abraham warnt in diesem Sinne davor, „das literarische Material so zu behandeln, als handle es sich um eine Sammlung grammatischer Exempla“.[12] Grammatikunterricht und Literaturunterricht sind zu kombinieren, wenn sich dies als funktional erweist, könnte man Eineckes Maxime zusammenfassen.[13]

Es gilt also eine didaktische Auswahl von Texten zu treffen, in denen ein grammatikalisches Phänomen nach Einecke entweder „natürlich, stark repräsentiert und funktional vorkommt [oder] auffällig verwendet wird und somit stark markiert ist“.[14] Mit Abraham lässt sich dieser Bedingungskatalog noch um zwei weitere Punkte ergänzen. Der Text sollte erstens nicht nur Sprachnormen übertreten, sondern auch einen Rahmen ‚normgerechter’ Sprache enthalten, um die Normverletzungen sichtbar zu machen. Zweitens sollte die Arbeit an einem ausgegliederten grammatikalischen Phänomen möglich sein und sich geradezu aufdrängen.[15]

Methodisch vollzieht sich nach Einecke die Integration von Literatur und Grammatik in einem repetierenden Dreischritt auf einem induktiven Lernweg. Am Anfang steht meist der Blick auf die Inhaltsebene des literarischen Textes – der Schritt, der den Schülerinnen und Schülern in der Regel am leichtesten fallen wird. Dann soll die sprachliche oder formale Ebene angesteuert werden. Diesen zentralen Prozess bezeichnet Einecke als Fokussierung – den Blickwechsel auf die Ebene der sprachlichen Gestaltung in Funktion für das Textverständnis. Gelingt die Fokussierung, so können dann die grammatikalischen Phänomene, aber natürlich auch die rhetorischen Mittel und andere sprachliche Auffälligkeiten, in den Blick genommen werden. Unabhängig davon, wie oft der Blickwechsel vollzogen wird oder von welcher Perspektive aus begonnen wurde, ist es unabdingbar, dass die Fokussierung – egal auf welchen Fokus – den Schülerinnen und Schülern immer transparent gemacht wird, damit sie wissen, auf welcher Betrachtungsebene sie sich befinden.[16]

Durch welche Arbeits- und Sozialformen diese Art des Blickwechsels angeleitet werden kann soll im exemplarischen Unterrichtsentwurf näher betrachtet werden.

4. Grammatik und Lyrikunterricht

Wie im vorherigen Kapitel erläutert, bieten literarische Texte allgemein die Chance, Sprache in Funktion zu erleben und sie stärker als Gegenstand von Reflexion und Analyse wahrzunehmen denn als reines Kommunikationsmittel.

Eine Hypothese, die dieser Arbeit zu Grunde liegt, geht davon aus, dass lyrische Texte sich besonders gut für diese Form der integrativen Sprachreflexion eignen. Um diese Behauptung zu bekräftigen, geht Gerlind Belke zurück bis ins 19. Jahrhundert zu Charles Baudelaire. „Die Grammatik, die trockene Grammatik wird selbst zu einem geisterbeschwörenden Zauber“[17], schrieb Baudelaire und wollte damit die Nähe von Poesie und Grammatik oder deren fruchtbares Zusammenspiel zum Ausdruck bringen. Weniger bildreich könnte man formulieren, die grammatische Form wird in der Poesie zur Figur – zum Träger einer ganz spezifischen Bedeutung. Oder: Literatur ist Sprache in Funktion – Lyrik ist Sprache in prägnantester Funktion. Kein Wort, keine grammatische Form wird hier unbedacht verwendet. In keiner anderen literarischen Gattung weicht die Sprachverwendung stärker von der Alltagssprache ab als in der Lyrik.

Die Merkmale lyrischen Sprachgebrauchs, das heißt die Prägnanz, die Mehrdeutigkeit, das Sprachspiel – all jene machen die Poesie zu einer wahren Fundgrube für sprachreflektorische Anlässe.

Natürlich spielen auch recht pragmatische Merkmale wie die Kürze vieler lyrischer Texte, ihre Attraktivität und ihr einprägsamer Charakter eine Rolle für die Eignung zur Integration grammatikalischer Reflexion.[18]

Auch der verstärkt normentranszendierende Charakter von Lyrik macht sie besonders attraktiv für die Erarbeitung und Reflexion grammatikalischer Regeln.[19] Denn das Überschreiten der Regeln, das befremdlich auf den Leser wirkt, macht ihn überhaupt erst aufmerksam auf eine Regel, die er – zumindest als Muttersprachler – einverleibt hat und daher kaum jemals reflektiert haben wird.

