Kollektive Verantwortung und Schuldzuweisung

Eine weiterführende Analyse von Karl Jaspers Schuldkonzeption unter besonderer Berücksichtigung der Verantwortung


Examensarbeit, 2005

25 Seiten, Note: 5.25


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Spezifikation von Verantwortung, Schuld und individuell vs. kollektiv

3. Skizze der Schuldkonzeption von Karl Jaspers

4. Kollektive Verantwortung und Jaspers Schuldkonzeption: Einwände und Erweiterungen

5. Zusammenfassung und abschliessende Bemerkungen

Abstract

Eine juristische, politische oder moralische Verantwortung ist eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für die entsprechende (juristische, politische oder moralische) Schuldzuweisung. Die einzelnen Individuen lassen sich nicht zum entsprechenden Kollektiv aufsummieren, sowie sich ein Kollektiv auch nicht linear auf die Individuen herunterbrechen lässt. Kollektive sind also autonome Subjekte, verantwortungsfähig und deshalb haftbar. Die kollektive Haftbarkeit beschränkt sich allerdings auf eine lediglich politisch-kollektive Schuldbarkeit.

1. Einleitung

In seiner einschlägigen Schrift „Die Schuldfrage“, die Karl Jaspers 1946 als Beitrag zur Diskussion über die Schuld der Deutschen im 2. Weltkrieg geschrieben hatte, schlägt er vor, unseren Schuldbegriff in vier verschiedene, aber inhaltlich verbundene Bereiche zu unterteilen. Überzeugt von der Richtigkeit und Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung werde ich in dieser Arbeit versuchen das Schuldkonzept von Jaspers gegen Einwände zu stärken und, aus seinem historischen Kontext gelöst betrachtet, einen allgemeinen Gültigkeitsbereich zu erschliessen. Hierbei erachte ich es für sinnvoll, zuerst die zentralen Begrifflichkeiten wie Verantwortung, Schuld, individuell und kollektiv zu reflektieren und zu definieren (Abs. 2). So werde ich im Folgenden erst den Begriff der Verantwortung genauer untersuchen und seine Verbindung zur Schuld erläutern, denn eine konditional vorgängige Verantwortung scheint mir notwendig, um eine Schuldhaftigkeit überhaupt anbringen zu können. Deshalb werde ich eine Unterteilung des Verantwortungsbegriffs vornehmen, analog jener von Jaspers Schuldbegriff. Das besonders komplexe Verhältnis von individuell und kollektiv ist schwierig zu klären, daher werde ich wesentliche Einschränkungen vornehmen und ein vereinfachtes Modell von Kollektiva der Theorie von Jaspers zugrunde legen. Damit soll gezeigt werden, dass eigenständige Kollektiva verantwortungsfähig sind und ihnen folglich eine entsprechende Kollektivschuld zugesprochen werden kann.

In Abschnitt 3 werde ich dann kurz Jaspers Schuldkonzeption nachzeichnen, um im Anschluss die Einwände gegen und Erweiterungen zu seiner Theorie genau platzieren zu können. Die Argument-Struktur des dritten Abschnitts entspricht derjenigen von Jaspers. Aus Gründen der Aktualität und durch den Versuch, die Metaphysik aus dem Spiel zu lassen, werde ich allerdings Jaspers Begriffsaufteilung auf eine Dreiteilung reduzieren: eine juristische, politische und moralische Verantwortung, resp. Schuld. Die metaphysische Schuld sowie die Mitschuld werde ich zum Bereich der moralischen Schuld rechnen, mit einem zugrunde liegenden Konzept von negativen und positiven Pflichten. Eine notwendige individuelle oder kollektive Verantwortung in einem dieser drei Bereiche führt allerdings nicht zwingend auch zu einer legitimierten Schuldzuschreibung. Ich stelle deshalb im vierten Abschnitt ein kleines Modell zur Legitimation der Schuldzuweisung vor, das aufzeigt, wann eine Sanktionierung einer enttäuschten Verantwortung gerechtfertigt ist. Zum Schluss des Hauptteils werde ich nochmals einige Erklärungen zum einwandfreien Verständnis des Kollektivbegriffs in diesem Aufsatz geben und die Schuldaufteilung innerhalb eines Kollektivs ansprechen. Die oberste Ebene der Beurteilung politischer und juristischer Verfehlungen trifft meistens mit den Staaten an sich zusammen, da wir erst sehr wenige universell gültige und allgemein akzeptierte Instanzen in der Welt schaffen konnten, die staatenübergreifende Beurteilungen vornehmen können. Solch trans-kulturelle Kontrollorgane sind sehr schwierig zu begründen und basieren deshalb meistens auf Kompromisslösungen. Ich werde die Problematik solch universeller Prinzipien in diesem Aufsatz trotz persönlichem Interesse nicht weiter diskutieren.