Spinner nennt einige Beispiele dafür wie Lyrik zur Reflexion über Sprache anregen kann. Die Analyse der Lautgestalt kann beispielsweise dazu führen, dass Elemente der Phonetik bearbeitet werden. Auf syntaktischer Ebene kann vor allem die oftmals von der Norm abweichende Wortstellung im Gedicht Anlass zum Erkunden der syntaktischen Möglichkeiten des Deutschen geben.[20] Von besonderem Interesse für diese Arbeit ist jedoch die Überlegung Spinners, dass auf lexikalischer Ebene die oftmals in Gedichten vorkommenden Wortneubildungen „den Blick auf die grammatikalischen Möglichkeiten und Gesetzmäßigkeiten der Wortzusammensetzung und der Ableitung“[21] des Deutschen lenken können.

Von dieser Erkenntnis ausgehend soll im Folgenden ein Überblick über die Möglichkeiten der Wortbildung im Deutschen gegeben werden, bevor anhand von Gedichtbeispielen eben dieser Zusammenhang von lyrischer Wortschöpfung und der Reflexion über das grammatikalische Phänomen der Wortbildung erprobt werden soll.

5. Zur Wortbildung im Deutschen

„Der Wortschatz einer Sprache ist nicht fest begrenzt und überschaubar.“[22] Vielmehr ist der Wortschatz flexibel, erweiterbar und unterliegt ständigen Veränderungsprozessen. Damit unterscheidet er sich beispielsweise vom Formeninventar einer Sprache, welches durch grammatikalische Regeln beschränkt ist. Diese hohe Flexibilität ist nicht zuletzt einer der Gründe für die interessante Symbiose von Wortbildung und Lyrik, auf die das Augenmerk dieser Arbeit gelegt wird. „Das heißt natürlich nicht, dass er [der Wortschatz] eine unbegrenzte, unstrukturierte Anhäufung von Wörtern darstellt.“[23] So lässt sich die Vielzahl der Wörter des Deutschen zum Beispiel durch verschiedene Wortklassen strukturieren oder durch ihr syntaktisches Verhalten näher beschreiben und differenzieren. Ungeachtet der auch für den Schulunterricht relevanten Frage nach der Offenheit oder Starrheit der Wortklassenzugehörigkeit sollen in dieser Arbeit allerdings die Prozesse der Wortbildung im Vordergrund stehen, die die permanente Erweiterung des deutschen Wortschatzes ermöglichen.

Die Wortbildung ist „eines der Mittel der Sprache, das Bedürfnis nach neuen Bedeutungen und Benennungen zu befriedigen“.[24] Ein Bedürfnis, dem ein starrer Wortschatz nicht Genüge leisten könnte. Denn Calanas Continente stellt zu Recht fest, dass die deutsche Sprache durch eine relative lexikalische Armut gekennzeichnet ist, diese ‚Schwäche’ allerdings durch eine enorme semantische Vielfalt auszugleichen weiß – hauptsächlich ermöglicht durch die verschiedensten wortbildenden Verfahren.[25]

Die Produkte dieser Wortbildungsprozesse können ungewöhnlich und auffällig sein – so wie es in der Lyrik häufig als Stilmittel verwendet wird – sie gehören allerdings auch zu einem nicht unerheblichen Anteil zum Grundwortschatz des Deutschen. Besonders deutlich wird dies in der Wortgruppe der Verben wie Calanas Continente beweist.[26] Es stellt sich also die Frage, was genau unter dem Begriff der Wortbildung überhaupt zu fassen ist.

5.1 ‚Was ist Wortbildung?’

Um den Begriff der Wortbildung zu definieren, bietet es sich an, eine Abgrenzung von anderen sprachbildenden Verfahren vorzunehmen. Denn wenn man davon ausgeht, dass Wortbildung ein „Verfahren zur Versprachlichung von Begriffen“[27] ist, dann kommt man nicht umher, festzustellen, dass es eine Vielzahl weitere Mechanismen der Versprachlichung gibt.

Zunächst ist die Wortbildung zu unterscheiden von der Phrasembildung – ein sprachbildendes Verfahren, bei dem Begriffe durch feste Wortgruppen oder Wendungen realisiert werden, wie beispielsweise der ‚blinde Passagier’. Bei der Wortbildung hingegen steht am Ende ein einzelnes Wort als Produkt der Versprachlichung.

Des Weiteren sind die Wortbildungsmechanismen abzugrenzen von den Entlehnungen, bei denen Wörter einer Fremdsprache in den Wortschatz aufgenommen werden. Wortbildung im hier definierten Sinne verwendet hingegen nur innersprachliches Material, ansonsten wird von Lehnwortbildung gesprochen.[28]

Drittens unterscheidet sich die Wortbildung von der so genannten Urschöpfung. Bei der Urschöpfung wird ein neues Wort aus Lauten zusammengesetzt, die allein noch keine Bedeutung tragen. Mit Urschöpfung ist also einerseits der Prozess gemeint, der einer Sprache ihren Grundwortschatz beschert hat, andererseits aber auch ein Prozess, der in der alltäglichen Sprache stattfinden kann. So sind beispielsweise Onomatopoetika zur Urschöpfung zu zählen, da auch hier ‚sinnlose’ Laute miteinander verbunden werden – allein den Gesetzen der Lautnachempfindung folgend. Auch neu erdachte Produktbezeichnungen oder Namen unterliegen nicht den Prinzipien der Wortbildung, sondern sind Urschöpfungen. Sie richten sich grundsätzlich nur nach den bestehenden Lautmustern ihrer Sprache.[29]

Weiterhin gelten als Wortbildungsprodukte nur jene Wörter, die neu gebildet wurden – und nicht solche, die lediglich ihre Bedeutung verändern bei gleich bleibender Form. Solche Bedeutungsveränderungen oder semantische Transfers sind diachrone Phänomene. Das mittelhochdeutsche Wort ‚varn’ mit der Bedeutung ‚sich fortbewegen’ oder ‚gehen’ hat beispielsweise eine Verengung erlebt zum heutigen ‚fahren’, das die Fortbewegung mit einem Fortbewegungsmittel meint.[30]

Zusammenfassend kann man also definieren, dass zur Wortbildung solche Verfahren gehören, bei denen einzelne Wörter aus innersprachlichem sowie sinnhaltigem Material neu gebildet werden.

5.2 Wortbildungseinheiten

Die Wortbildung des Deutschen kann sich einer recht großen Menge von Bausteinen bedienen, zu denen erstens die Lexeme zählen, also eigenständige in Texten frei vorkommende Wörter. Diese Wörter können in ihrer Stammform, aber auch in flektierten Formen Bestandteile der Wortbildung werden. Im Wortbildungsprozess sind „Wörter [...] mit allen Einheiten, auch mit sich selbst kombinierbar“.[31] Einfach Wörter, die aus nur einem Bestandteil bestehen werden auch Simplizia genannt, in Abgrenzung zu den durch Wortbildungsverfahren entstandenen komplexen Wörtern. Auch komplexe Wörter, wie beispielsweise das Wort ‚Haustür’ können wiederum in die Wortbildung einbezogen und erweitert werden, zum Beispiel zum ‚Haustürschloss’. Gerade für Nicht-Muttersprachler des Deutschen ist die besonders hohe mögliche Komplexität deutscher Substantivkomposita sehr auffällig. Hierbei sind der Wortbildung nahezu keine Grenzen gesetzt.[32]

Ein weiterer Baustein der Wortbildung können Phrasen sein. Wurden im vorherigen Kapitel die Phraseme noch als aus mehreren Wörtern bestehend von der Wortbildung im eigentlichen Sinne abgegrenzt, so gibt es jedoch selten den Fall, dass Phrasen durch die Verwendung von Bindestrichen zu Wörtern verbunden werden, beispielsweise der „Ich-kann-sie-nicht-vergessen-Brief“.[33]

Des Weiteren können einzelne Buchstaben zum Bestandteil der Wortbildung werden, wenn sie mit Substantiven kombiniert werden. Bei Begriffen wie den ‚O-Beinen’ beispielsweise hat der Buchstabe eine ikonische Funktion – die Beine haben die Form eines ‚Os’. Das ‚T-Shirt’ ist im Übrigen ein Beispiel dafür, dass das Englische eine ähnliche Form der Wortbildung kennt. Außerdem kann der Buchstabe hierarchisierende Funktion haben, wie in ‚A-Jugend’ oder ‚B-Prominenz’.[34]

Einzelne Lexeme, Buchstaben und Phrasen kommen nicht nur als Bestandteile der Wortbildung, sondern auch eigenständig in der Sprache vor. Damit unterscheiden sie sich von den wortbildungsspezifischen Einheiten, zu denen die Konfixe, Wortbildungsaffixe, Fugenelemente und die unikalen Einheiten gehören.

[...]


[1] Abraham, Ulf; Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 2. Auflage. Berlin 2006. S. 112.

[2] Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für den verkürzten Bildungsgang des Gymnasiums – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen. Deutsch. Frechen 2007. S. 12.