Ich hege auch nicht den Anspruch diese Theorie in all ihren Details zu diskutieren und sämtliche feingliedrigen Probleme zu lösen, sondern das Ziel dieser Arbeit ist es, eine optimierte und aktualisierte Version von Jaspers Schuldkonzeption aufzustellen, die eine konkurrenzfähige Alternative zu andern Modellen im Rahmen der kollektiven Verantwortungsdebatte darstellen soll. Ich bin mir im Klaren, dass man mit abweichenden Grundannahmen auf abweichende Resultate kommt. Wenn man zum Beispiel einem Kollektiv grundsätzlich Handlungsunfähigkeit zuschreibt, werden sich die Ergebnisse dieser Arbeit nicht halten lassen. Welches dieser Modelle in der Welt aber effektiv die intelligentere Lösung bringt, müsste anderweitig geklärt werden. Zum Schluss werde ich dann die Resultate zusammenfassen und im Hinblick auf offene Fragen nochmals einen kurzen Abriss der Theorie geben.

2. Spezifikation von Verantwortung, Schuld und individuell vs. kollektiv

Um dem Thema dieser Arbeit, der kollektiven Verantwortung und der kollektiven Schuld, gerecht zu werden, will ich auf der semantischen Ebene zuerst noch einige Begrifflichkeiten klären. Die folgenden Ausführungen basieren auf einer Synthese unterschiedlicher historischer Verantwortungskonzeptionen wie sie im „historischen Wörterbuch der Philosophie“ aufgeführt werden.[1] Der Begriff der ‚Verantwortung’ hat eine doppelte Verweisung: man ist verantwortlich für eine Sache, ein Handeln oder andere Menschen, und man ist verantwortlich vor einer Instanz, welche die entsprechende Verantwortung beurteilt und begründet. Die Verantwortlichkeit für etwas oder jemanden ist an einen Träger innerhalb eines vorgegebenen Verantwortungsbereiches gebunden. Dieser Träger muss in diesem Verantwortungsbereich notwendigerweise eine entsprechende Einfluss-Kapazität oder -Fähigkeit besitzen, damit ihm überhaupt erst eine Verantwortung zugeschrieben werden kann. Man unterscheidet zwischen ‚Verantwortung tragen’ und ‚Verantwortung übernehmen’, wobei nicht alle Verantwortung freiwillig übernommen ist. Des weiteren wird der Verantwortungsbegriff sowohl prospektiv als auch retrospektiv verwendet: Man ist von vornherein für sein Handeln und dessen Folgen verantwortlich (=prospektiv) und man kann im Nachhinein dafür zur Verantwortung gezogen werden (=retrospektiv). Die Verantwortlichkeit vor einer Beurteilungsinstanz wird anhand bestimmter Rechtfertigungskriterien entschieden und der entsprechende Träger ‚zur Verantwortung gezogen’. Diese Kriterien zur Beurteilung der Verantwortung hängen von den konkreten Situationsumständen ab und werden weiter unten in den Ausführungen zur Schuld genauer beschrieben.

Des weiteren lässt sich die Verantwortung in drei verschiedene Grundtypen unterteilen: Erstens gibt es eine reine Kausalverantwortung, d.h. ein Ereignis ist kausal ursächlich für das Zustandekommen eines anderen Ereignisses. Zum Beispiel würde man sagen, dass Peter, unabhängig seiner Intention, für die zerbrochene Vase kausal verantwortlich ist, falls er sie vom Tische gestossen hat. Zweitens gibt es eine Rollenverantwortung, d.i. eine Verantwortung, die mit Aufgaben, Verträgen und Rollen unseres sozialen Lebens verbunden ist. So spricht man zum Beispiel den Eltern per se eine Verantwortung zu, sich um das Wohl ihrer Kinder zu sorgen.