[3] Abraham; Kepser: Literaturdidaktik Deutsch. 2006. S. 112.

[4] Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan Deutsch. 2007. S. 11.

[5] vgl. ebd. S. 11.

[6] Bredel, Ursula: Sprachbetrachtung und Grammatikunterricht. Paderborn 2007. S. 227.

[7] vgl. Bredel: Sprachbetrachtung und Grammatikunterricht. Paderborn 2007. S. 228.

[8] vgl. ebd. S. 229.

[9] Abraham, Ulf: Den Blickwechsel übel. Grammatikunterricht und Literaturunterricht. In: Mitteilungen des Germanistenverbandes 2001, H.1, S.35.

[10] ebd. S. 31.

[11] vgl. Einecke, Günther: Auf die sprachliche Ebene lenken. Gesprächssteuerung, Erkenntniswege und Übungen im integrierten Grammatikunterricht. In: Bremerich-Vos, A. (Hg.): Zur Praxis des Grammatikunterrichts. Freiburg im Breisgau 1999. S. 130.

[12] Abraham: Den Blickwechsel üben. 2001. S. 37.

[13] vgl. Eine>

[14] vgl. ebd. S. 176.

[15] vgl. Abraham: Den Blickwechsel üben. 2001. S. 40.

[16] vgl. Eine>

[17] Belke, Gerlind: Poesie und Grammatik. Kreativer Umgang mit Texten im Deutschunterricht mehrsprachiger Lerngruppen. Baltmannsweiler 2007. S. 9.

[18] vgl. Belke: Poesie und Grammatik. 2007. S. 10.

[19] vgl. Spinner, Kaspar: Umgang mit Lyrik in der Sekundarstufe I. 7. Aufl.. Baltmannsweiler 2008. S. 15.

[20] vgl. edb. S. 64.

[21] ebd. S. 64.

[22] Lewandowski, Theodor / Schriever, Wilhelm: Zur Wortbildung im Deutschen (mit einer Erweiterung “deutsche und türkische Wortbildung im Vergleich”). Berlin 1984. S. 1.

[23] Lewandowski / Schriever: Zur Wortbildung im Deutschen. 1984. S. 1.

[24] ebd. S. 1.

[25] vgl. Calanas Continente, Jose-Antonio: Wortbildung an der Schnittstelle von Syntax und Semantik: Rahmenbedingungen für eine lexikologisch-lexikographische Aufgabenstellung. In: Eichinger, Ludwig u.a. (Hg.): Wortbildung heute. Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache. (Studien zur Deutschen Sprache, Bd. 44). Tübingen 2008. S. 61.

[26] vgl. ebd. S. 62.

[27] Donalies, Elke: Basiswissen Deutsche Wortbildung. Tübingen 2007. S. 3.

[28] vgl. Donalies: Basiswissen Deutsche Wortbildung. 2007. S. 4.

[29] vgl. ebd. S. 4-5.

[30] vgl. ebd. S. 6.

[31] Donalies: Basiswissen Deutsche Wortbildung. 2007. S. 10.

[32] vgl. ebd. S. 10.

[33] ebd. S. 11.

[34] vgl. ebd. S. 11-12.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Grammatik und Lyrikverstehen
Untertitel
Zur Integration des Grammatik- und Lyrikunterrichts am Beispiel der Wortbildung in moderner Poesie
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Germanistisches Institut)
Veranstaltung
Grammatik und Textverstehen
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
37
Katalognummer
V139737
ISBN (eBook)
9783640472208
ISBN (Buch)
9783640472123
Dateigröße
555 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit beschäftigt sich mit einer besonderen Form des integrativen Deutschunterrichts–dem integrativen Grammatikunterricht.Die Verknüpfung der verschiedenen Lernbereiche des Deutschunterrichts im Sinne eines integrativen Deutschunterrichts verlangt, dass auch der Bereich ‚Reflexion über Sprache’ und damit der Grammatikunterricht mit den Feldern ‚Sprechen und Zuhören’, ‚Schreiben’ und ‚Lesen – Umgang mit Texten und Medien’ in gegenseitig erhellender Weise unterrichtet wird.Grammatik und Textverstehen – dieser Zusammenhang soll in der Arbeit an der lyrischen Textgattung nachvollzogen werden.
Schlagworte
Grammatik, Lyrikverstehen, Integration, Grammatik-, Lyrikunterrichts, Beispiel, Wortbildung, Poesie
Arbeit zitieren
Master of Education Jenny Camen (Autor:in), 2009, Grammatik und Lyrikverstehen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139737

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