Zuletzt gibt es noch eine Liabilitätsverantwortung, d.h. man kann politisch, moralisch oder juristisch haftbar gemacht werden für ein vorangegangenes Ereignis. Wenn nun allerdings eine Person seine Verantwortung wie erwartet erfüllt, steht sie ausserhalb des Bereiches der Haftbarkeitsverantwortung und ihren Konsequenzen. Bei einer erfüllten Verantwortung werden also meistens weder Lob noch Bonifikationen vergeben, denn die Verantwortungserfüllung ist schlicht gefordert. Diese Fälle sind sowohl unproblematisch als auch unspektakulär. Interessant wird es erst bei einer Verfehlung einer der beiden ersten, basalen Typen, d.h. einer unerfüllten Verantwortung. Dann werden nämlich innerhalb dieses Bereiches der Liabilitätsverantwortung ganz dogmatisch entweder politische Haftung, juristische Straffälligkeit oder moralischer Tadel zuerkannt. Innerhalb dieser Haftbarkeitsverantwortung werden also von einer entsprechenden Instanz Verantwortungszuschreibungen mit weiterreichenden Folgen gemacht. Ich bin der Ansicht, dass diese Liabilitätsverantwortung, angelehnt an der von Karl Jaspers vorgeschlagenen Aufteilung des Schuldbegriffs (siehe weiter unten) mit der in der Einleitung erwähnten Einschränkung, in die folgenden drei analogen Teilbereiche aufgespalten werden muss: eine moralische, eine juristische und eine politische Verantwortung. Natürlich findet sich eine solche Dreiteilung bereits auf der Stufe der reinen Rollen- und Kausalverantwortung, sie besitzt dort allerdings noch keine weiterreichende Relevanz, weshalb ich sie erst auf der Ebene der Haftbarkeitsverantwortung genauer untersuchen werde. Um genau diese weiterführende Art der Verantwortung, im Sinne einer Haftbarkeitsverantwortung, wird es nämlich im weiteren Verlauf dieser Arbeit gehen, denn hierin liegt die Verbindung mit der Schuld.

Die oben erwähnte Verantwortungszuschreibung betrachtet retrospektiv ein Ereignis oder eine Handlung anhand dessen die Folgen beurteilt werden, was sich in Form einer zugewiesenen Schuld äussert. Die Schuld ist das Objekt der Verantwortungszuschreibung und ist dem Bereich der Verantwortung temporal und konditional nachgestellt, d.h. aus einer vorangegangenen Normwidrigkeit oder einer Verfehlung der Verantwortung erwächst eine potentielle Schuld, die zuweisbar ist. So stellt sich nun die Frage, unter welchen Bedingungen denn eine solche Schuldzuschreibung und deren Folgen überhaupt gerechtfertigt sind. Hierbei muss zwischen verschiedenen Fällen unterschieden werden: 1. die blosse äussere, passive Verbindung mit dem Ereignis oder Zufälligkeit – 2. die unmittelbare aktive Beteiligung an dem Ereignis – 3. die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses – 4. die Absichtlichkeit bei der Herbeiführung des Ereignisses. Ich halte mich bei der Diskussion dieser Problematik an die von Jaspers vorgeschlagene Aufteilung des Schuldbegriffs. So sind zu unterscheiden:

1. Juristische Schuld: „Verbrechen bestehen in objektiv nachweisbaren Handlungen, die gegen eindeutige [, bereits vorhandene] Gesetze verstossen. Instanz ist das Gericht [...].“[2]
2. Politische Schuld: „Sie besteht in den Handlungen der Staatsmänner und in der Staatsbürgerschaft eines Staates, infolge derer ich die Folgen der Handlungen dieses Staates tragen muss, dessen Gewalt ich unterstellt bin, und durch dessen Ordnung ich mein Dasein habe. Es ist jedes Menschen Mitverantwortung wie er regiert wird. Instanz ist [...] der Wille des [...] [oder der Stärkeren und Mächtigeren]. Der Erfolg entscheidet.“[3]
3. Moralische Schuld: „Für Handlungen, die ich doch immer als dieser einzelne begehe, habe ich die moralische Verantwortung, und zwar für alle meine Handlungen, auch für politische und militärische Handlungen, die ich vollziehe. [...], so bleibt jede Handlung auch der moralischen Beurteilung unterstellt. Die Instanz ist das eigene Gewissen [...].“[4]

Die Folgen der juristischen Schuld liegen in einer rechtlichen Bestrafung des jeweiligen Verbrechens. Die politische Schuld hat ihre Konsequenzen in einer Haftbarkeit, und als ihre Folge Wiedergutmachung und allfällige Sanktionen. Aus der moralischen Schuld erwächst durch einen inneren Prozess eine Einsicht, die auch in der realen Welt ihre Umsetzung finden sollte. Hier stellt sich natürlich das Problem des Ausmasses der Folgen: was ist angemessen und wie viel ist zu viel? Ich werde diese weitreichende Problematik in dieser Arbeit aber nur am Rande streifen und hier als unproblematisch annehmen, obschon es ein tragendes Element dieser Theorie ist. Diese 3 Typen von Schuld stehen unter Berücksichtigung der entsprechenden situativen Umstände in direktem Zusammenhang mit der jeweiligen Art von Verantwortung. Dass aber aus einer Verantwortung nicht immer eine Schuld erwachsen muss, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Eine Mutter steht im Normalfall in einer Rollenverantwortung gegenüber ihrem Neugeborenen. Sie besitzt als Mutter eine moralische und als Vormund eine juristische Verantwortung. Wegen eines Telefonanrufs der Nachbarin lässt die Mutter das Kind für einen Augenblick lang alleine auf dem Wickeltisch liegen. Durch eine plötzliche Bewegung des Säuglings fällt dieser zu Boden, trägt aber keinerlei Verletzungen oder andere Folgen davon, nur einen kleinen Schock. Man kann also sagen, dass die Mutter in keiner juristischen Liabilitätsverantwortung steckt, somit auch keine juristische Schuld auf sich geladen hat und keine entsprechenden Konsequenzen oder Sanktionen zu tragen hat. Trotz des Umstandes einer passiven Beteiligung (Situation 1) steht der Mutter aber eine moralische Haftbarkeitsverantwortung zu, ihr Kind kurz vernachlässigt zu haben, aus der eine moralische Schuld mit einem schlechten Gewissen als Folge davon erwächst. Die Konsequenzen in der realen Welt könnten sein, dass eine Telefonanruf nicht so wichtig ist, wie die Sicherheit des Kindes. Falls sich das Kind aber etwas gebrochen oder sich gar tödlich verletzt hätte, würde man der Mutter, trotz des mildernden Situationsumstandes 1, neben der moralischen auch eine juristische Schuld (Verletzung der Sorgfaltspflicht unter möglicher Voraussehbarkeit) zuschreiben und entsprechende Bestrafung fordern. Wie sich aber diese Ausführungen verhalten werden in Bezug auf die kollektive Verantwortung und Schuld (siehe Abschnitt 4), lässt sich erst nach einer Klärung des Verhältnisses von individuell und kollektiv zeigen.

[...]


[1] Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hgs.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, pp. 566-575

[2] Karl Jaspers, Die Schuldfrage, p. 10ff.

[3] ebd.

[4] ebd.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Kollektive Verantwortung und Schuldzuweisung
Untertitel
Eine weiterführende Analyse von Karl Jaspers Schuldkonzeption unter besonderer Berücksichtigung der Verantwortung
Hochschule
Universität Zürich
Note
5.25
Autor
Jahr
2005
Seiten
25
Katalognummer
V139695
ISBN (eBook)
9783640485802
ISBN (Buch)
9783640485499
Dateigröße
568 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Individuel, Kollektiv, Verantwortung, Jaspers, Schuld
Arbeit zitieren
Michael Eugster (Autor:in), 2005, Kollektive Verantwortung und Schuldzuweisung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139695

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